Toleranz geht durch den Magen: Im Restaurant Lumina in Tel Aviv werden Gerichte aus der arabisch-israelischen Küche zubereitet.

Via Arabiens Küche zu Israels Identität

Orientalische Juden waren in Israel lange der Diskriminierung durch europäische Israelis ausgesetzt. Ihr Weg in die Mitte der Gesellschaft führte über den Teller: Die arabisch-israelische Küche hat nicht nur die Welt erobert, sie verleiht dem Land auch seinen heutigen Charakter.

Von Joëlle Weil (Text) und Jonas Opperskalski (Bilder), 24.10.2019

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Noch zehn Minuten braucht der Fisch. Die Gerüche in der Küche überwältigen. Sie reichen bis in den kleinen Garten. Paprika, Knoblauch, Zitrone, Koriander … Es ist Freitag­morgen in der israelischen Siedlungs­stadt Ariel, und Michal tut, was sie jeden Freitag tut. Die Handgriffe sitzen. Sie sind seit Jahrzehnten dieselben. Auf dem Schneide­brett wartet eine Handvoll Knoblauch­zehen auf ihren Einsatz.

«Das war der Duft meiner Kindheit», sagt die 45-Jährige und öffnet den Deckel des Topfes, in dem das marokkanische Fisch­gericht Chreime vor sich hinkocht. Das Rezept stammt noch von ihrer Mutter. Aufgeschrieben wurde es nie. Es lebt nur in der Erinnerung und jede Woche auf dem Herd wieder auf.

Michal wurde als Tochter einer Marokkanerin und eines Syrers geboren. Ihre Mutter stammte aus der Königs­stadt Rabat, die Eltern des Vaters aus Aleppo. «Meine Grosseltern kamen als junge Menschen aus Syrien auf Pferden ins damalige Palästina», erzählt sie.

«Der Duft meiner Kindheit»: Michal mit ihrem marokkanischen Fisch­gericht Chreime.

Michals Identität ist vor allem durch ihre Mutter geprägt. Nicht nur, weil der marokkanische Charakter so dominant ist wie sein Ruf, sondern vor allem, weil das Essen der Mutter ihre Kindheit und ihr Leben heute prägt. Was Michal heute kocht, hätte sie vor zwanzig Jahren nicht für Gäste zubereitet. «Das ist heimisches Essen. Ich hätte mich früher genieren müssen, das Aussen­stehenden aufzutischen.»

Aus einem Traum wurde harte Realität

Michals Geschichte ist die vieler Israelis: Über die Hälfte der jüdischen israelischen Bevölkerung bilden die sogenannten misrachischen Juden, die orientalischen Juden. Sie kamen im grossen Rahmen hauptsächlich nach der Staats­gründung 1948 aus dem Irak, dem Iran, aus Marokko, aus dem Jemen, aus Tunesien oder Syrien. Die aschkenasischen Juden kamen aus den USA und aus Europa.

Nach der Staats­gründung wurden in vielen arabischen Ländern Komplotte gegen die jüdische Bevölkerung geschmiedet. Anschläge und Bedrohungen überschatteten plötzlich das unbeschwerte Leben und veranlassten viele zur Flucht. Die rasche Auswanderung ins neue Israel war vom Optimismus bezüglich eines besseren Lebens unter seines­gleichen gezeichnet.

Der jüdische Staat war in den Köpfen der Zuwanderer ein wahr gewordener Traum – das Land, in dem Milch und Honig fliessen. Doch die romantische Vorstellung eines neuen Lebens wurde hart auf die Probe gestellt. Misrachische Juden wurden nach ihrer Ankunft in Zeltstädten unter ärmlichen Bedingungen untergebracht und mit einem Problem konfrontiert, das sie in der neuen jüdischen Heimat niemals vermutet hätten: Rassismus.

Die Kluft zwischen den aschkenasischen Juden und den Misrachim war gross. Während die aschkenasischen die europäische Kultur lebten, waren die misrachischen Juden stark mit ihrer orientalischen Herkunft verwurzelt. Sie sahen arabisch aus, sprachen Arabisch, kochten und kleideten sich arabisch. Als primitiv empfand man sie – und man gab ihnen diesen Eindruck auch zu spüren.

Die aschkenasischen Israelis sahen sich als die Pioniere Israels. Dieses Gefühl wurde vor allem dadurch bestärkt, dass der Zionismus in Europa entstand und es vor allem europäische Juden waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust die Gründung eines jüdischen Staates durchsetzten.

Michal gehört der zweiten Generation misrachischer Einwanderer nach der Staats­gründung an, doch die Stimmung blieb auch während ihrer Kindheit angespannt. Diskriminierung musste sie als Mädchen und junge Frau am eigenen Leib erfahren. Das erste Mal geschah es, als ihr Bruder seine Familie den Eltern seiner neuen Freundin – Tochter von Holocaust-Überlebenden – vorstellen wollte. Da war Michal zehn Jahre alt. «Meine Mutter und ich standen in der Wohnung dieser Familie, und plötzlich sagte uns dort die Hausherrin: ‹Ihr seid schwarz, ihr seid nichts wert.› Meine Mutter hat diesen Moment bis zu ihrem Tod nicht vergessen.»

Michal ist in Israel zur Welt gekommen, wuchs in einer durchmischten Nachbarschaft in Jaffa auf, einem Stadtteil von Tel Aviv. Bis zur Mittelstufe verliess sie das arabisch geprägte Jaffa nicht. «Das Zusammen­leben damals mit den Arabern war harmonisch. Meine Eltern sprachen mit ihnen Arabisch und fühlten sich ihnen näher als den aschkenasischen Juden. Diese gemeinsame Sprache und die gemeinsame Kultur haben viel zu einem respekt­vollen Umgang und echter Koexistenz beigetragen», sagt sie.

Die Mittelstufe absolvierte sie später mit Jugendlichen aus einem weiteren Radius, und plötzlich merkte sie, dass dieser Rassismus, den sie als Zehnjährige erfahren musste, kein einmaliges Erlebnis war.

Opfer- und Täterrolle

Ein Grossteil der misrachischen Israelis kann von solchen entwürdigenden Vorkommnissen berichten. Von verbaler und physischer Gewalt. Es ist eine Realität, die in Israel gern totgeschwiegen wird. Von den Misrachim, weil sie sich nicht mehr in der Opfer­rolle sehen möchten; und von den Aschkenasim, weil sie keine Täter sein wollen. Besonders vor dem Hinter­grund der jüdischen europäischen Geschichte ist es vielen Aschkenasim unangenehm, sich im Zusammen­hang mit Rassismus eine Täterrolle einzugestehen.

Bei Michal hatte diese Diskriminierung zur Folge, dass sie sich für die Kultur ihres Eltern­hauses zu genieren begann. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern Arabisch sprachen, wenn sie Freundinnen einlud. Auch orientalisches Essen wurde damals nur im Rahmen der Familie serviert. Misrachische Israelis haben sich einreden lassen, ihre Küche sei nicht repräsentativ genug. Dass genau dieses Essen nur dreissig Jahre später Israels kulinarisches Aushänge­schild sein würde, hätte damals niemand gedacht. Auch nicht Michal.

In der Küche von Michal entsteht das Hefebrot Kubaneh …
… das sie mit ihrem Ehegatten teilt …
…und das aus der jemenitischen Kochkultur stammt.

Darüber, was israelische Küche ausmacht, streitet die Welt. Intuitiv lautet die Antwort meist: Falafel, Hummus, Pita, Tahini, Schakschuka. Diese Liste kann man grosszügig und scheinbar endlos ergänzen: Masabacha, Jachnun, Lachmajun, Schwarma, Chreime, Maklube ...

Es gestaltet sich ein Wirrwarr orientalischer Gerichte, die allesamt mit den misrachischen Juden nach Israel gelangten oder bereits auf den Speise­zetteln der ansässigen Palästinenser standen. Früher schlemmte man das alles hinter verschlossenen Türen – heute in Restaurants mit israelischem Stempel, im Inland genauso wie im Ausland.

Mehr Geld, mehr Stolz, mehr Stimme

Im Jahr 1959 fand in Wadi Salib in Haifa der bedeutendste Aufstand der misrachischen Israelis gegen die aschkenasische Diskriminierung statt. In den 70er-Jahren war es schliesslich der aus dem heutigen Weissrussland stammende Likud-Politiker Menachem Begin, der in seinem Wahlkampf die misrachischen Juden miteinbezog und ihnen ein Stück des Stolzes zurückgab, den man ihnen genommen hatte.

Die Erfolgsgeschichte der konservativen Likud-Partei – die heute von Benjamin Netanyahu angeführt wird – begann dank der Stimmen der Misrachim. Der soziale und wirtschaftliche Aufstieg nahm seinen Lauf, wenn auch schleichend.

Die Diskrepanz zwischen aschkenasischen und misrachischen Israelis in Bezug auf Einkommen oder akademische Ausbildung ist heute noch da: Laut dem israelischen Adva Center unterschied sich 2014 der Durchschnitts­lohn von aschkenasischen Israelis um 30 Prozent von demjenigen der misrachischen.

Bei den Universitäten sehen die Zahlen ähnlich aus: Laut dem israelischen Amt für Statistik verfügten während eines ähnlichen Zeitraums 50 Prozent der aschkenasischen Israelis über einen Hochschul­abschluss. Die Zahl bei den misrachischen Israelis lag bei 29 Prozent.

Mit dem sozioökonomischen Aufstieg der Misrachim erfreuten sich auch ihr Essen und ihre Musik zunehmender Popularität. Plötzlich gab es überall diese scheinbar neue israelische Küche mit viel frischem Gemüse und den scharfen Gewürzen.

Misrachische Köche kochten im Fernsehen nun das, was die Hausfrau bereits zu Hause zauberte. Bis anhin kannte man aus den Restaurants die französische oder die osteuropäische Küche. Nur sie war es damals wert, in Lokalen serviert und präsentiert zu werden. War das Essen in Israel bis früher europäisch geprägt, so wurde der ganzen Cuisine plötzlich ein neuer, ein arabischer Stempel aufgedrückt.

Blick vom Restaurant Lumina auf das Mittelmeer vor Tel Aviv.

«Der wirtschaftliche Aufstieg der misrachischen Israelis machte ihr Essen plötzlich populär», sagt Gil Hovav. Er ist Restaurant­kritiker, Foodjournalist und eine von vielen Persönlichkeiten, die der orientalischen Kochkunst in Israel zur heutigen Beliebtheit verhalfen. Hovav stammt aus einer Familie, die seit drei Generationen in Israel lebt. Sein Vater war jemenitischer Abstammung, seine Mutter stammt zur Hälfte aus Litauen und je zu einem Viertel aus Spanien und Tunesien.

«Die Misrachim wurden selbst­bewusster, hatten plötzlich Geld und wollten sich nicht mehr verstecken. Sie wollten nicht mehr in einem Nahen Osten leben, in dem man in Restaurants europäische Küche serviert bekam. Es war quasi die Rück­eroberung ihrer Kultur, ihres Stolzes und ihrer Region. Denn egal, wie gross der europäische Einfluss auf Israel ist: Es ist und bleibt Naher Osten.»

Dass israelisches Essen den Weg nach Europa gefunden hat, erstaunt Hovav in Anbetracht der heutigen Esskultur nicht: «Die arabische beziehungs­weise die misrachische Küche ist nicht nur viel gesünder, frischer und farben­froher als die europäische», sagt Hovav. Sie treffe einen Zeitgeist, was ihr zum Durchbruch in Europa verhalf.

«Orientalisches Essen ist relativ vegan», sagt Hovav. «Zudem ist es mit all seinen Farben und seiner Anrichtung sehr fotogen, ein Vorteil für Instagram.» Ein Faktor, der nicht unterschätzt werden sollte. «Unsere Küche hier passt zudem auch zum Street-Food-Trend. Viele dieser Gerichte kann man aus der Hand essen, und ihr Geschmack trifft denjenigen des Mainstreams.»

Israelische Küche in Berlin und New York

Einer, der die orientalische israelische Küche nicht nur bei sich zu Hause lebt, sondern sie auch in die Welt hinaustrug, ist Meir Adoni. Er gehört zu den bekanntesten Köchen in Israel. Auch er hat – wie Michal – eine marokkanische Mutter. Sein Vater ist irakischer Abstammung. Adonis Restaurant Nur («Licht») steht in New York und das «Layla» («Nacht») in Berlin. Das «Layla» wurde dieses Jahr vom Wirtschafts­netzwerk «Berlin Partner» gar als bestes Szene­restaurant der Stadt nominiert.

Auberginen-Carpaccio, Krautsalat und Linsen Mesabeha – drei Vorspeisen …
… aus dem Restaurant Lumina: Blick in die Küche.

Die Namen seiner Restaurants hätten Hebräisch sein können, doch Adoni hat sich bewusst für arabische Namen entschieden. Obwohl er selber nicht besonders orientalisch aufwuchs. Seine Eltern haben sich während seiner Kindheit ihrer europäischen Nachbarschaft angepasst, auch in Bezug auf das Essen. Doch als er als Jugendlicher ein Internat besuchte, hörte er von seinen Mitschülern all die Geschichten der «rassistischen, elitären Aschkenasim».

Sie erzählten ihm von ihren Erfahrungen mit Beschimpfungen und Diskriminierung. «Ich war schockiert. Während dieser Zeit entflammte meine orientalische Seele», sagt er. «Ich wurde fast schon militant in meiner misrachischen Identität. Je mehr ich über die Geschichte und die Lebens­umstände meiner Leute lernte, desto stolzer wurde ich, einer von ihnen zu sein.»

Wem gehört die israelische Küche?

Zu Hause konfrontierte er seine Eltern mit den Geschichten seiner Kameraden. Die Reaktion seiner Familie war überraschend: «Meine Mutter begann plötzlich fürchterlich zu weinen und erzählte mir zum ersten Mal, was ihr Vater als Einwanderer in Israel durchmachen musste. Es waren Storys, wie ich sie so oft im Internat hörte. Dieses Kapitel meiner Familien­geschichte wurde lange unter den Teppich gekehrt.»

Adoni begann schliesslich, sich intensiv mit seiner marokkanischen Identität zu beschäftigen, und entdeckte schnell die orientalische Küche. Sie wurde Ausdruck seines Stolzes. «Heute bezeichne ich mich als stolzer Marokkaner, stolzer Israeli und auch stolzer Araber – auch wenn Letzteres eine Bezeichnung ist, die misrachische Juden ungern hören.»

«Stolzer Marokkaner, stolzer Israeli und auch stolzer Araber»: Meir Adoni, einer der bekanntesten Köche Israels.

Tatsächlich ist die Bezeichnung «arabische Juden» unüblich und für viele fast schon beleidigend. So ungern sich misrachische Juden als Araber bezeichnen lassen, so ungern bezeichnet man in Israel die lokale Küche als arabisch. «Wir werden hier in Israel oft von arabischen Ländern beschuldigt, ihre Küche geklaut zu haben», sagt Adoni.

«Unsere Küche ist zwar arabisch, aber geklaut ist sie nicht. Über die Hälfte der israelischen Bevölkerung stammt aus arabischen Ländern und ist mit diesem Essen aufgewachsen. Das Essen ist arabisch, und weil es arabisch ist, gehört es auch zu uns.»

Dass die misrachisch-israelische Kultur heute mit Erfolg in die Welt hinaus­getragen wird, überwältigt vor allem Menschen wie Michal. Sie erinnert sich, als sie vor zwanzig Jahren in Israel in einem Hotel war und zum ersten Mal in einem öffentlichen Raum orientalische Musik mit hebräischen Texten hörte. «Ich war damals auf einem Betriebs­ausflug, und plötzlich hörte ich im Radio die Musik, deren Klänge ich nur von zu Hause kannte. Ich fiel fast vom Stuhl.»

Zur selben Zeit starteten in Israel Kochsendungen mit Persönlichkeiten wie Gil Hovav und anderen misrachischen Köchen. «Es fühlte sich an wie eine Explosion», sagt Michal. «Dieser Wandel hat mich sehr berührt und mir viel Selbst­bewusstsein zurückgegeben.»

Die kulturelle Charakteristik Israels ist heute stark an die arabische angelehnt. Dass dieser Trend bereits seinen Peak erreicht hat, glaubt Gil Hovav nicht: «Israel ist ein sehr junger Staat. Die Gesellschaft sucht sich selbst und ihre Identität noch immer, das spiegelt unser Essen wider.» Wie sich Israel weiter­entwickeln wird, weiss Hovav nicht.

Aber bei einer Sache ist er sich sicher: «Wir werden hier in unserer Identität arabischer. Und ich wünschte mir, das würde es uns in Zukunft leichter machen, mit unseren Nachbarn zu kommunizieren. Auch im Hinblick auf Frieden.»

Zum Update

Sie sind inspiriert von der Küche Israels? Hier finden Sie ein Rezept: Israels arabische Tafelkultur zum Nachkochen.

Zur Autorin

Joëlle Weil, in Zürich aufgewachsen, ist freie Journalistin in Tel Aviv. Sie berichtet seit 2013 für diverse Zeitungen und Magazine aus Israel.

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