Wer in Brüssel überleben will, braucht einen langen Atem: Journalistinnen im Pressezentrum des EU-Hauptquartiers während nächtlicher Verhandlungen (1. Juli 2019). Thierry Roge/AFP/Getty Images

Goodbye, Brüssel

Der britische Journalist Alex Barker war acht Jahre lang Korrespondent in Brüssel. Die Bilanz einer emotionalen und physischen Grenzerfahrung.

Von Alex Barker (Text) und Anne Vonderstein (Übersetzung), 16.10.2019

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Zu diesem Text: Am 31. Oktober werden die Briten die EU verlassen. So will es zumindest Premierminister Boris Johnson. Er hat angekündigt, «lieber in einem Strassengraben zu sterben», als das Datum nochmals zu verschieben. Doch bis heute steht kein Austrittsvertrag – und ein Brexit ohne Deal wäre für beide Seiten katastrophal. Ab morgen versuchen die Staats- und Regierungschefs der EU an einem Gipfel, doch noch eine Lösung zu finden. Wie laufen solche Gipfel ab? Wie kommen dort Lösungen zustande – oder eben nicht? Die Geschichte des Brexit, von Gipfel zu Gipfel: Alex Barker erzählt sie. Er berichtete lange Jahre für die «Financial Times» aus Brüssel; dies ist sein Abschiedstext. Wir haben ihn aus dem Englischen übersetzt.


Dass Brüssel mich zum Weinen bringen würde, hätte ich nie gedacht.

Ich stiess dort 2011 zum vierköpfigen Team der «Financial Times». Mein Schwerpunkt: Regulierung des Binnen­marktes. Von einer emotionalen oder körperlichen Grenz­erfahrung bei diesem Auslands­einsatz war also nicht auszugehen.

Und doch, die Migrations­krise war beides für mich.

Ebenso wenig vorbereitet war ich darauf, gestandene Vertreter unseres Berufs auf einer Presse­konferenz weinen zu sehen.

Aber ich konnte es 2015 den griechischen Kolleginnen nachfühlen. Ihr krisen­geschütteltes Land befand sich nach dem EU-Rettungs­paket in einer Abwärts­spirale. Der Regierung in Athen blieb so gut wie kein Handlungs­spielraum – und nun erhielt die Wirtschaft des Landes, die ohnehin am Boden lag, noch einen weiteren Tritt.

Sogar Bundeskanzlerin Merkel, die politische Überlebende dieses europäischen Krisen­jahrzehnts, ist wegen der enormen Last der Eurokrise schon in Tränen ausgebrochen.

Staatskunst in Brüssel

Brüssel ist verschrien als Hochburg der Bürokratie, der gesichtslosen Verwaltung ohne Wähler­mandat. Diesen Ruf hat es nicht verdient.

In Brüssel treffen die Ströme eines ganzen Kontinents aufeinander, wild und roh. Hier sperren sich übernächtigte Politiker in Sitzungs­wochen oft tage- und nächtelang in Konferenz­räume ein, um die schwierigsten Probleme Europas in schier endlosen Debatten herunterzubrechen, sie immer fester zu komprimieren, so lange, bis – wie ein Gipfel­veteran es einmal ausdrückte – «die Politik flüssig wird».

Trotzdem, es gibt sie natürlich, die bürokratische Seite von Brüssel. In meinen acht Jahren hier wurden immerhin 45’530 sogenannte «Rechtsakte» erlassen – in denen grosse oder kleine Entscheidungen, internationale Abkommen und Empfehlungen festgeschrieben werden. Das sind mehr als 15 Beschlüsse, Richtlinien und Verordnungen pro Tag. Ein himmelweiter Unterschied zu dem vergleichs­weise behäbigen Tempo, in dem in Westminster Politik gemacht wird – wie ich aus meiner Zeit als politischer Bericht­erstatter in London weiss.

Nicht nur als Journalist, auch als EU-Beamter kann man da schon einmal den Überblick verlieren. So ging es in den 1970er-Jahren bereits Sir Leslie Fielding, einem der ersten hohen britischen Bürokraten in Brüssel. In seinen Memoiren beschreibt er den Brüsseler Politik­betrieb als «Euro-Dschungel», voller «Fallen für die Unvorsichtigen und Schlangen­gruben für die Unliebsamen».

Trotz aller Betriebsamkeit ist die Gesetz­gebungs­maschinerie in Brüssel eher ein Neben­schauplatz.

Wirklich zum Leben kommt die Staats­kunst hier erst meist nach Einbruch der Dunkelheit, auf den Gipfel­treffen der Staats- und Regierungs­chefs der EU-Mitglied­staaten, im grossen Saal des Europäischen Rates.

53 dieser Treffen habe ich als Korrespondent begleitet. Oft ging es um Probleme, wo den Staats­oberhäuptern kein Blick in die Regelwerke helfen konnte. Wie die Nachbeben der Finanz­krise, die den Euroraum bis ins Mark erschütterten. Wie die mehr als eine Million Menschen, die die Grenzen der Europäischen Union überschritten, um in Europa Asyl zu suchen. Oder wie die Ukraine, in der es zu bewaffneten Polizei­einsätzen gegen proeuropäische Demonstranten gekommen war.

Es ging also um Probleme, die den Politikern – so sagte es der ehemalige Reden­schreiber von Ratspräsident Herman Van Rompuy – den ultimativen Führungs­test abverlangten: «Improvisation».

Für uns Journalisten und Journalistinnen bedeutete das, stunden- oder auch tage­lang darauf zu warten, dass die Verhandlungen endlich beendet und die Ergebnisse verkündet wurden. 2000 Journalisten aus aller Welt pferchten sich dann auf engstem Raum ins Medien­zentrum des Justus-Lipsius-Gebäudes. Wer den Schlaf nicht länger besiegen konnte, legte seinen Kopf auf die Tischplatte, kauerte sich auf den Boden oder rückte ein paar Stühle zum unbequemen Bettersatz zusammen.

Vor lauter Betriebsamkeit geht schon mal der Überblick verloren: Pressesaal während des EU-Gipfels 2012. Rainer Unkel/Imago

Für unsere Arbeit waren wir auf Berater angewiesen, die sogenannten Sherpas, die auf den Korridoren herum­lungerten und bereitwillig Klatsch und Tratsch austauschten – obwohl sie kaum mehr wussten als wir –, bis die Politiker aus dem Sitzungs­saal heraustraten.

Über die wirklich wichtigen Themen verhandelten die Premier­minister und Präsidenten jeweils alleine im Sitzungssaal.

Von allen europäischen Krisen hat wohl keine die Brüsseler Strukturen so erschüttert wie der Brexit. Im Unterschied zu allen anderen brach er nicht plötzlich, überraschend und unvorhergesehen über Europa ein. Vielmehr entfernte sich der drittgrösste Mitglied­staat Schritt für Schritt vom Macht­zentrum der Europäischen Union. Von dieser langen Reise sind mir einige Gipfel besonders in Erinnerung geblieben; bei manchen war die historische Tragweite sofort ersichtlich, bei anderen wurde sie erst im Laufe der Zeit sichtbar.

Das Veto

Es ist früh am Morgen, kurz vor 5 Uhr, im Dezember 2011. Alle sind übernächtigt, benommen und trotzdem aufgekratzt. Offenbar sind wichtige Beschlüsse gefasst worden, gleich sollten die Presse­konferenzen beginnen. Hinten am Gang steht eine Tür halb offen, aus reiner Neugier werfe ich einen Blick in den kleinen Nebenraum. Was ihn dahin verschlagen hat, weiss ich bis heute nicht. Aber da steht er vor seinem Team, Kinn hoch, Brust raus, sprühend vor Energie: Nicolas Sarkozy. Dann zieht der französische Präsident los zur Medien­konferenz wie ein Preis­boxer, noch ganz benommen vom eigenen Sieg.

Da war in Sachen Brexit alles schon zu spät: Der damalige britische Premier David Cameron spricht am 8. Dezember 2011 vor Journalisten. Michel Euler/AP/Keystone

Währenddessen lässt David Cameron die Journalistinnen im britischen Medienraum noch eine knappe Stunde auf sich warten. Bei seinem Eintreffen am Gipfel hatte sich auch der britische Premier noch ziemlich siegesgewiss gegeben, war er doch davon ausgegangen, ein Druck­mittel in der Hand zu haben. Die deutsche Kanzlerin Merkel benötigte Camerons Unterstützung für eine Veränderung des Vertrags von Lissabon. Sie wollte die Steuer­gesetzgebung in der Eurozone verschärfen und mehr Haushalts­disziplin durchsetzen, um die Sorgen der deutschen Bevölkerung nach einer Reihe von milliarden­schweren Rettungs­paketen zu zerstreuen und die volatilen Finanz­märkte zu beruhigen.

Doch die Euroskeptiker in Camerons Partei verlangten für ihre Unterstützung eine Gegenleistung.

Cameron stieg hoch in die Verhandlungen ein. Er verkündete, dass er der Vertrags­änderung nur unter der Bedingung zuzustimmen werde, dass London Sonder­rechte für den britischen Finanz­markt erhielte. Ein fataler Schach­zug. Unter alten Hasen in Brüssel gilt diese Sitzung noch heute als Parade­beispiel für desaströse Diplomatie – und sie haben in diesem Saal wahrlich schon einige spektakuläre Schnitzer erlebt.

Wie benommen vom eigenen Sieg: Nicolas Sarkozy an einer Medienkonferenz am 9. Dezember 2011. Jock Fistick/Bloomberg/Getty Images

Die britischen Unterhändler hatten zwei Wochen vor dem Gipfel ausschliesslich mit Berlin verhandelt und dort ihre Wunsch­liste vorgetragen. Ohne Erfolg. Als Cameron um 2 Uhr 30 morgens vor das Plenum trat, um seine Forderungen im Detail vorzutragen, war das Spiel längst aus.

Auf manche im Plenum wirkte Cameron wie ein Erpresser, der Lösegeld verlangt und sich an den Nöten der Eurozone zu bereichern versucht. Er forderte ausgerechnet weniger Regulierung von Finanz­markt­geschäften an der Londoner Börse, für jene Branche also, die viele als Mitverursacher der globalen Finanzkrise bezeichneten.

«David», erteilte Sarkozy Camerons Forderung eine scharfe Absage, «wir haben nicht die Absicht, dich für die Euro­rettung zu bezahlen.»

Später behauptete Cameron, er habe gegen die Vertrags­änderung von «seinem Vetorecht» Gebrauch gemacht – nur dass dieses Wort im Plenums­saal nie gefallen war. Die anderen europäischen Mitglied­staaten einigten sich ohne die Stimme Gross­britanniens auf ein Regel­werk neben den EU-Verträgen. Es war das erste Mal, dass der Europäische Rat der Staats­oberhäupter mit der gängigen Praxis brach, zu einstimmigen Ergebnissen zu kommen.

Der politische Zusammenhalt der EU hatte einen spürbaren Riss bekommen.

Cameron hatte sich gründlich getäuscht in der deutschen Politik und in Merkels Entschlossenheit, die Vertrags­änderung zu erreichen. Mit dem Ergebnis, dass die Kanzlerin und Sarkozy ihn gemeinsam ausmanövrierten, um einen finanz­politischen Vertrag durchzusetzen, der, wie sich rückblickend zeigt, hauptsächlich symbolischer Natur war. Tatsächlich hatte der Stabilitäts­mechanismus weder den Euro gerettet (dafür sorgten erst wesentlich radikalere Gipfel­entscheidungen sowie Massnahmen der Europäischen Zentral­bank) noch die öffentlichen Ausgaben der Mitglied­staaten gedrosselt.

In anderer Hinsicht war dieses Gipfeltreffen durchaus folgenreich. Denn der Eindruck, das Vereinigte Königreich und die EU würden nun getrennte Wege gehen, verschärfte sich damit weiter. Im eigenen Land feierte man Cameron für seine Niederlage auf dem Gipfel. Statt sinkender Beliebtheits­werte erwarb er sich bei der Wähler­schaft wachsenden Zuspruch. Boris Johnson, damals noch Bürger­meister von London, beschied dem Premier­minister, er habe «einen Überraschungs­coup gelandet», und die «Daily Mail» lobte die «Unnachgiebigkeit», mit der er sich der «Euro-Tyrannei» widersetzt habe.

Auf wachsende Zustimmung stiess allerdings auch Nigel Farages United Kingdom Independence Party (Ukip). Es begann sich abzuzeichnen, dass sie den Wahlsieg von Camerons Konservativen bei den Wahlen 2015 ernsthaft gefährden könnte.

Also begann sich der innere Zirkel des Premiers mit der Frage zu befassen, ob sich die Gefahr bannen liesse, wenn die Konservativen mit der Forderung eines Referendums für oder gegen den Verbleib in der EU in den Wahlkampf ziehen würden.

Of bills and caps

Im Mai 2014 erzielte Nigel Farages Ukip in den Europawahlen mit 27,5 Prozent der Stimmen einen triumphalen Sieg. Zum ersten Mal seit 1906 hatte damit eine andere Partei als die Konservativen oder die Labour-Partei eine landesweite Wahl gewonnen.

Für Cameron eine nieder­schmetternde Erfahrung – und das nächste halbe Jahr machte ihm das Leben nicht einfacher.

Im Juni wurde der ehemalige Premier­minister Luxemburgs, Jean-Claude Juncker, gegen den Widerstand Camerons als Kommissions­präsident nominiert. Viele europäische Staats­oberhäupter trauten Juncker nach fast zwei Jahrzehnten als Premierminister von Luxemburg nicht mehr zu, den physischen und politischen Belastungen dieser Position noch gewachsen zu sein. Auch Merkel teilte diese Bedenken, aber Cameron sprach sie als Einziger offen aus. «Wir werden dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt», hatte Merkel ihm in einem privaten Gespräch zugesichert. Aber das politische Spielfeld in Deutschland verschob sich. Und mit ihm Kanzlerin Merkel. Cameron blieb auf verlorenem Posten zurück.

Vor dem Gipfel im Juni hatte Cameron den EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy in die Downing Street eingeladen. Das Geld für das Eurostar­ticket hätte sich Van Rompuy sparen können. Die Unterredung verlief derart miserabel, dass der Gast schon nach einer guten halben Stunde wieder aufbrach. «Ich glaube kaum, dass er sich das in Frankreich oder Deutschland erlauben würde», soll Cameron nach Aussage eines Anwesenden geschnaubt haben.

Als Cameron mit Van Rompuy auf den Stufen vor der Downing Street Nr. 10 erschien, soll er eine abschätzige Äusserung gegen die Deutschen gemacht haben, erfuhr ich in einem vertraulichen Gespräch mit einer damals anwesenden Person. Auf die Frage, ob der britische Premier sich von Deutschland im Stich gelassen oder gar hinters Licht geführt gefühlt habe, erhielt ich zur Antwort: «[Cameron] drückte sich weniger gewählt aus.»

Neutrale Mienen zum trostlosen Spiel: EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy (links) im Juni 2012 zu Besuch bei Premier David Cameron. Oli Scarff/Getty Images

Das Treffen bestätigte Camerons Eindruck, die Briten würden gegenüber den anderen europäischen Grossmächten als zweitrangig behandelt – und die Meinung der Briten einfach übergangen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass er die überwältigende Mehrheit gegen sich haben würde, beharrte Cameron darauf, Junckers Berufung im Rat der Staatschefs zur Abstimmung zu bringen.

Lieber wollte er mit wehenden Fahnen untergehen, als seinen Standpunkt nicht zu Gehör zu bringen.

Im Oktober war der nächste Gipfel anberaumt, eigentlich sollte es ein reines Routine­treffen werden. Aber es wurde mehr daraus. Noch während die politischen Führer in Brüssel eintrafen, enthüllte die «Financial Time», dass Grossbritannien laut EU-Budget-Planung für das kommende Haushalts­jahr rund 2,1 Milliarden Euro mehr an Brüssel überweisen musste als ursprünglich berechnet – zahlbar innerhalb der nächsten sechs Wochen. Die Summe ergab sich aus der an das Wirtschafts­wachstum angepassten Neuberechnung der nationalen Beiträge zur Finanzierung der EU. Zwar hatten auch andere Länder wie Italien, Griechenland, Zypern und die Niederlande eine neue Rechnung erhalten. Aber für die Briten war das politischer Zündstoff.

Seit Margaret Thatcher mit dem Schlachtruf «Ich will mein Geld zurück!» einen Rabatt auf die Zahlungen in den Brüsseler EU-Haushalt erwirkte, gelten Budget­verhandlungen in Brüssel als Bewährungs­probe für Gross­britanniens konservative Premier­minister. Unser Bericht über die neue Rechnung sorgte in fünf britischen Tages­zeitungen für Schlagzeilen. Ein «absolut erboster» Cameron vereinbarte kurzerhand Termine mit anderen Staats- und Regierungs­chefs. «Wer sich einbildet, ich würde diese Rechnung bezahlen, kann sich auf etwas gefasst machen», drohte er auf einer Medienkonferenz.

Das Gerücht ging um, jemand aus der EU-Bürokratie habe diese Information gezielt und mit böser Absicht an die Medien weitergegeben. In Wirklichkeit hatte meine Quelle mir das Dokument überreicht, um eine ganz andere Frage zu beantworten und ohne auch nur zu ahnen, welche Folgen es auslösen würde. Der Journalist in mir war begeistert. Das Timing war perfekt, die Fakten­lage klar. Aber bei einer Meinungs­umfrage eine Woche später hatten die Befürworter eines Austritts aus der EU um neun Punkte zugelegt.

Auch im Rückblick halte ich es noch für richtig, den Artikel geschrieben zu haben. Aber er hat mir aufgezeigt, was für unvorhersehbare Folgen eine Bericht­erstattung manchmal haben kann.

Am Gipfel bahnte sich derweil noch Grösseres an. Cameron brachte Merkel gegenüber die Idee einer «Notbremse» ins Spiel. Der Grundsatz der Freizügigkeit von Arbeit­nehmern in der EU sollte untergraben werden – Cameron wollte die Einwanderung aus europäischen Ländern nach Grossbritannien begrenzen. Es war Camerons Versuch, sich innenpolitisch vor Angriffen von rechts durch die erstarkende Ukip zu schützen.

Die deutsche Kanzlerin drückt sich nicht immer klar aus. Aber diesmal liess die Antwort zu Camerons Forderungen wenig Spielraum für Missverständnisse: «Nein, nein, nein.»

Ein Zeuge des Gesprächs berichtet, Merkel habe Cameron gefragt, was eigentlich sein Problem sei: Sie selbst würde sich freuen, wenn mehr Arbeits­kräfte in ihr Land kämen. Cameron gab nach.

Was beide nicht ahnten: Die wirklichen Probleme standen erst bevor.

Der Türkei-Deal

Lange schien der brutale Krieg in Syrien weit weg. 2015 erreichte er mit voller Wucht Europa – und stellte alles auf den Kopf.

Innerhalb weniger Monate überschritten mehr als eine Million Asyl­bewerber zu Land und zu Wasser die Grenzen der EU. Hundert­tausende von ihnen befanden sich auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien, viele weitere kamen aus Afghanistan und dem Irak.

Die Flüchtlingskrise machte deutlich, wie unterschiedlich die Vorstellungen der EU-Mitglied­staaten in der Frage waren, wie man darauf reagieren müsse. Ungarn errichtete an der Grenze zu Serbien einen Stacheldrahtzaun und setzte Tränengas- und Wasser­werfer ein. Merkel erklärte alle syrischen Asyl­bewerber in Deutschland für willkommen, auch solche, die zuvor in ein anderes EU-Land eingereist waren.

Anfang 2016 hatte sich die Lage langsam wieder ein bisschen beruhigt. An den Grenzen entlang der Flüchtlings­routen wurden teilweise wieder Kontrollen durchgeführt. Das Projekt Europa schien jedoch in akuter Gefahr. Untergangs­vorhersagen mehrten sich. Grossbritannien war von all dem nur am Rand betroffen und erhielt wesentlich weniger Anträge auf Asyl als Deutschland, Italien, Ungarn oder Schweden. Aber das Referendum über den Verbleib in der EU stand vor der Tür.

Das konservative Wochen­magazin «The Spectator» titelte: «Stay or leave, Europe is sinking anyway».

Die Flüchtlings­krise machte mich persönlich betroffen. Meine Mutter ist Türkin, ich bin zeitweise in Ankara aufgewachsen. Der Leichnam von Alan Kurdi, dem syrischen Kleinkind, das zum Bild der Krise wurde, wurde in Gehdistanz zu unserem Sommer­haus an der türkischen Mittelmeer­küste angeschwemmt.

Ich war an der syrischen Grenze, auf griechischen Inseln und entlang der Flüchtlings­route unterwegs, um zu berichten. Und selbst wenn ich im fernen Brüssel meine Artikel schrieb, überwältigten mich gelegentlich die Gefühle.

Die Bedingungen auf den griechischen Inseln waren ein Skandal (und sind es weiterhin). Gleich anfangs war ich auf der griechischen Insel Kos auf eine Schar von Kindern gestossen, die in einem verlassenen, herunter­gekommenen Hotel ohne Wasser und Strom notdürftig untergebracht waren. Vor dem Haus griff Asma Drebas, eine Mutter aus Damaskus, verzweifelt nach meinem Arm um zu fragen, warum das Geld, das man ihr überwiesen hatte, immer noch nicht eingetroffen sei. «Sogar in Syrien funktioniert so was!» Das war im Juni 2015, und Drebas hatte, ohne es zu ahnen, im finanziellen Niemands­land der EU Zuflucht gefunden. Denn im hoch verschuldeten Griechenland war der Geldverkehr eingeschränkt.

Hier prallten die beiden grossen Tragödien Europas aufeinander.

Die EU stand vor enormen Heraus­forderungen. Einerseits erfüllte Europa den Auftrag, mit dem es nach dem Krieg angetreten war: den Frieden zu bewahren, Sicherheit zu gewährleisten und Schutz­suchenden Zuflucht zu gewähren. Andererseits zeigte sich, wie ungenügend es für diese Aufgaben gerüstet war, wie zögerlich, stümperhaft und uneins es dabei vorging.

Der Gipfel im März 2016 erwies sich als Wende­punkt. Eine Einigung kam wie gewöhnlich erst nach einer langen Nacht der Verhandlungen zustande, in der das Chaos zeitweise die Regie übernommen hatte.

Merkel wollte ein Abkommen von bestechender Einfachheit erreichen: Alle Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln eintrafen, sollten zurück in die «sichere» Türkei geschickt werden. Um die Migranten – und die Schmuggler – davon abzuhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen, sollte auf den griechischen Inseln eine Puffer­zone errichtet werden, die das Erreichen des europäischen Fest­landes erschwerte.

Am Vorabend der Beratungen hatten Merkel und der niederländische Regierungs­chef Mark Rutte den damaligen türkischen Minister­präsidenten Ahmet Davutoğlu getroffen, um Details für einen Deal zu besprechen. Sie hatten ihr Vorgehen nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt.

Ein Trio im Alleingang: Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu (links), sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Rand des EU-Gipfels 2016. Hakan Goktepe/Anadolu Agency/Getty Images

Die Aktion hinterliess bei den europäischen Partnern Fassungs­losigkeit. Ein schäumender EU-Ratspräsident Donald Tusk kommentierte das vor dem Plenum mit einer Referenz an George Orwell: «Auf meiner Farm sind alle Tiere gleich!»

Schliesslich einigte man sich dann doch auf einen Deal mit der Türkei. Es sei das erste Mal, dass eine EU-Entscheidung den Namen Real­politik verdiene, lobte ein hoher EU-Beamter.

Als das britische EU-Referendum im Juni abgehalten wurde, hatte sich die Flüchtlings­krise gelegt. Aber ihre politischen Folgen dauerten an. Kurz vor der Abstimmung präsentierte Farage das umstrittene «Breaking Point»-Plakat, auf dem eine lange Schlange von Migranten an der kroatisch-slowenischen Grenze zu sehen ist. Das Foto stammte aus dem Jahr 2015, die Überschrift lautete: «Die Grenze der Belastbarkeit: Die EU hat uns alle im Stich gelassen.» Ob das Motiv für den Ausgang des EU-Referendums ausschlag­gebend war, ist schwer zu sagen. Aber es verstärkte sicher den Eindruck vieler britischer Wähler, dass Europa ein Quell der Probleme sei, nicht der Hoffnung.

Von Brüssel aus betrachtet, ist es erstaunlich, wie taub Grossbritannien Anfang 2016 für alles jenseits seiner eigenen Belange war. Als ob es nicht schon genug gewesen wäre, dass die Migrations­frage die Staats- und Regierungs­chefs der EU vor eine Zerreiss­probe stellte. Nun zogen die Briten sie auch noch in ihre hausgemachte EU-Referendums-Krise mit hinein.

Im Februar waren Camerons Bemühungen um einen «New Deal» mit der EU – mit dem er sich den proeuropäischen Ausgang des Referendums zu sichern hoffte – nach langen Verhandlungen zum Abschluss gekommen. Seine sechsmonatige diplomatische Ochsen­tour, mit der er der EU neue Sonder­behandlungen für sein Land abzuringen versuchte, endete in einem Gerangel über vergleichsweise Banales. Zum Beispiel über den Anspruch auf Kindergeld von Arbeitern, deren Kinder in einem anderen EU-Land lebten. Die Ausgaben dafür beliefen sich auf rund 30 Millionen Pfund im Jahr – kaum mehr als ein Rundungs­fehler im britischen Staats­haushalt. Ein Delegations­mitglied vertraute mir an, Merkel sei mitten in den Verhandlungen vor Langeweile Pommes frites essen gegangen.

Der Brexit-Gipfel

In der Nacht nach dem britischen EU-Referendum fegte ein schwerer Sturm über Brüssel. Vollgepumpt mit Adrenalin machte ich mich morgens um vier per Fahrrad auf den Weg ins Büro.

Es sah so aus, als ob die «Leave»-Seite gewonnen hätte.

Ich hatte die ersten Meldungen über die historische Abstimmung geschrieben, da kamen plötzlich die Emotionen in mir hoch. Es war nicht glühender Idealismus für Europa. Auch nicht Wut über den Brexit. Es war ein Gefühl dafür, wie verdammt kompliziert das alles werden würde. Ein einzigartiges institutionelles Gefüge an Macht­verteilung, Gemeinschafts­recht und Binnen­markt musste nach vier Jahr­zehnten aufgelöst und neu sortiert werden.

Die Jahre an vergeudeter Zeit, die das alles in Anspruch nehmen würde.

Alles muss weg: Nach dem Besuch von David Cameron am EU-Hauptquartier wird die britische Flagge verräumt (28. Juni 2016). Thierry Charlier/AFP/Getty Images

Zwei Unterhaltungen sind mir aus den Monaten vor dem Referendum besonders in Erinnerung geblieben. «Wir wollen keine Revolution», hatte mir der Pro-Brexit-Politiker John Redwood versichert. Die Befreiung des Vereinigten Königreichs aus den Fesseln der EU könne an einem einzigen Tag vollzogen werden, ohne dass irgendwelche Probleme zu befürchten seien. Sir Ivan Rogers, der ständige Vertreter Grossbritanniens in der Europäischen Union, schätzte die Lage etwa zur gleichen Zeit vollkommen anders ein: Der Brexit werde eine jahrzehnte­lange Revolution. Und er werde «hunds­erbärmlich langweilige Detail­verhandlungen» in Gang setzen.

Es ist im Nachhinein nicht schwer zu sehen, wer von den beiden die Lage damals realistischer einschätzte.

Nun war der Brexit zwar beschlossene Sache, aber keiner wusste, was genau das jetzt bedeuten sollte. Die Briten hatten sich weder darauf vorbereitet – noch hatten sie einen Plan.

Nicht nur die Briten tappten im Dunkeln. Auch Brüssel stand noch eine längere Entdeckungs­reise bevor, um herauszufinden, wie die Trennung eines Mitglied­staates aus dem Gefüge zu vollziehen sei. In den ursprünglichen Bauplänen war so etwas nicht einmal vorgesehen.

Am Tag nach dem Brexit-Entscheid sagte mir ein hochrangiger EU-Beamter: «Jetzt stehen wir vor einer Million irrer Fragen – und Antworten sind noch in weiter Ferne.»

Doch wenn die EU sich auf eines versteht, dann sind es Prozesse. Und die kann sie schnell etablieren. Einen Grossteil davon hatte sie bereits vor der Abstimmung ausgearbeitet – die Beziehungen zu Brexit-Britannien genauso wie die Bedingungen für die Austritts­verhandlungen.

Als die Staats- und Regierungs­chefs der EU-Mitglied­staaten am 29. Juni 2016 – das Referendum lag erst wenige Tage zurück – zusammen­kamen, waren die groben Leitlinien für die Zukunft bereits festgezurrt. Und sie waren nicht zugunsten Londons.

Der EU ging es vor allem um Selbsterhaltung. Sie war wichtiger als alles andere. Die EU hatte den Brexit nicht gewollt, aber bei der Frage, unter welchen Bedingungen er sich vollziehen könnte, würde sie vorgeben, was möglich sei und was nicht. Auch die Britten hätten damals den weiteren Verlauf noch entscheidend beeinflussen können. Dafür hätten sie aber schnell auf Kurs kommen und Entscheidungen treffen müssen. (Wir wissen, wie das ausging.)

Die Tischgespräche beim letzten Gipfel­empfang im Beisein Camerons waren freundlich. Ein EU-Politiker sagte danach: «Über Tote soll man nur Gutes reden.»

Am nächsten Morgen fehlen die Briten beim Treffen der Staats- und Regierungs­chefs der EU-Mitglied­staaten. Viele, die damals im Raum waren, hatten bereits den Eindruck, dass ein Mitglied den Club verlassen hatte.

Ein Teilnehmer sagte: «Der Brexit ist Realität

Die Verlängerung

Seit einigen Jahren tagt der Europäische Rat im neuen Europa-Gebäude in Brüssel, auch bekannt als das «Weltraum-Ei». Auf Bildern vom Sitzungs­saal fallen die knallbunten, hellen Farben auf, die der belgische Designer für Teppiche, Decken und Türen gewählt hat.

Aber wenn man den Saal betritt, ist vor allem der Raum selbst frappierend.

Der runde Tisch ist so klein, dass die Politiker, die dort zusammensitzen, beinahe mit den Ellbogen aneinander­stossen. Für Nähe sorgt auch die beunruhigend gute Akustik. Stille wiegt schwer in diesem Raum.

Ich habe mir immer diese bedrückende Nähe vorgestellt, wenn ich an Theresa May gedacht habe. Wie sie da in diesem Raum sitzt, um das europaweit kritischste Publikum von ihren Brexit-Plänen zu überzeugen. Sie wich in den Verhandlungen selten von dem ab, was sie auch öffentlich sagte. Eine Strategie, die in solcher Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist.

Allein in Brüssel: Die damalige britische Premierministerin Theresa May wartet während des EU-Gipfels 2017 auf ihren Gesprächspartner Donald Tusk. Geert Vanden Wijngaert/AP/Getty Images

So geschehen auf dem Sonder­gipfel im April dieses Jahres, auf dem es um die Verschiebung des Austritts­termins für den Brexit ging. May war zuvor im britischen Unterhaus krachend damit gescheitert, eine Mehrheit für das Austritts­abkommen zu gewinnen, das sie mit der EU ausgehandelt hatte. Gross­britannien hatte bereits eine kurze Verschiebung gewährt bekommen. Nun wollte May eine zweite, vorderhand um eine Mehrheit im britischen Parlament für den Austrittsdeal zu schaffen.

Emmanuel Macron, der französische Präsident, war strikte dagegen.

Er glaubte, man müsse die Briten unter Zeitdruck setzen, um sich zwischen den Optionen zu entscheiden: dem vorliegenden Brexit-Deal zustimmen, den geplanten EU-Austritt abblasen oder einen Austritt ohne Vertrag riskieren. Der Sonder­gipfel beriet in Klein­gruppen darüber. Macron befand sich mit seiner Meinung in der Minderheit, aber liess sich durch nichts von seiner Position abbringen.

Donald Tusk vertrat den entgegen­gesetzten Standpunkt: Man solle die Frist auf ein Jahr verlängern, um nicht alle paar Wochen einen Sonder­gipfel zum Brexit einberufen zu müssen.

Die Stimmung an diesem Abend war angespannter als sonst. Die Gespräche verliefen in ungewöhnlich scharfem Ton. Im Anschluss an die Verhandlungen gab ein über Macrons Blockade­politik verärgerter EU-Politiker zu Protokoll, der französische Präsident sei «besoffen von seiner eigenen Macht».

Kanzlerin Merkel tat, was sie am liebsten tut, wenn die Dinge kompliziert und undurchsichtig werden: «auf Sicht fahren». Sie hielt es für das Sicherste, den Briten mehr Zeit zu gewähren. Es war überraschend, wie weit die Differenzen zwischen ihr und Macron an die Öffentlichkeit drangen.

Das Ergebnis wie so oft in Brüssel: ein Kompromiss. Das neue EU-Austritts-Datum war der 31. Oktober 2019.

Zum Schluss appellierte Ratspräsident Donald Tusk die Briten: «Bitte, verschwendet diese Zeit nicht.»

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