Binswanger

Wer muss zahlen?

Ob die Schweizer Bevölkerung bereit sein wird, die Klimapolitik mitzutragen, hängt stark davon ab, wie die Opferlasten verteilt werden.

Von Daniel Binswanger, 02.11.2019

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Die explosionsartige Entladung sozialer Spannungen in Chile, erst in der Hauptstadt Santiago und rasch im ganzen Land, gehört zu den spektakulärsten Symptomen der Entzauberung der neoliberalen Heils­botschaft. Schon lange ist bekannt, dass das wirtschaftlich erfolgreichste südamerikanische Land für sein vermeintliches Erfolgs­modell einen schmerzlichen Preis bezahlen muss.

Das Erbe der Pinochet-Junta besteht nicht nur in den mehreren tausend gefolterten und ermordeten Regime­gegnern. Das Land wurde von den «Chicago Boys», Schülern der Ökonomen Milton Friedman und Friedrich von Hayek, ganz offiziell zum Musterland der Privatisierung und Deregulierung gemacht; ein Umstand, dem Friedman in seinem Kurzessay «Free Markets and the Generals» ein verblüffend komplexfreies Denkmal gesetzt hat.

Was es jedoch mit dem verteilungs­politischen Langzeiterbe der «Chicago Boys» in Chile auf sich hat, bringt Branko Milanovic, ehemaliger Weltbank-Ökonom und einer der führenden Erforscher der globalen Einkommens- und Vermögens­verhältnisse, auf plastische Weise auf den Punkt. «Die untersten fünf Prozent der chilenischen Bevölkerung haben etwa dasselbe Einkommen wie die untersten fünf Prozent der Mongolei», schreibt Milanovic. «Die obersten zwei Prozent haben dasselbe Einkommen wie die obersten zwei Prozent in Deutschland.» Chiles «ökonomisches Wunder», wie Friedman das nannte, oder: Düsseldorf meets Ulan Bator.

Dass in einem Land mit derart krassem Einkommens­gefälle auch ein scheinbar nichtiger Grund wie eine Metroticket-Preiserhöhung von ein paar Cents die Lunte ans Pulverfass legen kann, dürfte niemanden überraschen, oder so sollte man jedenfalls meinen. In gewissen Kreisen gibt es aber trotzdem den allergrössten Erklärungsbedarf.

Das Internetportal «Die Achse des Guten» zum Beispiel veröffentlicht eine Analyse, die das eigentliche chilenische Problem an einem ganz anderen Ort als in den Renten unter dem Existenz­minimum und in dem privatisierten Bildungs- und Gesundheits­system sieht. Schuld an den schweren Unruhen sind laut der «Achse des Guten» die «Dekarbonisierungs­massnahmen». War Chile nicht das erste südamerikanische Land, das eine CO2-Abgabe einführte (allerdings nur für grosse Heizkraftwerke)? Und ist die Metro von Santiago nicht das erste U-Bahn-System der Welt, das zu 60 Prozent mit Ökostrom betrieben wird? Was anderes könnte eine Gesellschaft ins Unglück stürzen als Ökoterror und grüne Politik?

Dass die grünen Enkel des roten Allende die chilenische Gesellschaft ins Elend treiben, ist aber noch nicht einmal der grösste Skandal, den die «Achse des Guten» aufdecken will: Noch schlimmer ist, dass «Journalisten mit grüner Haltung es nicht wahrhaben wollen». Da haben wir es: Bis vor kurzem waren die «Mainstream-Medien» immer irgendwie links und deshalb zur Realitäts­beschreibung gänzlich ungeeignet. Jetzt aber wird es noch schlimmer. Jetzt sind sie irgendwie grün, und die Realitäts­verleugnung ist total!

Es ist einfach, sich über die «Achse des Guten» zu mokieren, aber man sollte die Delirien über «Dekarbonisierungs­massnahmen» auf keinen Fall unterschätzen. Neben der Migration etabliert sich gerade die Ökologie als neuer Lieblings­feind des Rechts­populismus. Das gilt selbstverständlich für Donald Trump, der in dieser Hinsicht ideologische Pionier­arbeit geleistet hat, aber auch für die deutsche AfD, deren Parteichef Alexander Gauland offiziell zu Protokoll gab, dass der Widerstand gegen die Klimapolitik nach dem Euro und der Migration zum «dritten grossen Thema der AfD» gemacht werden müsse. Es gilt ebenfalls für die Schweizer SVP, die sich mit diesem Parlaments­wahlkampf auf den Weg gemacht hat, von der Anti-Europa- zur Anti-Klima-Partei zu mutieren. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass paranoide Theorien über «Umwelt­diktatur» und «Klimakolchose» ins rhetorische Standard­programm integriert werden.

Das ist umso brisanter, als eine Tatsache unbestreitbar ist: Die Bereitschaft, klimapolitische Massnahmen mitzutragen, wird ganz entscheidend von der Verteilungs­gerechtigkeit abhängen, insbesondere davon, ob die Verteilung der Opferlasten als solidarisch und gerecht empfunden wird. Eine Dekarbonisierung, die überproportional die unteren Einkommens­schichten betrifft, würde ökologische Reform­bemühungen sofort schwächen, wenn nicht verunmöglichen.

Instruktiv ist in diesem Kontext immer noch das Beispiel der Gelbwesten: Die Bewegung wurde in Gang gesetzt aufgrund der Einführung einer CO2-Steuer auf Benzin. Das Problem war jedoch nicht, dass es sich hier um eine ökologische Steuer handelte. Das Problem war, dass sie gleichzeitig mit der teilweisen Abschaffung der Vermögens­steuern hätte eingeführt werden sollen – dass also unter dem Strich die Reichtums­eliten von der Steuerreform am meisten profitiert hätten.

Seit der ersten Mobilisierungs­phase gegen die Benzinsteuer hat es jedoch eine starke Annäherung zwischen den gilets jaunes und der ökologischen Protest­bewegung gegeben. Es ist nicht so, jedenfalls in Frankreich nicht, dass die einkommens­schwache Bevölkerung nicht für Klimapolitik zu gewinnen wäre. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Opferlasten gerecht verteilt werden, dass die niedrigen Einkommen geschont und die oberen zur Kasse gebeten werden. Was die Klimapolitik virulent macht, ist die Gerechtigkeits­frage.

Sicher: Die Schweiz ist weder Chile noch Frankreich. Wir haben ein höheres durchschnittliches Wohlstands­niveau und eine relativ ausgeglichene Einkommens­verteilung. Aber man täusche sich nicht: Sämtliche Umfragen haben wieder bestätigt, dass nichts die Bürger so umtreibt wie die Gesundheits­kosten, sprich die Krankenkassen­prämien. Die Prämien sind nicht nur hoch, sie sind auch stark degressiv und stellen für niedrige Einkommen eine viel stärkere Belastung dar als für besser Verdienende. Die subventionierten Prämien­verbilligungen können diesen Effekt nur sehr partiell wieder ausgleichen. Entscheidend wird deshalb sein, dass mit den Lenkungs­abgaben in der Umwelt­politik nicht weitere Verzerrungen zuungunsten der weniger gut Verdienenden entstehen. Für eine weitere Umverteilung von unten nach oben dürfte auch bei uns die Akzeptanz äusserst gering sein.

Wenn die rechtsbürgerlichen Kräfte schlau sind, werden sie nicht den Versuch machen, die Klimawende zu verhindern. Sie werden schauen, dass sie möglichst kostspielig wird und möglichst die unteren Einkommen belastet. Nichts könnte die grünen Kräfte stärker schädigen. Doch wenn diese ebenfalls schlau sind, werden sie genau diese Falle vermeiden. Und Verteilungs­gerechtigkeit konsequent zur obersten Priorität erheben.

Illustration: Alex Solman

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!