Es gibt nur einen Rand – und der ist rechts

Erst Sachsen und Brandenburg, jetzt Thüringen. Seit Sonntag ist die AfD in drei ostdeutschen Bundes­ländern zweitstärkste Kraft. Eine Zäsur, nicht nur für die Politik im Osten. Was nun?

Eine Analyse von Matthias Quent, 29.10.2019

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

Die Wählerinnen im kleinen Freistaat Thüringen haben der Politik am vergangenen Sonntag eine beinahe unlösbare Aufgabe gegeben. Weder das amtierende Bündnis aus Linkspartei, SPD und Grünen noch eine bürgerliche Konstellation hat eine Mehrheit: Nicht einmal eine 4-Parteien-Koalition aus SPD, CDU, Grünen und FDP könnte in Thüringen regieren.

Grund dafür ist insbesondere das starke Abschneiden der AfD: 23,4 Prozent erreichte die rechts­radikale Partei und wurde somit zweitstärkste Kraft – wie schon bei den Wahlen in den Bundes­ländern Sachsen und Brandenburg.

Bereits mit den ersten Prognosen ist ein Deutungs­kampf darüber ausgebrochen, ob die Thüringer AfD dieses Ergebnis trotz oder wegen ihres Spitzen­kandidaten Björn Höcke erzielte. Höcke steht selbst in der AfD rechts aussen. Seine Beliebtheits­werte sind mies, doch ein harter Kern bejubelt ihn wie einen Heilsbringer. Er provoziert mit Bezügen zum National­sozialismus und will um jeden Preis verhindern, dass sich seine Partei­kollegen in das demokratische Establishment integrieren. Das Verwaltungs­gericht Meiningen urteilte jüngst, man könne Höcke «auf einer überprüfbaren Tatsachen­grundlage» als «Faschisten» bezeichnen. Für seine inner­parteilichen Kritiker ist er ein Hindernis zu breiteren Wähler­schichten und zu Koalitions­optionen mit der CDU.

Doch Höcke steht nicht allein. In Brandenburg hat mit Andreas Kalbitz ein AfD-Spitzen­kandidat, der sich einen Teil seines Lebens in Neonazi­kreisen bewegte, bei den Landtags­wahlen vor wenigen Wochen 23,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht. In Sachsen erreichte die AfD sogar 27,5 Prozent. Ihr Spitzen­kandidat Jörg Urban hatte sich für völkische Homogenität ausgesprochen – und dafür, das «derzeitige Regime» zum «Einsturz» zu bringen. All diese drei ostdeutschen AfD-Landes­verbände sind dem völkisch-nationalistischen «Flügel» innerhalb der AfD zuzuordnen.

Was ist los im Osten der Bundesrepublik?

Eine Frage, die mich in mindestens dreifacher Hinsicht umtreibt: als Bürger; als Rechtsextremismus-Forscher und nicht zuletzt als jemand, der selbst in Ostdeutschland geboren wurde und noch immer dort lebt. Die Antwort, die ich im Folgenden geben will, besteht aus fünf Thesen.

Erstens: Die soziale Frage wird missbraucht

Auch die Republik hat zu Recht daran erinnert, dass sich Pauschalisierungen über «den Osten» verbieten. Denn so vielfältig das Leben im Osten Deutschlands ist, so unterschiedlich wird auch in einzelnen Regionen gewählt. Trotzdem gibt es in der Gesamt­tendenz eine massive Verschiebung der politischen Verhältnisse nach rechts, und wer diese erklären will, sollte auch jene Regionen in den Blick nehmen, in denen besonders wenige Menschen rechts wählen.

In Sachsen war die AfD dort besonders schwach, wo die sorbischen Katholikinnen stark vertreten sind, die stets CDU wählen. Das gilt auch im katholischen Eichsfeld in Thüringen – dem Wahlkreis von Höcke. Schon im 20. Jahrhundert haben Katholiken den National­sozialismus weniger stark unterstützt als andere Bevölkerungs­gruppen. In Brandenburg ist das Ergebnis der AfD in der unmittelbaren Umgebung von Berlin deutlich schlechter: Das vielfältige politische und zivil­gesellschaftliche Leben der Hauptstadt strahlt aus.

Das deutet bereits an: Lokale Gegebenheiten und Traditionen – man könnte auch schlicht «kulturelle Gepflogenheiten» sagen – spielen eine sehr viel grössere Rolle als häufig angenommen, wenn die Erklärung in aktuellen politischen Sachfragen oder gesellschaftlichen Grossthemen gesucht wird.

Bei den Bundestags­wahlen 2017 zeigte sich in Ost wie West ein starker Zusammenhang zwischen dem Abschneiden der AfD und den Wahlergebnissen der Neonazipartei NPD 2013. Vormalige Erfolge der NPD haben eine gewisse Normalisierung des Rechts­radikalismus in der lokalen politischen Kultur bewirkt – und diese wirkt fort.

Sogenannte multivariate Analysen zeigen, dass dieser NPD-Effekt stärker ins Gewicht fällt als ökonomische Faktoren. Dasselbe lässt sich in Thüringen übrigens auch auf Gemeinde­ebene nachweisen. Ausserdem wird die AfD dort besonders stark gewählt, wo Gemeinden aussterben und wo durch Abwanderung ein Männerüberschuss entstanden ist.

Insgesamt zeigt sich in Ostdeutschland (wie in vielen westlichen Staaten): Die Erfolge der radikalen und populistischen Rechten sind keineswegs in erster Linie als Protest gegen materiellen Mangel zu erklären, sondern vor allem als reaktionärer Widerstand gegen kulturelle Veränderungen durch Globalisierung, Migration, wissenschaftliche Fortschritte und den Bedeutungs­gewinn postmaterieller Werte.

Heisst das nun, die soziale Frage spielt allenfalls eine Nebenrolle?

Auch das wäre falsch. Die Alternative von sozialer Frage oder Identitäts­politik verkennt, dass das eine für das andere instrumentalisiert wird. Konkret: Seit dem Bucherfolg von Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab» werden in der Bundes­republik soziale Konflikte zunehmend kulturalisiert. Das heisst, Probleme, die sich aus wirtschaftlicher Ungleichheit und einer Spar- und Wohnungsmarkt­politik ergeben, die Perspektiv­losigkeit unter Jugendlichen oder soziale Brennpunkte hervorbringen, werden auf Sünden­böcke projiziert – meist Migrantinnen, Muslime und Musliminnen oder – wie auf grellste Weise durch den Anschlag in Halle deutlich geworden – Jüdinnen und Juden.

Wir haben es also mit einer Ethnisierung sozialer Fragen zu tun, wie man sie auch in den Landeswahl­programmen der AfD lesen kann. Ökonomische Ungerechtigkeiten werden nicht hinterfragt, sondern Frustrationen auf schwache Gesellschafts­gruppen umgeleitet. Dieser Rassismus ist keineswegs ein falscher Hilferuf der Schwächsten. Er schützt die Privilegien der relativ Starken.

Zweitens: Die Spaltung vertieft sich

«Hoffnung: Ostdeutschland. Gegner: Grüne» – so wurde im Sommer 2019 die politische Agenda von Götz Kubitschek, dem zentralen Ideengeber des neu erstarkten Rechts­radikalismus in Deutschland, auf dessen Website «Sezession» zusammengefasst. Damit sind die Konflikt­linien beschrieben.

Das Wahlverhalten überdurchschnittlich vieler Ostdeutscher bietet ein Einfallstor für einen globalen reaktionären Kultur­kampf gegen Modernisierungs­prozesse, derzeit vor allem in Einwanderungs­fragen und im ökologischen Bereich verortet.

Bei der Europawahl im Mai 2019 konnten die Grünen in Westdeutschland 22,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, in Ostdeutschland 11,6 Prozent. Dagegen erreichte die AfD im Westen 8,8 Prozent, im Osten 21,1 Prozent der Stimmen. Millionen Menschen auf den Strassen zeigen, dass die Menschheits­frage im 21. Jahrhundert die sozio­ökologische Frage sein wird.

Die AfD hat kürzlich Klimapolitik zu ihrem nächsten grossen Thema bestimmt und den antiökologischen Backlash ausgerufen. So erklärt sich die populistische und radikale Rechte nach ihrer Logik folgerichtig zum entschiedenen Verteidiger der bestehenden weltweiten Klima­ungerechtigkeiten und der damit verbundenen Privilegien der Menschen in den Industrie­gesellschaften. Gerade in ländlich geprägten Regionen wie in Thüringen lassen sich Wähler­stimmen gewinnen mit der Botschaft, dass nachhaltige Politik den Menschen Autos und Ölheizung wegnehmen oder massiv verteuern wird. Solange alltags­taugliche und sozial verträgliche Alternativen fehlen, können die Grünen hier nicht punkten. In Thüringen haben sie – entgegen dem Bundestrend – sogar an Stimmanteilen verloren.

Die Landtags­wahlen markieren eine Zäsur in den ungleich­zeitigen Entwicklungen zwischen Ost und West sowie zwischen Stadt und Land.

Ein Einschnitt sind die AfD-Wahlerfolge schon deshalb, weil sie erstmals in der Geschichte der Bundes­republik überhaupt die rechnerische Option zur Bildung konservativ-reaktionärer Koalitionen in Parlamenten auf Kommunal- und auf Landesebene bieten. Die Gefahr der Einbindung von Rechts­radikalen in Verantwortung (zum Beispiel mit dem Ziel, sie zu «entzaubern», oder um «Sachpolitik» zu betreiben) kann nicht nur die Suche nach Antworten auf existenzielle Heraus­forderungen wie Klimakrise, Digitalisierung und demografische Entwicklung lähmen. Sie könnte erstmals zur Rückabwicklung liberaler Fortschritte führen, beispiels­weise in der Bildungs-, Wissenschafts-, Umwelt- und Gleichstellungs­politik. In Österreich ist das mit der Kollaboration zwischen ÖVP und FPÖ bereits geschehen. Überdies würde es zu einer Radikalisierung der Gegenkräfte führen und – dieses Mal nicht nur auf Youtube – zur «Zerstörung» der CDU, wie wir sie kennen.

Denn laut einer repräsentativen Umfrage in der Thüringer Bevölkerung würden 60 Prozent der CDU-Anhänger nicht mehr CDU wählen, wenn diese in Thüringen eine Regierungs­koalition mit der AfD einginge. Die Konservativen stecken in der Zwickmühle, die durch friendly fire nur umso heikler wird: Schliesslich wird auch die rechts­konservative «Werteunion» innerhalb der Christ­demokratie den parlamentarischen Rechtsruck im Osten für ihre Interessen nutzen. Vor allem ihr bekanntestes Mitglied, der frühere Verfassungs­schutz­chef Hans-Georg Maassen, mischt im Wahlkampf mit und verwischt bei Twitter regelmässig mit reaktionärer Niedergangs­rhetorik die Grenzen zwischen rechts­konservativ und rechtsaussen.

Drittens: Die AfD radikalisiert sich weiter

Ausgerechnet der frühere Geheimdienst­chef Maassen betreibt damit das Geschäft, für das Götz Kubitschek und sein rechts­radikales Institut für Staatspolitik seit Jahrzehnten werben: die Grenzen zwischen moderatem Konservatismus und reaktionärem Extremismus einzureissen. Sie sind weit gekommen.

In der AfD hat sich der unter dem Einfluss von Kubitschek 2015 gegründete völkisch-nationalistische «Flügel» fest etabliert. Die Wahlerfolge des «Flügels» in Ostdeutschland im Herbst 2019 markieren eine neue Etappe eines derart massiven Rechts­rucks der AfD, dass es mittler­weile verharmlosend ist, sie als eine nur rechts­populistische Partei zu begreifen.

Die offizielle Gründung des «Flügels», zwei Partei­spaltungen, das gescheiterte Ausschluss­verfahren gegen Höcke, zahllose verfassungs­feindliche Äusserungen von Spitzen­politikerinnen, der Schulter­schluss mit Neonazis, Hooligans und späteren Rechts­terroristen in Chemnitz 2018 waren Dammbrüche – ausgelöst durch ostdeutsche Rechtsaussen-Hardliner, die kontinuierlich ihren bundes­weiten Einfluss ausgebaut haben. Mittlerweile unterstützt auch die AfD-Co-Vorsitzende und Wahlschweizerin Alice Weidel den intellektuellen Rechts­extremismus des eng mit der Identitären Bewegung verstrickten Instituts für Staatspolitik sowie den Höcke-Wahlkampf in Thüringen. Der AfD-Bundesverband und Westverbände unterstützen die Radikalen im Osten durch finanzielle und personelle Wahlkampfhilfen.

«Selbstverharmlosung» heisst das Konzept, das Götz Kubitschek im Jahr 2013 vorschlug. Ganz in diesem Sinne versucht die AfD, sich gleichzeitig als «bürgerlich-konservativ» zu tarnen – und den Durchmarsch der Rechts­radikalen in der AfD entweder zu tolerieren oder aktiv zu unterstützen.

Das führt auch dazu, dass sich die Selbst­wahrnehmung der AfD-Wählerschaft immer stärker von der Wirklichkeit unterscheidet. Auch deshalb sind die Landtags­wahlen im Herbst 2019 für die weitere politische Entwicklung in Deutschland so wichtig, obwohl die Bedeutung Ostdeutschlands bundesweit substanziell eigentlich gering ist – insgesamt leben dort weniger Wahl­berechtigte als in Nordrhein-Westfalen. Die Entwicklung in den neuen Bundes­ländern aber hat symbolische Sprengkraft. Und die Rechtsaussen-Vordenker beziehen das in ihre Strategie mit ein.

Nach den Wahlerfolgen in Ostdeutschland ist zu erwarten, dass der «Flügel» mit den Bundesvorstands­wahlen im Dezember 2019 auch im Partei­vorstand prominent repräsentiert wird. Der Verfassungs­schutz wird den «Flügel» und seine politischen Vorfeld­organisationen (insbesondere das rechtsradikale Institut für Staatspolitik, das Kampagnen­netzwerk «Ein Prozent» und die Minigewerkschaft Zentrum Automobil) als rechts­extremistische Akteure unter Beobachtung stellen müssen. Eine Minderheit aus Funktionärs- und Wähler­kreisen wird sich dann womöglich von der AfD lösen – die «Halben», wie Höcke sie nennt, und deren Weggang für ihn akzeptabel ist, um seine historisch-völkische Mission mit einer auf Linie gebrachten Gesamt­partei zu vollenden.

Es ist absehbar: Die AfD wird sich und ihre Wählerschaft immer weiter radikalisieren. Wer da keine deutliche Grenze zieht, ermöglicht, dass auch Diskurs, Gesellschaft und Politik nach rechts driften.

Viertens: Das Unvereinbare existiert gleichzeitig

Eine Umfrage im Auftrag der AfD zeigt, dass nicht einmal ein Drittel ihrer Wählerschaft sich von einer Beobachtung durch den Verfassungs­schutz abschrecken lassen würde. Dazu passt, was eine Studie an unserem Institut ergeben hat: 71 Prozent der AfD-Unterstützer in Thüringen geben an, die Höcke-AfD sei «genau richtig» – nur 3 Prozent finden sie «viel zu rechts», 26 Prozent «etwas zu rechts». Die Zahlen widersprechen der gängigen Protestwahl­these. Zwei Drittel der AfD-Wählerschaft stehen politisch hinter dem rechts­radikalen Thüringer Landesverband.

Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass die Mehrheit in Thüringen nicht nur nicht die AfD wählt, sondern die Partei ablehnt. Nur 29 Prozent sind der Meinung, die AfD sei «eine normale demokratische Partei».

Der Graben verläuft nicht zwischen AfD und Grünen, sondern zwischen rechtsradikaler Minderheit und demokratischer Mehrheit.

Das wird verschleiert, wenn von «Polarisierung» die Rede ist: In Wirklichkeit verläuft die Spaltung zwischen zwei sehr ungleich grossen Gruppen – und es gibt einen klaren demokratischen Schulter­schluss gegen rechts aussen. Es hängt in den nächsten Monaten und Jahren vor allem von der CDU ab, ob das so bleibt.

Das Stichwort der Stunde lautet: «Ungleichzeitigkeit».

Der Begriff wurde ursprünglich vom Philosophen Ernst Bloch geprägt, und wie er ihn gebrauchte, ist auch für die Gegenwart noch erhellend. «Nicht alle», schrieb Bloch in «Erbschaft dieser Zeit», «sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äusserlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.» Die kognitive Verweigerung von Teilen der Bevölkerung gegenüber Fortschritt und Rationalität und das Beharren auf überholten Vorstellungen war für den Philosophen Ernst Bloch ein Wesenszug der ungleichzeitigen Moderne, der den antimodernen Charakter des National­sozialismus in Deutschland für viele attraktiv machte.

Aufs Heute übertragen: Während viele Menschen vor allem in urbanen Milieus nach den Versprechen der Zukunft gieren und den Fortschritt vorantreiben, verfestigt rechtsradikale und zum Teil konservative Politik eine umfassende Zukunfts­angst. Und diese ist offenbar gerade bei jungen Menschen verbreitet.

In Thüringen hat die AfD in allen Alters­gruppen mit Ausnahme der über 60-Jährigen die meisten Stimmen geholt. Anders gesagt: Es sind die Wählerinnen und Wähler über 60, die einen Wahlsieg der AfD verhindert haben. Plötzlich erscheinen nicht mehr die «alten weissen Männer» als personifizierte Problem­bürger – jedenfalls nicht nur. Das aber bedeutet auch: Die Ungleichzeitigkeiten lassen sich nicht einfach mit der DDR-Sozialisation erklären, sondern auch aus dem, was danach kam, und aus Kontinuitäten, die nie durchbrochen wurden. Wie Bloch schrieb: «Kinder werden dem Muff nicht entzogen. Sie nehmen ihn weiter auf und leiden so lange, bis sie selber wie der Vater sind.»

Der Riss deutete sich bereits bei den Europa­wahlen an. Mit den drei ostdeutschen Landtags­wahlen liegen die grossen politisch-kulturellen Ungleichzeitigkeiten offen zutage.

Während im wohlhabenden Westdeutschland die 1968er-Bewegung und ihr Gang durch die Institutionen das Land liberalisierte, feiert die liberale Demokratie in Ostdeutschland gerade erst den 30. Geburtstag – in Westdeutschland ist sie mehr als doppelt so alt. Kann es da überraschen, dass Teile der Bevölkerung an Vorstellungen und nostalgischen Verklärungen hängen, die mit der heutigen Realität wenig zu tun haben?

Solche Unterschiede im Werte­system werden durch fortbestehende ökonomische Ungleichheiten verstärkt – und zugleich verschleiert. Erst die Pegida-Demonstrationen in Dresden machten ab 2014 einen öffentlichen Wertekonflikt sichtbar.

Bei Pegida schreibt man «Absaufen!», wenn von Flucht­bewegungen über das Mittelmeer die Rede ist. Menschen­rechte werden bekämpft. Der Modernisierungs­konflikt wird heute offen und stellvertretend für konkurrierende Werte­systeme vor allem in der Flüchtlings- und immer stärker in der Klimapolitik ausgetragen. Die Ungleichzeitigkeiten der politischen Kultur und bei der Anerkennung der Menschen­rechte als Wesens­merkmal liberaler Demokratie verlaufen zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, zwischen Gruppen, Familien, Bildungs­milieus und Generationen – immer nur als Tendenz und nie pauschal; aber doch mit signifikant unterschiedlichem Gesamtbild.

Fünftens: Es braucht neue Allianzen von Linke bis CDU

Mit der Beschleunigung der Lebens­welten und der Digitalisierung der Gesellschaft nehmen diese Ungleichzeitigkeiten überall zu. Sie sind die grösste Heraus­forderung unserer gegenwärtigen Demokratie.

Die Wahlen in Ostdeutschland und zuletzt Thüringen zeigen im Brennglas die politisch-kulturellen Heraus­forderungen unserer Zeit: Kulturalisierung sozialer Konflikte, gesellschaftliche Spaltung, Radikalisierung der Rechten. Und eine Verschiebung der politischen Verhältnisse bis zu dem Punkt, an dem keine klassischen Regierungs­mehrheiten mehr möglich sind.

Das ist die eigentliche Zäsur, die dieser Wahlherbst markiert.

Weil die bereits erprobten Bündnisse keine Mehrheiten mehr garantieren, werden die demokratischen Parteien von Linkspartei bis CDU neue Wege aus den destruktiven Folgen der Ungleichzeitigkeit finden müssen. Den allermeisten Demokratinnen ist das bereits bewusst.

In Thüringen ist es dem amtierenden Minister­präsidenten Bodo Ramelow mit seiner staatsmännischen, authentischen und integrativen Persönlichkeit gelungen, einen grossen Teil der Bevölkerung mitzunehmen und von sich zu überzeugen. Das bestätigt den Trend, dass im demokratischen Spektrum zunehmend Personen für die Wahlentscheidung ausschlag­gebend sind – und erst in zweiter Linie die Partei.

Die Wahl in Thüringen unterstreicht aber auch, weit über das Bundesland hinaus, dass in Zukunft Politikerinnen und Politiker gefragt sind, die durch neuen Pragmatismus Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Für die CDU heisst das: Sie muss mit der Linkspartei in Verhandlungen treten. Gleichzeitig müssen die Christ­demokraten gerade auf dem Land sehr gut erklären, warum sich jeder Dialog mit der AfD verbietet. Vor allem muss die CDU ein weiteres, nicht mehr zeitgemässes Erbe über Bord werfen: die unsinnige Gleichsetzung von rechts und links.

Seit dem Kalten Krieg halten Konservative die Vorstellung aufrecht, dass Kräfte links und rechts der «bürgerlichen Mitte» gleichermassen problematisch für die Demokratie seien. Noch am Wahlabend wurden Politiker und Kommentatoren nicht müde zu behaupten, in Thüringen seien die «politischen Ränder» erstarkt – und meinten damit in einem Atemzug die rechtsradikale AfD um Björn Höcke und die regierende Linkspartei um Bodo Ramelow.

Aber mal abgesehen davon, dass Ramelow und seine Partei in Thüringen fern aller Extreme im Grunde gewöhnliche sozial­demokratische Politik gemacht haben: Die Rede von den politischen Rändern verharmlost ganz grundsätzlich die Gefahr durch den Rechts­radikalismus und verkennt den prinzipiellen Unterschied. Die radikale Rechte geht von der Ungleichwertigkeit von Menschen aus, die für sie durch den «aufgeblasenen Werteschaum» (Höcke) der Demokratie künstlich gleichgeschaltet würden. Dagegen geht die (radikale) Linke – in Übereinstimmung mit dem deutschen Grundgesetz – von der prinzipiellen Gleich­wertigkeit aller Menschen aus, die sie durch den Kapitalismus verletzt sieht.

Noch immer gilt: Die ganz grosse Mehrheit, auch in Ostdeutschland, hat nicht AfD gewählt. Deren klares Bekenntnis zur Demokratie und zu den Werten der Moderne gilt es politisch zu gestalten.

Zum Autor

Matthias Quent, 1986 in Thüringen geboren, studierte Soziologie, Politik­wissenschaft und Neuere Geschichte an der Universität Jena und der University of Leicester. Er ist Direktor des Instituts für Demokratie und Zivil­gesellschaft in Jena in Trägerschaft der Amadeu-Antonio-Stiftung. Im August erschien sein Sachbuch «Deutschland rechts aussen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können».

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr