Historischer Linksrutsch

Die Klimapolitik ist die Forderung der Stunde. Aber diese Wahlen bringen vor allem eine Wende nach links.

Ein Kommentar von Daniel Binswanger, 21.10.2019

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Nicht nur so mächtig, sondern auch so unvorher­gesehen wie ein echter Tsunami ist gestern eine grüne Welle durch die Schweiz gefegt. Historisch, noch nie da gewesen, ein Epochen­wechsel: Die Grüne Partei legt mit einem Schlag um 6,1 Wähler­prozent und um 17 Parlamentssitze zu – der höchste Sitzzuwachs seit Einführung des Proporz­systems im Jahr 1919 – , sie zieht quasi mit der FDP gleich, wird zur viertstärksten politischen Kraft im Land. Die Grünliberalen legen 3,2 Prozentpunkte und 9 Sitze zu. Nie ist ein Wähler­auftrag in der Schweizer Politik klarer und deutlicher ausgesprochen worden: Die Bevölkerung will eine klima­politische Wende. Ohne Wenn und Aber.

Und jetzt?

Beginnen wir kurz mit einem Kollateral­schaden: Vielleicht sollte die Diskussion darüber, ob Wahl­prognosen nicht gänzlich abgeschafft gehören, wieder einmal geführt werden. Nachdem schon bei den Zürcher Kantonsrats­wahlen das Blaue vom Himmel herunter fehlprognostiziert wurde, sieht es auch beim nationalen Urnen­gang nicht besser aus: Die SVP verliere 2,1 Prozentpunkte, prognostizierte das SRF-Wahlbarometer elf Tage vor der Wahl. In Wahrheit sind es 3,8 Prozent. Die Grünen würden 3,6 Prozentpunkte zulegen. In Wahrheit sind es 6,1. Besonders peinlich bei der Sache: Das Fehler­intervall des Wahl­barometers wurde mit 1,4 Prozent angegeben – was, sagen wir mal, nur mässig plausibel ist.

Aber abgesehen von diesem Ärgernis: Die Grünen haben recht, nun eine Klima­konferenz einberufen und zügig auf griffige Massnahmen hinarbeiten zu wollen. Sie haben eine unerwartet gute Chance, tatsächlich eine klima­politische Wende einleiten zu können. Nicht nur deshalb, weil die gewaltige Dynamik des grünen Lagers das gesamte politische System unter Druck setzt. Ein ebenfalls wichtiger Faktor ist die Tatsache, dass die FDP ihre Verluste relativ begrenzt halten kann, jedenfalls wenn man diese an der desaströsen Niederlage der SVP misst. Petra Gössi hat recht bekommen und liess es sich nicht nehmen, dies in der Elefanten­runde auch lautstark anzumerken.

Die grosse Absetz­bewegung von rechts­bürgerlichen Wählern, die über ihren neuen Kurs erbost gewesen wären und sich der SVP zugewandt hätten, fand nicht statt. Es würde erstaunen, wenn die FDP nicht auf dem neuen Nachhaltigkeits­kurs bliebe und sich nicht um Glaub­würdigkeit bemühen würde, von den Mitte­parteien ganz zu schweigen. Die ökologischen Kräfte werden aufgeschlossene Partner finden im neuen Parlament. Auch die Frage eines grünen Bundes­rates wird sich jetzt stellen – aber angesichts der neuen klima­politischen Mehrheiten im Parlament ist sie beinahe sekundär.

Ob der grünen Euphorie darf eins jedoch nicht vergessen gehen: Diese Wahlen brachten einen massiven und völlig unzweideutigen Linksrutsch. Die Verluste der SP werden viel zu hoch gehängt. Ja, die Genossen müssen in sich gehen, es erscheint plausibel, dass beispiels­weise in Zürich, wo die GLP besonders erfolgreich war und die SP besonders stark einbrach, ein bestimmter Teil des links­liberalen Elektorates zu den Grünliberalen gewechselt ist. Aber mindestens ein Teil der 2 Prozent, die den Sozial­demokraten jetzt wegbrachen, dürfte ganz einfach aufgegangen sein in den 6,1 Prozentpunkten, welche die Grünen gewachsen sind. Unerwartet viele SP-Wähler haben diesmal wohl für die Grünen gestimmt. Das dürfte die SP-Verluste recht weitgehend erklären.

Vollkommen bizarr ist deshalb die These, die «grosse Polarisierung» zwischen links und rechts, zwischen SP und SVP, sei nun Geschichte, so, wie sie zum Beispiel von Urs Leuthard und Lukas Golder auf SRF sofort mit Begeisterung entwickelt wurde. Die Lieblings­fantasie der Schweizer Medien, das heisst das plötzliche Auftauchen einer neuen, progressiven Mitte, die alle klassischen Konflikte unterläuft und alt aussehen lässt, feierte mal wieder fröhliche, frei schwebende Urständ. Dabei ging leider ein kleines Detail vergessen: Die Grünen sind exakt so links wie die Sozial­demokraten – was sich auf Smartvote einfach verifizieren lässt –, in vielen Politik­bereichen (Steuer­politik, Flüchtlings­politik) sogar noch dezidiert linker.

Natürlich werden sich innerhalb des linken Blocks die Kräfte­verhältnisse zwischen Roten und Grünen modifizieren, aber an der Links-rechts-Polarisierung ändert das herzlich wenig. Nicht umsonst zeigte sich Gewerkschafts­boss Pierre-Yves Maillard gestern hoch entzückt über das neue Parlament. Europa­politisch sprechen sich die Grünen engagiert für ein Rahmen­abkommen aus, aber nur mit hinreichendem Lohnschutz. Genau wie die SP.

Was ist die Essenz der Nationalrats­wahlen 2019? Der rechte Block aus SVP und FDP hat sagenhafte 5,1 Prozentpunkte verloren, der rot-grüne Block hat 4,1 gewonnen. Vor vier Jahren haben SVP und FDP gemeinsam 4,1 Prozentpunkte zugelegt, während die SP und die Grünen kombiniert 1,2 verloren. Die ganze Schweiz redete damals Tag und Nacht nur noch von einem Rechtsrutsch.

Diesmal ist der exakt selbe Zuwachs der Linken gelungen – und die Rechte stürzt vollkommen ab. Sicherlich werden jetzt die Grün­liberalen die Mitte aufmischen, und die Politik wird bunter und konstellationen­reicher. Sicher ist die Ökologie nun die alles dominierende Dringlichkeit. Das ändert jedoch nichts an dem massiven Linksrutsch. Er wird bestimmend sein für diese Legislatur.

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!