Die grüne Nicht-Wahl
Die Richtungswahl geht einher mit einer sinkenden Wahlbeteiligung. Es droht ein verschärftes Demokratiedefizit – dem die grünen Kräfte sich stellen müssen.
Von Daniel Binswanger, 26.10.2019
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Asymmetrische Demobilisierung: Mit diesem hübschen Begriff wurde lange die ebenso unschlagbare wie unspektakuläre Machtstrategie von Angela Merkel beschrieben. Sie besteht darin, dermassen für Ausgewogenheit und Langeweile zu sorgen, dass potenzielle Gegner, bevor es ihnen gelingen könnte, einen zu entmachten, schon eingeschlafen und garantiert den Urnen ferngeblieben sind.
Natürlich ist das Risiko dabei, dass man nicht nur den Gegner, sondern auch die eigenen Unterstützer einschläfert. Deshalb «asymmetrisch»: Den Gegner muss man noch stärker demotivieren als das eigene Lager. Merkel hielt sich mit dieser Technik eine halbe Ewigkeit an der Macht – bis die sogenannte Flüchtlingskrise und der Aufstieg der AfD den Anfang von ihrem Ende eingeleitet haben. Auf Dauer bekommt die Demobilisierung der Demokratie nicht gut.
Asymmetrische Demobilisierung spielt erstaunlicherweise aber auch in einem ganz anderen Zusammenhang eine Rolle: bei epochalen Richtungswahlen. Jedenfalls gilt das in der Schweiz, und zwar nicht nur für die Parlamentswahlen, die gerade über die Bühne gegangen sind, sondern auch schon für frühere Urnengänge. Warum ist die Wahlbeteiligung ausgerechnet dann besonders tief, wenn ein bestimmtes Thema besonders drängend und besonders wichtig erscheint? Dass die aktuelle «Klimawahl» zu einem deutlichen Absinken der Wahlbeteiligung geführt hat, erscheint widersinnig und irritierend. Wie lässt sich das erklären?
Wie gesagt: Das Phänomen ist dieses Jahr nicht zum ersten Mal anzutreffen in der Schweizer Politik. Der absolute Tiefstwert bei der Wahlbeteiligung wurde 1995 mit 42,2 Prozent aufgestellt (bei den jetzigen Parlamentswahlen lag sie bei 45,1 Prozent). 1995 hat zwar nicht ein Wahlkampf mit einem so klaren Themenfokus stattgefunden wie heute, aber es war das Jahr des Dammbruchs der Polarisierung: Sowohl die SVP als auch die SP legten im Nachgang zum EWR-Nein beide um die 3 Prozent zu, während die Mitteparteien allesamt Verluste hinnehmen mussten. Die Schweizer Politik begann die polarisierte Struktur anzunehmen, die seither für sie bestimmend geblieben ist. Bei der SP schlug sich der höhere Wähleranteil zudem in massiven Sitzgewinnen nieder: Sie legte von 41 auf 54 um 13 Sitze zu.
Aber trotz Polarisierung und trotz starker linker Dynamik: Die Wählermobilisierung sank auf einen historischen Tiefststand. Offenbar war es so, dass die einschneidenden politischen Verschiebungen primär durch die Verunsicherung und die Paralyse von Wählern mit traditionellem Wahlverhalten herbeigeführt wurden – und erst sekundär durch die Mobilisierung an den Polen.
Noch extremer ist das Beispiel der darauffolgenden Wahlen von 1999. Sie zeichneten sich aus durch einen Gewaltssprung der SVP, der auf der Ebene der Wähleranteile sogar den heutigen Erfolg der Grünen klar in den Schatten stellte: 7,6 Prozent legte die Volkspartei damals zu – eine Steigerung, die ermöglicht wurde durch die Flüchtlingswelle, die der Kosovo-Krieg ausgelöst hatte. Innerhalb kurzer Zeit suchten damals 50’000 Kosovaren Zuflucht in der Schweiz und lösten die xenophoben Reflexe aus, die der SVP die Macht und Grösse verleihen sollten, die sie seither nie mehr verloren hat.
Es handelte sich um einen unzweideutigen, konkreten «Flüchtlingswahlkampf», wie er in aktuellen Kommentaren zur Erklärung der niedrigen Wahlbeteiligung gerne dem «abstrakten Klimawahlkampf» entgegengesetzt wird. Dennoch lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 43,3 Prozent, etwas höher zwar als vier Jahre zuvor, aber immer noch extrem tief und tiefer als bei den aktuellen Wahlen. Auch die Flüchtlingsfrage hat damals das Schweizer Parteienspektrum mehr durch Demobilisierung als durch Mobilisierung verändert.
Man wird daraus den Schluss ziehen müssen, dass in der heutigen Schweizer Politiklandschaft, wo die Wahlbeteiligung generell extrem tief liegt, historische Umbrüche sich zunächst stärker in der Passivität der alten Mehrheiten als in der Aktivierung von neuen Zielgruppen manifestieren. Auch die Klimathematik – trotz ihres parteiübergreifenden Mobilisierungspotenzials – macht da keine Ausnahme.
Dennoch – auch wenn die Wahlbeteiligung gegenüber den Parlamentswahlen von 2015 insgesamt um 3,4 Prozentpunkte gesunken ist – werden natürlich neue Wählergruppen mobilisiert, das heisst, es kommt zu soziologischen Verschiebungen innerhalb des Elektorats. Auch wenn wohl erst die Selects-Fors-Studie der Universität Lausanne gesicherte Erkenntnisse über die Wandlungen der Wählerschaft bringen wird, lassen bereits die Nachwahlstudien von SRF und Tamedia erste Schlüsse zu.
Eine erste Verschiebung besteht darin, dass die Wählerschaft jünger und weiblicher wird. Die Grünen schneiden sowohl bei den Wählerinnen als auch bei den Jungen massiv besser ab als bei den Männern und den Senioren. Zudem wird ihr Erfolg stark davon beflügelt, Neuwähler an die Urne zu bringen.
Das Elektorat wird weiblicher und weniger rentnerlastig, wunderbar! Doch es gibt auch problematischere Verschiebungen.
An erster Stelle wäre hier zu nennen, dass die Demobilisierung der SVP-Wähler automatisch bedeutet, dass die niedrigen Einkommen sich noch stärker in die Abstinenz flüchten. Auch wer über die SVP-Verluste keine Träne vergiessen will, sollte über eines nicht hinwegsehen: Die Volkspartei ist in der heutigen Schweiz die Partei der Unterschichten. In der Einkommenskategorie von 3000 bis 5000 Franken (die Kategorie unter 3000 Franken ist wenig aussagekräftig, weil sie viele Studierende und Auszubildende umfasst) liegt gemäss der Tamedia-Umfrage die SVP mit einem Wähleranteil von 33 Prozent auch heute wieder himmelweit vor der Konkurrenz. Auf Platz zwei folgt die SP mit 17 Prozent – praktisch halb so viel. Noch krasser ist es beim Bildungsniveau: Unter den Wählern, die lediglich über die obligatorische Schulbildung verfügen, kommt die SVP auf 36 Prozent, an zweiter Stelle liegt wiederum die SP mit 14 Prozent.
Und auf der Siegerseite? Die GLP entwickelt in diesem Urnengang das lupenreine Profil einer Elitepartei. Sowohl bei den Einkommen als auch beim Bildungsgrad gilt die Regel: Je mehr davon, desto GLP-affiner. Die einzige andere Partei, die sich ebenso konsequent auf die Bildungs- und Einkommenseliten ausrichtet, ist die FDP.
Das Elektorat der Grünen hingegen ist deutlich breiter gestreut: Bei den Einkommen oszilliert ihr Wähleranteil durch alle Kategorien hindurch um die insgesamt erzielten 13 Prozent, beim Bildungsgrad erzielen die Grünen zwar auch unter Akademikern das beste Resultat (18 Prozent), aber bei mittleren Qualifikationsgraden schneiden sie fast so gut ab (17 Prozent), und bei den Niedrigqualifizierten (12 Prozent) liegen sie nur einen Punkt unter ihrem Gesamtresultat. Sollte in der Schweiz eine neue Volkspartei entstehen, sind das nach heutigem Stand die Grünen und nicht die GLP.
Umso delikater wird nun für die Grünliberalen die Frage der Positionierung gegenüber den Grünen – von der sie im Rahmen der Zürcher Ständeratswahlen auf brutalstmögliche Weise eingeholt werden. Die sehr links positionierte grüne Kandidatin zu unterstützen, ist für die GLP sicherlich herausfordernd. Insgesamt dürfte die politische Nähe zu Ruedi Noser deutlich grösser sein. Doch will die GLP ihre Message-Disziplin aufrechterhalten, gibt es nur eine Lösung: Sie muss Marionna Schlatter unterstützen.
Die GLP hat einen Wahlkampf geführt, der von der Botschaft Klimawandel und Gleichstellung lebte, und jetzt soll sie der Inkarnation eines älteren, männlichen Establishment-Politikers, dem Glencore-Lobbyisten und FDP-Urgestein Ruedi Noser, zum Sieg verhelfen? Gemeinsam mit Roger Köppels SVP? Es würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Partei, sondern auch Tiana Angelina Moser beschädigen. Wenn Moser nicht gewollt hätte, dass Schlatter und nicht Noser Ständerätin wird, hätte sie sich nicht zurückzuziehen brauchen. Doch sollte die GLP-Geschäftsleitung jetzt Stimmfreigabe beschliessen – und die Versuchung, so den drohenden Konflikt zu entsorgen, dürfte sehr mächtig sein –, wird offenkundig, dass Moser, die das weitaus prominenteste Gesicht der jungen, weiblichen GLP ist, innerhalb der Zürcher Kantonalpartei eine Minderheitenposition einnimmt. Das Narrativ vom sozialliberalen Generationenwechsel bei der GLP würde unsanft ins Fabelreich verwiesen.
Demobilisierung ist Gift für die Demokratie. Die aktuellen Wahlen werfen auch die Frage auf, ob ein immer grösserer Teil der einkommensschwachen und niedrig qualifizierten Bevölkerung sich definitiv aus dem politischen Prozess verabschieden wird. Oder werden die grünen Parteien die Mittel finden, um diese Entwicklung zu stoppen? Es ist eine der alles entscheidenden Herausforderungen, der sich alle progressiven Kräfte werden stellen müssen.
Illustration: Alex Solman