Strassberg

Was ist DER Mensch?

Aufklärer, Ideologen und Kolonialisten verwenden gerne die grammatische Form des Gattungs­singulars. Dieser Sprach­gebrauch ist fatal.

Von Daniel Strassberg, 22.10.2019

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Heute wird es grammatisch. Nein, bitte nicht sofort wegklicken! Es wird auch politisch, denn das Grammatische ist politisch. Die Rede wird vom Gattungs­singular sein, oder – grammatikalisch korrekt – vom generischen Singular.

Genauer, von einer bestimmten Art des generischen Singulars, die ich normativen Singular nennen möchte. Sie haben in der letzten Kolumne ein Exemplar kennengelernt – der Wählerwille –, doch es gibt viele mehr davon: der Mensch, die Natur, der Bürger, der Wähler, der Leser, der Ausländer. Sie werden sich vielleicht darüber empören, dass ich nicht der Leser und die Leserin schreibe, aber Sie werden bald verstehen, dass es die Leserin nicht gibt. Es gibt nur die Leserin.

Wer sinnvoll kommunizieren will, muss Einzel­dinge zu Gruppen zusammen­fassen. Wir können nicht jeden einzelnen Menschen aufzählen, wenn wir über die Menschen sprechen wollen. Wir nennen deshalb aus Sparsamkeit alles Mensch, was bestimmte Merkmale aufweist, und verwenden dafür die Einzahl. «Die Körper­kern­temperatur des Menschen liegt zwischen 36 Grad und 37 Grad» ist ein sinnvoller Satz, auch wenn es Menschen gibt, die Fieber haben oder unterkühlt sind. Oder gar tot.

Doch irgendwann ist aus dem Menschen der Mensch geworden. Möglicher­weise hat Sophokles das Virus verbreitet, als er in der «Antigone» den Chor ausrufen liess: «Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch!»

«Nichts ist ungeheurer als die Menschen» hätte irgendwie nicht funktioniert. Der Satz wäre nicht nur weniger pompös gewesen, er hätte auch etwas anderes bedeutet, nämlich, dass ziemlich viele Menschen ziemlich schrecklich sind. Was kaum zu bestreiten ist. «Der Mensch ist ungeheuer» bedeutet hingegen, dass das Wesen des Menschen schrecklich und die Gattung Mensch im Innersten verrottet sei.

Worin unterscheidet sich der Satz «Die Temperatur des Menschen liegt zwischen 36 Grad und 37 Grad» vom Satz «Nichts ist ungeheurer als der Mensch»? Der erste Satz beschreibt eine stabile physiologische Eigenschaft der Gattung Mensch, der zweite setzt eine Norm: Von allen möglichen Eigenschaften wählt Sophokles jene aus, die das Wesen der Gattung Mensch ausmachen soll, und ruft dadurch die Menschheit auf, sich zu ändern und nicht mehr ungeheuerlich zu sein. Was immer das auch heisst.

Wenn es darum ging, die Menschen zu beschreiben, wurde immer schon der Gattungs­singular verwendet, doch in der Zeit der Aufklärung wird der Gebrauch geradezu inflationär – und normativ. Wenn Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit als universale Werte durchgesetzt werden sollten, musste aufgezeigt werden können, dass es trotz unter­schiedlicher Kulturen, Sprachen, Gesetze und Hautfarben etwas gibt, was alle Menschen verbindet. So entstand eine Wissenschaft des Menschen, die Anthropologie. Die Philosophen überboten sich darin, das Wesen des Menschen zu definieren, und es entstanden Sätze wie diese:

Versuchen wir also, die Nebel zu verscheuchen, die den Menschen daran hindern, mit sicherem Schritt auf seinem Lebens­weg voran­zuschreiten, flössen wir ihm Mut und Achtung vor seiner Vernunft ein; er gründe seine Moral auf seine Natur, seine Bedürfnisse, seine wirklichen Vorteile, welche die Gesellschaft ihm gewährt; er wage es, sich selbst zu lieben; er arbeite für sein eigenes Glück, indem er dasjenige der anderen fördert; mit einem Wort: er sei vernünftig und tugendhaft.

Die Absicht dieses Werkes ist es also, den Menschen zur Natur zurück­zuführen, ihm Achtung vor der Vernunft, Ehrfurcht vor der Tugend wiederzugeben.

Aus: Paul Thiry d’Holbach, «System der Natur», Vorwort des Verfassers.

Der Mensch ist von Natur böse. Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen Natur liegt, so ist im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen; und dieser Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien Willkür [freier Wille, Anmerkung des Autors] gesucht werden muss, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse.

Aus: Immanuel Kant, «Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 1.III».

Im selben Brustton der Überzeugung verkündet der eine, der Mensch sei gut, und der andere, er sei böse. Doch beide begründen ihre Ansicht mit der Natur. Die Natur entstand in der Zeit der Aufklärung als Gegenpart des Menschen. Sie war nicht mehr bloss ein Sammel­begriff für all die Dinge, die nicht von den Menschen produziert werden – und als solche Gegenstand der Natur­wissenschaft sind –, sondern wurde zu einem Werte­katalog, wie der Mensch sein soll – und so zum Gegenstand der Anthropologie.

Die Unterschiede der Menschen, ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe sitzen gleichsam einem gemeinsamen Unter­grund auf. Dieser ist allerdings durch die Erziehung, Vorurteile oder schlicht durch Denk­faulheit verschüttet worden. Um zu seinem wahren Selbst zurückzufinden, muss der Mensch auf die Natur hören, die von den Menschen, und zwar von allen Menschen, verlangt, sich so oder anders zu verhalten. Die gesetz­gebende Natur mauserte sich zu einem lebendigen Subjekt mit eigenem Willen und eigener Sprache – und sie ist es bis heute geblieben: Die Natur will sich rächen oder uns sagen, dass es so nicht weitergeht.

Das war zweifellos alles gut gemeint, doch an diesem Punkt schlug die Aufklärung mittels des normativen Singulars in ihr Gegenteil um. Mit der Orientierung an der Natur wollten die Aufklärer universale Werte für alle Menschen geltend machen, doch der normative Singular konnte genauso gut den Kolonialismus rechtfertigen. Das tönte dann so:

Die Menschheit ist in ihrer grössten Vollkommenheit in der Rasse der Weissen. Die gelben Indianer [Inder, Anmerkung des Autors] haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.

Aus: Immanuel Kant, «Physische Geographie».

Und der Mörder von Halle machte den Juden für sein Unglück und das der Welt verantwortlich. Solch schrecklichen Humbug bringt der normative Gattungs­singular hervor. Die Aufklärer formten den Menschen nämlich nach ihrem Ebenbild. Er war männlich, weiss, Europäer und Christ. Alle anderen – Frauen, Nichtweisse, Juden –, die dieser Norm nicht entsprachen, wurden ausgegrenzt, sie wurden, wie der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro schreibt, vom «narzisstischen Zirkel des wir auf maximale Distanz gehalten».

Der normative Singular verwandelt mit anderen Worten einen Unterschied in ein Defizit. Damit arbeiten alle Kolonialismen und alle Ideologien des Herrenmenschen­tums noch heute – Rassismus, Sexismus und Antisemitismus. Der/die andere ist zwar auch irgendwie Mensch, aber vom Wesen des Menschen, von der natürlichen Norm so weit entfernt, dass er weit unter ihm steht. Damit lässt sich der Kolonialismus bestens als Erziehungs­projekt tarnen: Man kolonisiert Afrika nicht etwa, um es auszubeuten, sondern um die armen «Neger» zu Menschen zu formen und – sind sie nicht willig – als Sklaven zu verkaufen.

Das antimuslimische Ressentiment arbeitet noch heute nach diesem Muster. O-Ton Oskar Freysinger: «Wir müssen sie [die universalen Werte, Anmerkung des Autors] verteidigen und uns gegen äussere Einflüsse vor allem aus islamischen Kreisen wehren.» Unter­drückung und Verachtung im Namen der Werte der Aufklärung.

Und leider funktioniert auch das linksliberale Ressentiment gegen die rednecks in den USA so.

Illustration: Alex Solman

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