Der Argentinische Peso, das ewige Sorgenkind: Beunruhigte Blicke auf die Wechselkurse am 8. Juni 1959. Ein gewohntes Bild bis heute. Keystone-France/Gamma/Getty Images

Immer. Wieder. Krise

Mauricio Macri wollte alles anders machen. Doch am Ende seiner Amtszeit steht Argentinien wieder am Nullpunkt. Warum die ewigen Crashs?

Von Andreas Fink, 25.10.2019

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Als das Londoner Luxus­kaufhaus Harrods am Anbruch des 20. Jahrhunderts überlegte, wo es seine erste Filiale in Übersee eröffnen wollte, fiel die Wahl nicht auf New York – sondern auf Buenos Aires.

Argentinien war damals das fünftreichste Land der Welt, mit einer Wirtschaft, die dynamischer wuchs als jene von Kanada, mit dem besten Bildungs­system der Region, mit Mineralien, Öl- und Gasvorkommen, mit Fisch­gründen und vor allem mit der immensen pampa húmeda, den reich­haltigsten Ackerbau­böden der Welt.

Der Harrods-Palast an der Calle Florida wurde 1914 eingeweiht. 1998 wurde er wieder geschlossen. In seiner turmgekrönten Pracht kümmert er seither dahin. Argentiniens glorreiche Zukunft ist längst triste Vergangenheit.

Seit 1950 hat das Land durchschnittlich jedes dritte Jahr in der Rezession verbracht. Keine Volkswirtschaft in Südamerika ist so langsam gewachsen, keine Regierung hat öfter beim Internationalen Währungs­fonds um Kredit gebeten, und kein Finanz­system ging öfter pleite als das argentinische. Seit kurzem registrieren die Rating­agenturen einen Teil der Staats­schulden erneut als «teilweisen Bankrott».

Nun steckt das Land wieder mitten im Labyrinth – und muss entscheiden, wer es künftig regieren soll. Am kommenden Sonntag werden Parlament und Präsident gewählt.

Alles deutet darauf hin, dass die jetzige Regierung am 27. Oktober eine epochale Niederlage erleidet.

Auftakt: Mauricio Macri betritt die Bühne

Wenn er in den Spiegel schaut, erblickt Argentiniens Präsident ein fahles, falten­zerfurchtes Gesicht, darüber fast schloh­weisses Haar. Die Fotos von damals, als ein dynamischer und ausgeruhter Stadt­bürgermeister antrat, um die Wirtschaft für den Finanz- und Warenverkehr zu öffnen und um das Machtkartell der Peronisten auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, wirken heute wie jahrzehntealte Jugendaufnahmen.

Dabei sind die Fotos erst vier Jahre alt: Sie stammen von 2015.

Der Siegertanz war nur von kurzer Dauer: Präsident Mauricio Macri mit First Lady Juliana Awada nach seiner Wahl am 10. Dezember 2015. Victor R. Caivano/AP Photo/Keystone

Der 10. Dezember jenes Jahres war ein strahlender Frühsommertag. Über die ehrwürdige Plaza de Mayo, nur ein paar Blöcke vom Harrods-Palast gelegen, schallte eine populäre Cumbia. Auf dem Balkon des rosafarbenen Regierungs­palastes tanzte der neue Staatschef. Er hatte, wie üblich am Tage der Amts­einführung, die Schärpe in den Landes­farben Himmelblau und Weiss übergestreift, und seine Anhänger skandierten: «Sí, se puede!» – Barack Obamas «Yes, we can!» auf Spanisch.

Zur Chronologie der Amtszeit von Mauricio Macri

Vom Hoffnungsträger zum Buhmann: Wir haben die Ära Macri im Detail und mit Grafiken aufgearbeitet – für alle, die es genau wissen wollen.

Im Wahlkampf hatte der Multimillionär, vormalige Unternehmer und Präsident des beliebtesten Fussball­clubs Südamerikas, der Boca Juniors, versprochen, Argentinien aus seinem ewigen Krisen­kreislauf zu führen und die wirtschaftliche Misere zu beenden, die unter Vorgängerin Cristina Kirchner gekommen war. Vier Jahre lang war das Land nicht gewachsen; sämtliche Reserven waren aufgebraucht, die Kredit­märkte versperrt.

All das sollte sich ändern. Und Argentinien zurück zum Erfolg finden.

Aufbruch: Der Neue will alles anders machen

Der Ökonom Ariel Coremberg lehrt an der Universität von Buenos Aires. Er wurde dieses Jahr 50 Jahre alt – und kann in einem Satz acht wirtschaftliche Desaster aufzählen, die er persönlich erlebt hat: «1975 der Rodrigazo, 1982 bis 1983 die Schulden­krise und die Inflation, 1985 bis 1989 die Pläne Austral und Primavera, 1989 die Hyper­inflation, 1995 die Tequila-Krise, 2001 der Staats­bankrott, 2014 Teilzahlungs­ausfall, 2018 bis 2019 die aktuelle Währungskrise.»

Mega-Abwertungen, Hyper­inflation, Stabilisierungs­programme, Staats­verschuldung und Zahlungs­ausfälle: Argentinien erlebt Finanz­krisen im selben Rhythmus wie andere Länder gewöhnliche Konjunktur­dellen.

Für den Ökonomen Coremberg ist all dies nicht nur Forschungs­gegenstand, sondern auch Teil der Familien­biografie. Sein Vater verlor 1995 alle Ersparnisse beim Crash eines Bankhauses, Ariel Coremberg selbst den gesamten Inhalt seines Girokontos.

Millionen ähnlicher Biografien fügen sich zu einem Kollektiv, das an nichts mehr glaubt: nicht an die Währung, nicht an das Finanz­system und schon gar nicht an jene, die Entscheidungen im Land fällen.

Das Vertrauen ist weg: Am 20. Dezember 2001 wollen viele Menschen ihr Geld von der Bank abheben, ehe es noch mehr an Wert verliert. Ricardo Ceppi/Getty Images

Mauricio Macri war fest entschlossen, diesen Nihilismus zu beenden.

Mit seinem Notenbank­chef Federico Sturzenegger – ein vormaliger Harvard-Professor mit Schweizer Wurzeln – verfolgte er eine Doppelstrategie.

Auf den Finanzmärkten sollte eine Schock­therapie einerseits Vertrauen wecken. Der schlagartige Fall aller Kapitalverkehrs­kontrollen sollte Investitionen anlocken, dank diesen sollte die Wirtschaft sukzessive wachsen. Das würde die Steuereinnahmen erhöhen und das Budgetdefizit schrittweise senken, ohne ein rüdes Sparprogramm.

Um nicht als hartherziger Rechtsregent dazustehen, wollte Macri den Reform­prozess andererseits über mehrere Jahre strecken. Er sollte so den Rückhalt gewinnen, um bei den Parlaments­wahlen 2017 die Mehrheiten zu erlangen, die ihm bislang fehlten, um profunde Reformen anzugehen. Finanziert werden sollte dieser «gradualismo» von den Finanzmärkten.

Überschwang: Die Märkte lieben den Präsidenten

Diese waren begeistert vom vormaligen Paria, nachdem Macri schnell jene Hedgefonds auszahlte, denen Vorgängerin Kirchner nicht mehr geben wollte als garstige Tiernamen. Nach der Einigung mit den «Geiern» investierten Anleger wieder Milliarden Dollars in das Land, das saftige Zinsen bezahlte, während die Zentral­banken in Europa und Nordamerika knauserten.

Anfang 2017 entfachten die Analysten der US-Bank Morgan Stanley ein regelrechtes Goldfieber. Innert fünf Jahren könnten argentinische Aktien, in Dollars gerechnet, um sagenhafte 258 Prozent steigen, weissagte das Bankhaus. Zum Höhepunkt der Raserei konnte Argentiniens Finanz­minister sogar eine 100-Jahres-Anleihe loswerden.

Alles schien auf gutem Weg. Binnen einer Woche hatte Macri eines der bislang isoliertesten Finanz­systeme der Welt fast gänzlich geöffnet: Schon an seinem ersten Amtstag hatte er die Ausfuhr­zölle für Soja gesenkt und jene für Weizen und Mais beseitigt. Noch in der ersten Woche hatte er die Devisen­kontrollen beendet: Bürger und Firmen, die beim Finanzamt vier Jahre lang um Erlaubnis hatten ersuchen müssen, um ein paar hundert Dollar zu kaufen, konnten fortan ihre Pesos frei tauschen.

Argentinien atmete auf.

Endlich könnte Argentinien auf die sichere Spur finden – nach zahllosen gescheiterten Reform­versuchen von Macris Vorgängern. Ähnlich wie der jetzige Staatschef hatten bereits der Party- und Privatisierungs­präsident Carlos Saúl Menem in den 1990ern und zuvor der (zivile) Wirtschafts­minister der letzten Militär­regierung, Jose Alfredo Martínez de Hoz, 1977 das Finanz­system für internationale Investoren radikal geöffnet.

Die Experimente waren dem Land damals schlecht bekommen. Unter den Militärs liehen sich argentinische Spekulanten im Ausland Milliarden von Dollars, die sie umtauschten, in hochverzinste Peso-Anleihen steckten und, nach grossem Gewinn, wieder abzogen und ins Ausland transferierten.

An der Wallstreet heisst dieses Vorgehen carry trade. In Argentinien bicicleta financiera, angelehnt ans Velofahren: Wenn ein Pedal unten ist, ist das andere oben. Ein Pedal ist der Pesokurs, das andere der Dollar.

Es gibt Hunderte solcher Termini für den Umgang mit Dollars, die in der Mittel­klasse gang und gäbe sind. Die Geldwechsler im Zentrum heissen arbolitos (Bäumchen), die illegalen Wechsel­stuben cuevas (Höhlen). Die Technik, Dollars zum offiziellen Kurs zu kaufen und dann zum Schwarzmarkt­kurs wieder zu verkaufen, heisst puré (Püree). Ein in diesen Tagen viel praktiziertes Manöver, bei dem Aktien in Pesos gekauft und dann in New York für Dollars verkauft werden, heisst rulito (das Löckchen). Und Dollars, die abseits vom offiziellen Finanz­system gehalten werden, sind nicht etwa schwarz – der Parallel­dollar heisst in Buenos Aires el dólar blu.

Der Wirtschafts­minister und Liberalisierer Martínez de Hoz musste 1981 zurücktreten, nachdem Argentinien an den Märkten in Ungnade gefallen war. Die folgende Abwertung des Peso brachte viele Firmen in die Klemme, die nun ihre Dollar­kredite nicht mehr stemmen konnten. Der Staat musste ihnen zu Hilfe eilen. Die Auslands­schuld wuchs in jenen Jahren rapid.

Zu den Firmen, die Millionen verdienten und letztlich vom Staat gerettet wurden, gehörte auch der «Grupo Macri», das Konsortium des Vaters jenes Präsidenten, der vier Jahrzehnte später das Finanz­system aufs Neue öffnen sollte – mit einem Wechselkurs­system, das der Wirtschafts­berater Rodolfo Santángelo kürzlich als «finanz­politischen Ferrari» bezeichnete.

Ein Rennwagen notabene, der nicht auf der Autobahn, sondern auf löchrigen Vorstadt­strassen unterwegs war, so Santángelo.

Die Wende: Macris Bolide fährt gegen die Wand

Macris fiesta financiera ging zwei Jahre lang gut. Doch dann gaben dessen Minister eine «Rekalibrierung» des Inflations­ziels bekannt. Statt wie bislang um 8 bis 12 Prozent sollten die Preise neu um bis zu 15 Prozent steigen dürfen.

Dass die neue Linie nicht im Gebäude der Zentralbank, sondern im Präsidenten­palast verkündet wurde, verstanden die Finanz­märkte als Hinweis auf die Entmachtung des Notenbank­chefs Federico Sturzenegger. Er hatte als einziges Regierungs­mitglied ernsthaft versucht, die Inflation in den Griff zu bekommen. An jenem Tag verlor Macri das Vertrauen der Investoren. Und der Peso begann an der Börse abzurutschen.

Im Frühjahr 2018 verschlimmerte sich die Lage. Damals begann Donald Trump den Handels­konflikt mit China. Gleichzeitig hob die US-Notenbank den Leitzins an. Viele Fonds reduzierten daraufhin ihre Positionen in Schwellenländern.

Aus zwei Märkten flohen sie jedoch regelrecht: der Türkei und Argentinien.

In beiden Ländern hatten sich die negativen Nachrichten aus Washington mit lokalen Problemen gemischt. In Argentinien waren das: ein deutliches Verfehlen der Inflations­ziele, die schleppende Umsetzung von Reformen, eine von der Oppositions­mehrheit beschlossene Kapitalmarkt­steuer und eine akute Dürre, welche die erwartete Ernte dezimierte.

Schlagartig verlor Macri seine Sponsoren. Zentralbank­chef Sturzenegger versuchte verzweifelt, mit Dollar­verkäufen den Peso zu stützen – aber das konnte nicht gelingen. Die totale Öffnung der Kapital­märkte, die in den ersten zwei Jahren ruckzuck Milliarden an den Rio de la Plata gespült hatte, wurde nun zum Verhängnis. Genauso schnell, wie die Dollars gekommen waren, flossen sie nun wieder ab.

Für den Präsidenten war das brutal. Zwei Jahre lang hatte er die Staatschefs der Industrie­länder empfangen und viele warme Worte geerntet. Wenige Wochen zuvor, auf der Frühjahrs­tagung des IWF, war Argentinien noch das Dornröschen, um das alle buhlten. Und die Wirtschafts­presse der Welt – vom «Economist» bis zur NZZ – hatte Macri für seinen gradualismo gepriesen.

Überlebenskampf: Menschen ohne Arbeit stürmen einen Supermarkt in einem Vorort von Buenos Aires (Dezember 2001). Daniel Luna/AP Photo/Keystone

Und nun? Ya fue, heisst es in den Texten vieler Tangos: schon vorbei.

An der Wallstreet, wo sich viele an Argentiniens schlechte Zahlungs­moral erinnerten, gingen Fondsmanager auf Nummer sicher. Sie liessen sich auch dann nicht zur Rückkehr bewegen, als Macri den Währungs­fonds um Hilfe bat. Als er und die damalige IWF-Direktorin Christine Lagarde bekannt gaben, dass der Fonds 50 Milliarden Dollar für Argentinien bereit­stellen werde, um den privaten Anlegern Sicherheit zu geben, beschleunigte sich die Flucht aus der Pampa zusätzlich.

Dass Macri die in seiner Heimat meistgehasste Institution überhaupt anrufen musste, wurde in der Finanzwelt als Verzweiflungsakt aufgefasst. Schnell war der Fonds nicht mehr Garant, sondern einziger Financier des gradualismo. «Es gab damals niemanden, der in den Reform­prozess der Regierung investierte», sagte Lagarde der «Financial Times». «Und angesichts des Ausmasses der Heraus­forderung mussten wir gross einsteigen.»

Aber auch die Riesensumme von 50 Milliarden konnte die Märkte nicht beruhigen. Der Peso verfiel weiter. Nun musste Lagarde nochmals 7 Milliarden Dollar nachlegen. Und Macri den gradualismo begraben.

Ein Jahr vor den Wahlen blieb ihm nur die harte Tour: Steuern erhöhen, Sozial- und Bauprogramme reduzieren – und akzeptieren, dass die Zentralbank mit enormen Zinssätzen versuchte, Anleger im Argentinischen Peso zu halten.

Wollte Macri bei den nächsten Wahlen noch eine kleine Chance haben, so musste er seine ganze Politik einem einzigen Ziel unterordnen: Der Dollar durfte nicht weiter steigen.

Flashback: Der Fluch der fremden Währung

Für Argentiniens Politiker gibt es keinen wichtigeren Kurs als jenen der US-Währung. Denn seit Jahrzehnten sichern die Bürger ihren Besitz in Dollars.

Immobilien wechseln nur gegen grüne Scheine den Besitzer, weite Teile der Wirtschaft kalkulieren auf Dollarbasis. Die Preise für Glas, Metall und Kunststoffe richten sich ebenso nach dem Dollarkurs wie jene von export­fähigen Grund­stoffen wie etwa Weizen. Wann immer der Peso nachlässt, erhöhen die Mühlen die Preise fürs Mehl – und die Bäcker geben die Erhöhung dann weiter. Argentinien braucht Dollars für den Schulden­dienst und für die Industrie: Von der Autofabrik bis zum Elektronik­hersteller sind viele Betriebe auf importierte Komponenten angewiesen. Und folglich auf harte Devisen, um die Ware zu bezahlen.

Der Dollar ist eine nationale Obsession – und zwar seit den 1950er-Jahren.

Um seine generöse Infrastruktur- und Sozial­politik nach den Kriegsjahren fortzusetzen, hatte der Volkspräsident Juan Domingo Perón damals die Notenpresse rotieren lassen. Um sich gegen die rasant steigenden Preise abzusichern, begann die Mittelklasse ihrerseits, Dollarnoten zu kaufen.

An beiden Praktiken hat sich seither wenig geändert.

Es ist die Reaktion der Bürger auf die Korruption der Politiker, die Ineffizienz des aufgeblähten Staats­apparats, die millionen­schweren Gewerkschafts­bosse und die ständig nach Protektion wimmernden Unternehmer. In einem Staat, an den niemand mehr glaubt, horten die Sparer ihre Habe ausserhalb des Finanz­systems – in Bank­schliessfächern, auf Konten in Uruguay oder in Mauern, Garten oder Wassertanks. Jedes Jahr bekommt die US-Notenbank Millionen angeschimmelte Scheine aus Argentinien zum Austausch.

Weil die Argentinier ihr Geld nicht den Banken anvertrauen, können diese den Staat nicht finanzieren. Darum müssen sich die Regierenden dauernd in Fremd­währungen finanzieren. «Das ist ein Schlüssel­problem des Landes», sagt Gabriel Torres, Chefanalyst der Rating­agentur Moody’s in Buenos Aires.

Der Kollaps: Macri verliert allen Rückhalt

Mauricio Macris totale Fixierung auf den Dollarkurs kam Argentinien teuer zu stehen.

Die Industrie litt immer stärker, vor allem die hohen Zinssätze erwürgten viele Unternehmen. 20’000 Klein- und Mittel­betriebe mussten zusperren, Hundert­tausende Arbeits­plätze gingen verloren, viele Menschen rutschten unter das Existenz­minimum.

In seiner ersten Ansprache als gewählter Präsident hatte Macri als Ziel «Armut null» ausgegeben und gebeten, man möge ihn vier Jahre später an diesen Worten bewerten. Die aktuelle Statistik besagt: 53 Prozent der Kinder unter 14 Jahren sind arm. Argentiniens Präsident ist nicht nur als Reformer und Stabilisator gescheitert – sondern auch als Sozial­politiker. Seine Amtszeit hat für gewöhnliche Leute nichts Zählbares gebracht.

Im Wahlkampf hatte Macri versprochen, die Inflation, das chronische Leiden seit neun Jahrzehnten, binnen weniger Monate in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist die Teuerungsrate von 20 auf über 50 Prozent gestiegen. Die Staatsschuld ist hochgeschnellt, und die Kapitalverkehrs­kontrollen sind längst wieder eingeführt.

Ein Déjà-vu für die Argentinier, nur schlimmer.

Macris Herkunft – er ist der erste Sohn eines aus Kalabrien eingewanderten Selfmademan, der dank Staats­aufträgen zum Milliardär wurde – hatte ihm den Zugang zur internationalen Wirtschafts­elite erleichtert. Doch daheim war er wegen seines Image als pibe de oro, als «Goldbubi», schon immer angreifbar gewesen. Jetzt, in der erneuten Krise, begannen die Ränge der Fussball­stadien den Präsidenten sogar als «Hurensohn» zu besingen.

Zum Verhängnis wurden dem einstigen Hoffnungs­träger sein übertriebener, wohl auch naiver Optimismus und seine bisweilen elitäre Entrücktheit.

Symptomatisch dafür waren die Tumulte gewesen, als Macris Regierung eine Renten­reform vorlegen wollte. Die Sitzung im Kongress fand schliesslich nicht statt, aber die Repression davor schon. Es gab Verletzte und Festnahmen, danach gingen wütende Bürger auf die Strasse. Vielen Leuten aus der Mittel­klasse war wegen der steigenden Strom-, Gas-, Wasser- und Benzin­preise der Kragen geplatzt: Zuvor hatten zwei Monate Strom dank grosszügiger Subventionen nicht mehr gekostet als eine Pizza an der Ecke. Macris Kabinett von Millionären hatte völlig unterschätzt, wie stark die Abschaffung der Subventionen die einfachen Bürger traf.

Mit Steinen gegen die drohende Verarmung: Tumulte in Buenos Aires nach einer geplanten Rentenreform im Jahr 2017, die zu einem drastischen Anstieg der Preise geführt hätte. Victor R. Caivano/AP Photo/Keystone

Fehler waren auch Macris Weigerung, parlamentarische Kompromisse mit Teilen der Opposition zu suchen, und sein stures Beharren auf seinem Kurs, auch als Geldgeber absprangen. Sein gradualismo brachte kaum Reformen hervor, schuf aber ein Schulden­problem. Liberale Ökonomen verspotteten seine Stufen­strategie deshalb bald als «Populismus mit guten Manieren».

Nun werfen ihm diese Kreise vor, nicht gleich zu Anfang einen Kassensturz gemacht und ein drastisches Sparprogramm aufgelegt zu haben, als seine Sympathie­werte noch intakt waren.

Aber dazu wollte sich Macri nicht durchringen, weil er zumindest diesen Teil der Landes­geschichte kannte: Seit den 1950er-Jahren haben die politischen Erben von Juan Domingo Perón keinen nicht peronistischen Präsidenten bis ans Ende regieren lassen. Wer es in Argentinien mit Austerität probierte, wurde früher oder später aus dem Amt gejagt.

Finale: Der nächste Populist steht bereit

Das vorzeitige Aus als Präsident hat Macri zwar vermieden. Doch das Gespenst des Peronismus hat auch ihn eingeholt. In Form einer Volksmeinung, die nur Politiker goutiert, die viel Geld ausgeben.

So, wie es Néstor und Cristina Kirchner gemacht hatten. In den zwölf Jahren der «Ära K» haben sich die Staatsausgaben im Vergleich zum BIP nahezu verdoppelt. Vier Millionen Bürgern, die kaum Beiträge geleistet hatten, wurde eine staatliche Pension zugesprochen. Der Staat schuf Stellen und bezahlte die Löhne teils mit der Noten­presse, teils mit dem Ersparten. Cristina Kirchner schaffte es so, den Erlös des grössten Rohstoff­booms in der Landes­geschichte durchzubringen.

Die Ex-Präsidentin hinterliess einen bankrotten Staat, in dem sämtliche vitalen Statistiken obendrein gefälscht waren. Trotzdem wird sie von der Bevölkerung verehrt wie Evita – die legendäre, nicht weniger spendier­freudige Gattin des grossen Generals Juan Domingo Perón.

Ikone I: Evita Perón mit ihrem Gatten Juan auf dem Balkon des Präsidentenpalastes (1950). AP Photo/Keystone

Nun könnte ebenjene Cristina Kirchner an die Staatsspitze zurückkehren.

Ikone II: Ex-Präsidentin Cristina Kirchner mit Oppositionsführer Alberto Fernández auf einer Veranstaltung ihres Wahlbündnisses Frente de Todos am 17. Oktober 2019 in Santa Rosa. Natacha Pisarenko/AP Photo/Keystone

In einer virtuosen Rochade ernannte sie im Mai den einstigen Kabinetts­chef ihres Mannes, Alberto Fernández, zum Präsidentschafts­kandidaten. Und sich selbst zur Anwärterin auf die Vizepräsidentschaft. Der gemässigte und umgängliche Fernández, der mit vielen Kreisen Umgang pflegt, die Kirchner verachten, sollte die Macri-müde Mittelklasse motivieren und die Provinz­gouverneure in ein Bündnis gegen den Präsidenten holen.

Der Plan ging auf: In den Vorwahlen am 11. August erhielt Fernández 17 Prozent mehr Stimmen als der Amtsinhaber, was die argentinische Börse ebenso abstürzen liess wie Macris Hoffnungen auf eine Wiederwahl.

Nun tritt Alberto Fernández bereits wie der sichere Sieger des 27. Oktober auf: Unternehmer, Gewerkschafter, IWF und Weltbank stehen Schlange vor dessen Wahlkampf­zentrale im malerischen Altstadtviertel San Telmo.

Die Besucher stellen die gleichen Fragen: Wer regiert künftig – er oder sie? Ergreift Kirchner die Macht, wenn Fernández’ Verhandlungen mit den Gläubigern scheitern? Kann dieser die Gewerkschaften zum Lohnverzicht überreden, um die Inflations­spirale zu bremsen? Woher kommen die vielen Dollars, die das Land braucht, um nach acht Jahren wieder zu wachsen? Und wie soll eine Welt helfen, die an allen Ecken und Enden kriselt?

Fernández, Anwalt und seit Jahrzehnten wortgewandter Strippen­zieher in den Couloirs der Macht, gibt allen Fragern freundliche Antworten. Aber keine davon ist deutlich.

«Wir werden wieder aufstehen», wirbt Fernández. «Wir sind Argentinien!»

Epilog: Schlafender Reichtum

Der Reichtum, der einst die Chefs von Harrods nach Buenos Aires lockte – er existiert noch immer. Vor allem im Agrarbereich: Fünfmal so viele Lebens­mittel wie heute könnte allein China in Argentinien einkaufen. Unter der Patagonischen Steppe liegen die zweitgrössten Schiefergas­vorkommen der Erde, und in den Salzseen der Anden lagert das wertvolle Lithium: ein Stoff, der in Batterien von Millionen Elektro­autos verbaut werden könnte.

Die Argentinier haben zudem zwischen 300 und 400 Milliarden Dollar ausserhalb des Finanz­systems gebunkert: fast ein gesamtes Bruttoinland­produkt, das investiert werden könnte, wenn die Politik solide und verlässliche Grundlagen schaffen, die enormen Lohnneben­kosten reduzieren und das babylonische Dickicht von 163 verschiedenen Steuer­typen lichten könnte.

Dafür bräuchte es aber einen nationalen Schulter­schluss: zwischen Gewerkschaften, Industriellen, Agrar­produzenten, der katholischen Kirche und sozialen Wohlfahrts­gruppen. Wenn das gelingen sollte, dann dürften auch die Gläubiger geduldiger werden.

Wenn nicht, dann droht Argentinien die nächste Krise. Wieder einmal.

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