Klima, Linksrutsch, Frauenwahl – was Sie zu diesen Wahlen wissen müssen
Das Sonderbriefing aus Bern zu den eidgenössischen Wahlen.
Von Ronja Beck, Oliver Fuchs und Andreas Moor, 21.10.2019
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Zuerst die Nachricht, bei der sich alle Seiten einig sein dürften, dass sie eine schlechte ist: Die Wahlbeteiligung liegt erneut unter 50 Prozent. Das ist mies, aber nicht aussergewöhnlich. Dafür sind die Wahlresultate historisch.
Die Grünen überholen im Nationalrat zum ersten Mal überhaupt die CVP. Sie sind nun auf nationaler Ebene die viertstärkste Kraft.
Die SP besitzt heute weniger Sitze im Nationalrat als 1919 – seit der Einführung des Proporzsystems.
Dasselbe gilt für die FDP. Sie liegt nur noch um einen Nationalratssitz vor den Grünen.
Die SVP stürzt ab und verfügt nun über gleich viele Sitze wie 2011. Ihr Wähleranteil ist so tief wie zuletzt 2003.
Die Grünliberalen können ihre Sitzzahl fast verdoppeln. Das beste Resultat in ihrer Parteigeschichte.
Insgesamt gewinnt das linke Lager deutlich hinzu, während das rechte Lager verliert. Die Wahl brachte einen Grünrutsch – und einen Linksrutsch.
Der Nationalrat: Ein neues Spielfeld
Die grüne Welle war absehbar. Doch ihre Wucht hat sogar Grünen-Präsidentin Regula Rytz umgehauen. «Ich bin völlig überwältigt. Es ist unglaublich», sagte sie gegenüber SRF. Ihre Partei erhielt 13 Prozent der Stimmen; die Grünen besetzen neu 28 Plätze im Nationalrat. Das ist ein Plus von fast 6 Prozentpunkten und 17 Sitzen.
Die zweiten Sieger vom Sonntag sind die Grünliberalen. Die GLP gewinnt 9 Nationalratssitze dazu und ist mit neu 16 Sitzen fast doppelt so stark.
Wo Siegerinnen, da Verlierer – und in diesem Fall reichen diese von links bis rechts. Die SVP muss 12 Sitze abtreten und hat neu 53 Sitze.
Die SP bezahlt den Sieg der grünen Parteien mit 4 Sitzen. Sie hat neu 39 Sitze.
Die BDP verliert 4 von 7 Sitzen – und kann so keine eigene Fraktion mehr stellen.
Der Ständerat: Weniger männlich, etwas linker
Die kleine Kammer wird erst Ende November definitiv besetzt sein. In 22 Fällen findet ein zweiter Wahlgang statt. Stand jetzt bleibt der Ständerat bürgerlich dominiert. In der Romandie dürfen SP und Grüne mit Sitzgewinnen rechnen. Ebenfalls absehbar: Die kleine Kammer wird (etwas) weiblicher. Im Ständerat politisierten bisher gerade einmal 6 Frauen – bereits im ersten Wahlgang eroberten 5 Frauen einen Ständeratssitz.
Die «Klimawahl»
Bereits nach den ersten Resultaten aus den Kantonen war klar: Es gibt eine «Klimawahl». Im Kanton Glarus verdrängte Mathias Zopfi von den Grünen den bisherigen SVP-Ständerat Werner Hösli. Eine Sensation.
Die zweite Überraschung: Céline Vara erobert in Neuenburg aus dem Stand den zweiten Sitz im Stöckli. Die Kantone Glarus, Freiburg und Wallis schicken erstmals grüne Parlamentarierinnen nach Bern. Gemeinsam mit den Grünliberalen stellen sie 44 Sitze im neuen Parlament. Noch am Wahlsonntag erklärte die erstarkte Grüne Partei ihren Anspruch für einen der Bundesratssitze, die im Dezember bei den Gesamterneuerungswahlen vergeben werden – besonders FDP-Aussenminister Ignazio Cassis könnte ins Visier geraten.
Die Frauenwahl
Beide Kammern werden in der neuen Legislatur deutlich weiblicher. Und trotzdem werden in beiden Kammern die Männer in der Überzahl bleiben. Neu liegt im Nationalrat der Frauenanteil bei 42 Prozent (plus 10 Prozent). Im Ständerat (derzeit 13 Prozent Frauenanteil) könnte besonders die Romandie bald mit vielen Frauen vertreten sein. Gleich 4 welsche Frauen befinden sich für den zweiten Wahlgang in einer Poleposition.
In der Waadt haben Adèle Thorens Goumaz (Grüne) und Ada Marra (SP) nach dem ersten Wahlgang am meisten Stimmen gesammelt, in Genf Lisa Mazzone (Grüne). Und im Wallis hat Marianne Maret (CVP) auf Platz zwei gute Chancen, bald die erste Ständerätin des Kantons zu werden. Bereits gewählt ist Heidi Z’graggen: Die Urnerin wurde als Kandidatin für die Nachfolge von Doris Leuthard letztes Jahr landesweit bekannt.
Zug, Appenzell Innerrhoden, Obwalden und Glarus: Vier Kantone waren noch nie durch eine Frau in Bern vertreten. Diese Liste hat sich gestern halbiert. In Obwalden erobert Monika Rüegger-Hurschler für die SVP den einzigen Sitz im Nationalrat nach acht Jahren zurück. Und aus dem Kanton Zug schafft die grüne ehemalige Regierungsrätin Manuela Weichelt-Picard den Sprung nach Bern.
In memoriam: Die prominentesten Abgewählten
Jean-Fançois Rime, Freiburger SVP-Urgestein und Präsident des Gewerbeverbands, wird das Proporzsystem zum Verhängnis: Er muss, obwohl er fast 4000 Stimmen mehr erhielt, Andrey Gerhard von den Grünen den Weg freimachen.
Hans-Ulrich Bigler von der Zürcher FDP, ebenfalls beim Gewerbeverband als Direktor, muss dem Nachwuchs Platz machen: Der 25-jährige Jungfreisinnige Andri Silberschmidt ersetzt ihn in Bern. Mit Peter Schilliger, Hansjörg Brunner, Bigler und Rime verliert der Gewerbeverband gleich vier Vertreter im Bundeshaus.
Mit der Abwahl von Corrado Pardini erleidet auch die Unia einen herben Schlag: Der Gewerkschafter von der Berner SP muss zusammen mit Partei- und Gewerkschaftskollege Adrian Wüthrich gehen. Dafür zieht die ehemalige Juso-Präsidentin Tamara Funiciello in den Nationalrat.
Heinz Brand, SVP Graubünden, wäre 2021 Nationalratspräsident geworden – wäre die Wahl nicht verlaufen, wie sie verlaufen ist. An Brand zog Magdalena Martullo-Blocher vorbei.
Rosmarie Quadrantis Wahlresultat ist eine weitere bittere Kirsche auf der Wahltorte für die BDP: Mit der Zürcher Fraktionschefin verschwindet auch gleich die gesamte Zürcher Vertretung der BDP aus dem Nationalrat.
Hinweis: In einer früheren Version haben wir Hans-Ulrich Bigler als Mitglied der Berner statt der Zürcher FDP bezeichnet. Das haben wir korrigiert.
Illustration: Till Lauer