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Das Leben als Labor

Die Armutsforscherin Esther Duflo erhält gemeinsam mit zwei Kollegen den sogenannten Wirtschaftsnobelpreis. Das zeigt: Die Ökonomie wendet sich der realen Welt zu – endlich.

Von Olivia Kühni, 16.10.2019

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Der Anruf der Jury erreichte Esther Duflo, die an der US-Ostküste lebt, mitten in der Nacht. Wenige Minuten später sagte die Ökonomin einem Interviewer zwei Dinge: wie unglaublich viel ihre beiden Co-Preisträger zu ihrer Arbeit beigetragen hätten. Und dass sie hoffe, ihre Auszeichnung begeistere mehr Frauen für das Feld: «Die Wahrnehmung ist, dass sich die Wirtschafts­wissenschaften nicht um wirkliche Probleme im realen Leben kümmern. Ich hoffe, dass sich dies jetzt ändert.»

Beide Aussagen sind bezeichnend dafür, wie sich die Wirtschafts­wissenschaften verändert haben: Die Ökonomie wendet sich, nach Jahrzehnten der Modell­versessenheit, der Wirklichkeit zu. Und sie tut es mit völlig anderen Methoden als früher.

Der Preis für Wirtschafts­wissenschaften (in vielen Medien auch als «Wirtschaftsnobelpreis» bezeichnet, obwohl er nicht von der Nobelpreis-Jury vergeben wird) geht dieses Jahr mit Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer an drei Entwicklungs­ökonomen, die ihre ganze bisherige Karriere der Frage gewidmet haben, wie wir Armut bekämpfen können.

Es ist ein Signal, das an Bedeutung kaum zu überschätzen ist.

«Wir lernen alle gemeinsam»

Banerjee, Duflo und Kremer arbeiten auf eine Weise, die für eine Sozial­wissenschaft eigentlich selbstverständlich sein sollte, es in der Ökonomie aber viel zu lange nicht war: Sie beobachten Menschen, ihr Zusammenleben und die konkreten Auswirkungen von verschiedenen politischen Entscheiden. Oft verwenden sie dazu kontrollierte Experimente, wie man sie aus der Medizin kennt: zwei ähnliche Gruppen, wovon eine als Kontroll­gruppe dient. Was passiert, beispielsweise, wenn Malarianetze gegen eine kleine Entschädigung verteilt werden statt kostenlos?

Die Ökonominnen arbeiten immer in Teams, immer direkt vor Ort und mit einer Demut, die sich manche Vertreter der Disziplin in der Vergangenheit nicht leisteten. «Wir lernen alle gemeinsam, wie die Welt funktioniert», sagt Banerjee. Das von Banerjee und Duflo gegründete Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bot als eine der ersten Institutionen weltweit kostenlose Online-Kurse an. Und seit zwei Jahren läuft ein Fernstudium, das Schülerinnen, Experten oder Lokal­politikerinnen aus der ganzen Welt ermöglicht, auch ohne Einkommen und Reise­möglichkeiten mit den Besten zu studieren.

Radikale Veränderung

Die Auszeichnung aus Stockholm – nebenbei: erst zum jeweils zweiten Mal an eine Frau und an einen gebürtigen Inder – kommt genau rechtzeitig.

Erstens, weil sie damit würdigt, wie radikal sich die Wirtschafts­wissenschaften tatsächlich verändert haben.

Noch 1983 widmeten sich rund 62 Prozent der ökonomischen Publikationen Theorien und mathematischen Modellen, wie Daniel Hamermesh von der University of Texas dargelegt hat; die Verfasser waren fast ausschliesslich männliche Einzel­autoren. Nicht wenige Berechnungen kamen gänzlich ohne Bezug zur Wirklichkeit aus. «Empirische Arbeit machst du dann, wenn du Theorie nicht mehr hinkriegst», zitiert Hamermesh einen Kollegen.

Das Ergebnis war eine Forscher­gemeinschaft, aus der viele, die sich für Mensch und Gesellschaft interessierten, nach ein paar Jahren Studium frustriert flüchteten. Darunter besonders viele Frauen. Das spiegelt sich in der Liste der bisherigen Preisträger: ausser dem Inder Amartya Sen (1998), dem Israeli Daniel Kahneman (2002) und der US-Amerikanerin Elinor Ostrom (2009) sind alle bisher Ausgezeichneten angloamerikanische oder europäische Männer.

Doch die Disziplin hat sich, erst schleichend und seit der Finanzkrise drastisch, gewandelt. Heute machen eigene Feldforschung und Labor­experimente 42 Prozent aller Publikationen aus; Theorie­papiere sind auf einen Anteil von 28 Prozent geschrumpft. Es publizieren mehr verschiedene Autoren, mehr Frauen, mehr Forscher über fünfzig und mehr Teams statt Einzelautoren.

Viele Ökonominnen befassen sich heute statt mit der Mathematik von Finanz­derivaten mit Themen wie Armut, Ungleichheit, Risiko, Innovation, mit den Auswirkungen des Klimawandels, der mangelnden Stabilität des Finanz­systems und vor allem: der konkreten Wirkung von politischen Entscheiden. Kurz: «mit den wichtigsten ökonomischen und sozialen Herausforderungen», wie es das Institute for New Economic Thinking (INET) der Universität Oxford zusammenfasst.

Dass die Jury den Wandel würdigt, ist aber auch aus einem zweiten Grund wichtig: Ökonomen haben Macht. Sie nehmen Einfluss auf die Regierenden wie kaum eine zweite Disziplin – wenn sich die Ökonomie verändert, stehen die Chancen gut, dass sich auch die Politik verändert.

Und das, um es in den Worten Duflos zu sagen, «stimmt uns hoffnungsfroh».

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