Slum neben Nobelquartier: Luftaufnahme von Dar es Salaam, Tansania. Johnny Miller

Ungleichheit ist kein Naturgesetz

Der französische Starökonom Thomas Piketty legt ein monumentales neues Werk vor. Es behandelt die Geschichte der Ungleichheit – und könnte selbst Geschichte schreiben.

Von Daniel Binswanger, 12.10.2019

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Welche Gesellschafts­ordnung ist erstrebens­wert? Welche Macht­strukturen sind legitim? Was ist gerecht? Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, die nicht darauf gründen würde, dass sie auf diese Fragen eine Antwort gibt – wie auch immer diese aussieht, wie implizit und unausgesprochen, wie unideologisch und pragmatisch auch immer das Selbst­verständnis dieser Gemeinschaft sein mag. Zumindest muss sie über ihre Gerechtigkeit eine Geschichte erzählen können, sei es nun als kühles Nutzen­kalkül, als religiöser Mythos, als strahlende Vision des Fortschritts.

Im Zentrum steht dabei immer, wie Ungleichheit begründet wird. Wie kann man es rechtfertigen, wenn über­bordender Reichtum zusammen­geht mit bitterer Not? Oder wenn Menschen andere Menschen gar als Sklaven zum Besitz haben? Wie ist es handkehrum zu verteidigen, wenn ein egalitäres Gesellschafts­modell die Bürger in Uniformität und Vermassung zwingt?

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation hält ein scheinbar unerschöpfliches Arsenal an Antworten bereit. Ungleichheit begründen, Ungleichheit verdammen: Das war schon immer die Haupt­funktion von politischen Ideologien. Was können wir lernen, wenn wir nicht nur auf die Geschichte der real existierenden Ungleichheit zurück­blicken, sondern auf ihre stetig wechselnden Begründungen? Was lernen wir daraus über unsere Zukunfts­perspektiven? Über unsere politischen Gestaltungsräume?

Gigantischer Datensatz, globale Analyse

Das sind die Leitfragen von «Capital et idéologie», dem neuen Monumental­werk von Thomas Piketty. Man kann die Bedeutung dieses Buches wohl gar nicht hoch genug schätzen: nicht nur deshalb, weil Piketty im letzten Kapitel ebenso ikono­klastische wie sorgfältig vorbereitete Vorschläge zur Transformation der Wirtschafts­ordnung und der Steuer­systeme macht. Die Vorschläge haben es in sich, wir werden darauf zurück­kommen.

Genauso wichtig ist jedoch der methodische Ansatz: dass Piketty seine Thesen entfaltet aus der Tiefe der historischen Entwicklung und aus der Breite der teils so unterschiedlichen, teils so ähnlichen Erfahrungen, die verschiedene Nationen und Kultur­kreise über die Jahrhunderte machten.

Zu Thomas Piketty

Eric Fougere/Getty Images

Der heute 48-jährige Franzose promovierte mit 22 in Wirtschafts­wissenschaften und wurde mit 26 Professor am Massachusetts Institute of Technology. Er ist Gründungs­direktor der Paris School of Economics, die sich nur schon mit ihrem Namen als Konkurrentin der London School of Economics positioniert. Rund dreihundert Forscher, hauptsächlich Ökonomen, aber auch Soziologen und Mathematiker, arbeiten hier. Piketty lancierte zudem die World Inequality Database, in deren Rahmen über hundert Wissenschaftler in über achtzig Ländern historische Daten über die Einkommens- und Vermögens­verteilung zusammen­tragen. Diese bilden unter anderem die Grundlage seiner Analysen. Mit der englischen Ausgabe seines Buchs «Das Kapital im 21. Jahrhundert» sorgte er 2014 international für Aufsehen.

«Um analytische Fortschritte zu erzielen», sagt Piketty in der Einleitung, «ist es nützlich, die Dynamiken über lange Zeit­räume und in verschiedenen Kontexten zu beobachten, insbesondere in Europa und in Indien, aber ganz allgemein in einer vergleichenden und trans­nationalen Perspektive.» Auch China, Japan, der Iran, Brasilien werden ausführlich beleuchtet. In seinem letzten Gross­opus «Das Kapital im 21. Jahr­hundert» hatte der französische Ökonom noch eine vornehmlich euro­zentrische Argumentations­basis.

Sein neues Werk entwickelt einen wirklich globalen Ansatz.

Piketty ist ein singulärer Glücks­fall eines Meister­denkers – ganz einfach deshalb, weil er in gewisser Weise als das exakte Gegenteil eines Meister­denkers gelten kann. Zuallererst ist er ein empirischer Wirtschafts­forscher, der auf der Basis von extensiven Daten und mit wissenschaftlicher Vorsicht argumentiert. «Dieses Buch wird sehr faktenreich sein», bemerkt er trocken in der Einleitung. Ermöglicht wird die erschlagende Daten­kompilation, auf der seine Forschungen beruhen, unter anderem von der World Inequality Database, die historische Daten über die Einkommens- und Vermögens­verteilung aufbereitet.

Nicht nur hat es bis anhin noch nie eine auch nur annähernd so umfassende Daten­basis zur Erforschung von Verteilungs­fragen gegeben. Das Forschungs­projekt ist auch insofern bahnbrechend, als es die Situation in Ländern erschliesst – zum Beispiel Russland oder die Staaten der Golf­region –, über die bisher praktisch keine zuverlässigen Statistiken vorlagen.

«Ungleichheit ist ideologisch und politisch»

Natürlich ist «Capital et idéologie» ein (nicht ganz einfach zu verdauendes) historisches Monumental­werk, aber es ist das Gegenteil einer Geschichts­philosophie. Hier werden keine abstrakten Annahmen getroffen – über das Wesen des Menschen, die Funktions­weise von Macht­systemen, die Natur ökonomischer Zwänge –, aus denen Welt­geschichte sich gleichsam extra­polieren liesse. Hier werden Erklärungs­modelle auf die Probe der Statistik gestellt, und es wird nachgezeichnet, wie sich die Erklärungs­modelle, die verschiedene Gesellschafts­systeme für ihre Verteilungs­strukturen entwickelten, über die Zeit verändert haben.

Der intellektuelle Habitus von Piketty ist undoktrinär und offen – was man von den Abwehr­reaktionen, die er bei seinen Gegnern auszulösen pflegt, nicht unbedingt behaupten kann. In gewisser Weise mutet «Capital et idéologie» weniger an wie eine polit­ökonomische Universal­theorie als wie der mitreissende Beschrieb eines gigantischen Forschungs­projekts. Insbesondere seine Herleitungen ideen­geschichtlicher Zusammen­hänge erscheinen immer wieder ausbau­fähig, und von vornherein steht fest, dass die Fach­wissenschaften an vielen Stellen dieses Buches, das eine schwindel­erregende Anzahl von Forschungs­feldern abdeckt, so einiges zu mäkeln finden werden. Trotzdem oder genau deshalb darf man wetten, dass es eine ganze Forscher­generation inspirieren wird.

Weshalb mutet Piketty, dem es im Kern um eine umfassende Gegenwarts­diagnose und um die Entwicklung von politischen Zukunfts­szenarien geht, dem Leser eine solche Masse an historischen Rück­blenden zu? Weil nur historische Aufklärung das Bewusstsein schaffen kann, dass ökonomische Verhältnisse nicht von Natur­gesetzen diktiert werden: «Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch. Das ist der offensichtlichste Schluss, den man aus der hier vorgestellten historischen Untersuchung ziehen muss. Der Markt und der Wettbewerb, der Profit und die Löhne, das Kapital und die Schulden, hoch und niedrig qualifizierte Arbeits­kräfte, Staats­bürger und Ausländer, die Steuer­paradiese und die Konkurrenz­fähigkeit – nichts von alledem ist naturgegeben. Es handelt sich um soziale und sich historisch wandelnde Konstrukte, die vollständig vom Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politik­system abhängen, das zu errichten man sich entschieden hat, und von den Kategorisierungen, auf welche die Gesellschaft sich abstützt.»

Die entscheidenden Fragen

Jenseits aller historischen Tiefen­schürfungen und kultur­anthropologischen Exkursionen tut Piketty in seinem neuen Buch vor allem eins: Er stellt die relevanten Fragen. Die Fragen, die so grundlegend und simpel sind, dass sie im Grunde den Horizont jeder Stammtisch­diskussion bestimmen.

Warum ist in den meisten Teilen der westlichen Welt der Sozial­staat heute auf dem Rückzug und die Ungleichheit am Wachsen? Liegt das an der Globalisierung, der Wirtschafts­entwicklung? Ist es eine Notwendigkeit, oder liegt es an der Politik? War das, was Piketty als die «sozial­demokratische Periode» bezeichnet, das heisst die Zeit von 1950 bis 1980, während der die Industrie­staaten einen starken sozialen Ausgleich mit einem dynamischen Wirtschafts­wachstum verbinden konnten, eine historische Ausnahme­situation, von der wir uns verabschieden müssen? Oder sollte sie weiterhin als gesellschaftliches Ideal gelten?

Warum sind rund um den Globus die klassischen sozial­demokratischen Parteien tendenziell auf dem Rückzug und die rechts­populistischen Kräfte im Hoch? Liegt es daran, dass rechte Themen wie die Migration oder der clash of civilizations dominanter werden, oder haben sich die Links­parteien verändert? Gibt es unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung überhaupt einen plausiblen Gesellschafts­entwurf von linker Seite, oder wird die Sozial­demokratie auf lange Sicht in der Defensive bleiben?

Das sind die Dinge, die Piketty zu klären versucht. John Maynard Keynes hat einmal gesagt: «Nüchterne Männer, die sich selber als immun gegen jede intellektuelle Beeinflussung betrachten, sind in der Regel nichts als die geistigen Sklaven eines schon lange verstorbenen Ökonomen.» Pikettys Buch ist wie die monumentale Beweis­führung zu diesem Bonmot: Ideen, die sich zu ideologischen Systemen organisieren, haben eine gewaltige Macht. Die soziale Wirklichkeit wird nicht von objektiven Gesetzen bestimmt, sondern zu guten Teilen dadurch, wie wir sie interpretieren – und aufgrund dieser Interpretation gestalten wollen. Nichts kann deshalb wichtiger sein, als die Herkunft dieser Ideen zu verstehen.

Vom Feudalismus zur Neo-Eigentumsgesellschaft

«Capital et idéologie» gliedert seine Analysen in vier historische Haupt­etappen: Ein primärer Fokus liegt auf dem 19. Jahr­hundert, der Periode der Heraus­bildung der bürgerlichen Welt und des modernen Rechts­staates, aber auch des Kolonialismus, der blutig umkämpften Abschaffung der Sklaverei, der extremen Ungleichheit. Piketty nennt es die Periode der «Eigentümer­gesellschaft» (société propriétariste). Es ist die historische Phase, in der die moderne Konzeption von Privat­eigentum und die Trennung der privaten und der politischen Sphäre zum Angel­punkt der sozialen Ordnung wurden. Noch heute ruhen unsere Vorstellungen von Demokratie, von Staatlichkeit und von Recht auf der Welt­anschauung, die sich im Rahmen der Eigentümer­gesellschaft heraus­gebildet hat.

Um die Ideologie des 19. Jahr­hunderts zu verstehen, schaltet Piketty jedoch eine zusätzliche Etappe vor. Analysen der ökonomischen und sozialen Struktur der feudalen Standes­gesellschaft, die der bürgerlichen Eigentums­gesellschaft voranging, liefern einen Vergleichs­punkt, der nachvollziehbar macht, was sich mit der Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Feudal­system verändert hat – und was sich nicht verändert hat. Nach Piketty hat die Emanzipation des Bürgertums sehr viel bescheidenere Fortschritte gebracht, als der Epochen­bruch der Französischen Revolution erwarten liess.

Doch auch die Blütezeit der Eigentümer­gesellschaft kommt 1914 an ein Ende. Die Schocks zweier Welt­kriege und der Welt­wirtschafts­krise liquidieren dieses Regime schliesslich – und führen über in die Epoche der Nach­kriegszeit, in den kalten Krieg der sozialistisch-kapitalistischen System­konkurrenz, in die Dekolonisierung und in einen gewissen «sozial­demokratischen» Grund­konsens, der für alle westlichen Industrie­gesellschaften bestimmend wurde. Die Ungleichheit verringerte sich plötzlich auf eine historisch einmalige, erklärungs­bedürftige Weise: Was war die Basis für den neuen gesellschaftlichen Grund­konsens, der nicht nur von der Linken, sondern vom gesamten demokratischen Parteien­spektrum mitgetragen wurde und sich auch dort durchsetzte, wo die Linke nicht an der Macht war? Wie wurde er implementiert? Und weshalb ist auch die «sozial­demokratische Ära» an ein relativ abruptes Ende gekommen?

Ungleichheit nimmt wieder zu

Anteil der obersten 10 Prozent am Gesamteinkommen

Achse gekürzt190019401980202048 % USA36 % Europa42 % Japan204060 %

Europa = Durchschnitt aus Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden. Quelle: Thomas Piketty (2019)

Denn um 1980 kommt es erneut zu einem Epochen­bruch, und mit dem Untergang der Sowjet­union, der beschleunigten Globalisierung, der steigenden Mobilität des Kapitals, der sinkenden Steuer­macht der National­staaten und nicht zuletzt der sich in vielen Teilen der Welt wieder verstärkenden Ungleichheit beginnt eine neue, bis heute noch nicht abgeschlossene Periode. Piketty nennt sie die «Neo-Eigentümer­gesellschaft» (société néopropriétariste), eine Art Belle Époque auf Steroiden. Ob auch sie ihr Ende finden wird, in einem welt­umspannenden «dreissigjährigen» Krieg? Piketty ist überzeugt, dass es andere Optionen gibt. Aus seinen historischen Analysen destilliert er Vorschläge, die sich historisch bereits bewährt haben und die er für die Zukunft fruchtbar machen will. Was also sind die geschichtlichen Lektionen?

Was ist feudal?

Zunächst hält Piketty fest: Ganz so weit über die Feudal­gesellschaft sind wir trotz aller bürgerlichen Errungenschaften nicht hinaus­gekommen. Das hat zunächst damit zu tun, dass die soziale Mobilität in Feudal­gesellschaften zwar sehr reduziert, aber nicht gar so gering ist, wie das Prinzip des Geburts­adels es glauben machen könnte. Auch im alten Europa mussten sich die gesellschaftlichen Eliten ständig erneuern, weshalb es laufend zu neuen Nobilitierungen kam. Zeitweilig war der Anteil von Geistlichen und Adeligen in verschiedenen europäischen Ländern bemerkens­wert hoch. Der Feudalismus war nicht die Herrschaft des einen über die 99 Prozent, eher schon der 10 über die 90 Prozent. Die Eliten­bildung war in einiger Hinsicht nicht viel «aristokratischer», als es auch im 19. Jahr­hundert üblich blieb.

Zweitens lebte das feudale Standes­denken von der Vorstellung einer organischen Harmonie zwischen den Geistlichen (dem Kopf), den Feudal­herren (dem bewaffneten Arm) und der herstellenden und handelnden Bevölkerung (dem Magen). Der dritte Stand hatte zwar nicht die Privilegien des Klerus und des Adels, aber er wurde nicht eigentlich als subaltern betrachtet. Seine Emanzipation kann wie die natürliche Fortentwicklung der feudalistischen Gesellschafts­lehre aufgefasst werden – auch wenn sein Sieg den Feudalismus hinwegfegen sollte.

Drittens zeigt Piketty mit detaillierten Rekonstruktionen, dass die Französische Revolution in einer Hinsicht weitgehend versagte: bei der materiellen Umverteilung. Die Ungleichheit wurde durch die bürgerliche Emanzipation kaum angetastet.

Die Sakralisierung des Eigentums

Abgeschafft wurden mit der Emanzipation des dritten Standes natürlich die Adels­privilegien. Den Fron­dienst etwa, den die unfreien Bauern dem Lehens­herren schuldeten, betrachteten die Revolutionäre als nicht mehr statthaft: Verfügungs­gewalt über die Arbeits­kraft von Unter­tanen war ein klassisches aristokratisches Privileg, das in einem modernen Staat nichts zu suchen hatte. Aber der Frondienst wurde nicht ersatzlos gestrichen. Er wurde stattdessen umgewandelt in eine Miet­zahlung. Schliesslich galt im alten Lehens­system der Fron­dienst als eine Art Pacht für die Bewirtschaftung von Land. Er hatte einen konkreten Geld­wert, der auf einem Besitz­anspruch des Adels über sein Territorium beruhte. So sehr die Revolutionäre die Adels­privilegien abschaffen wollten: Dieses Pacht­verhältnis haben sie respektiert – sonst wäre nicht ein politisches Privileg, sondern ein Eigentums­recht angetastet worden.

Piketty zeichnet die Abwägung zwischen abzuschaffendem Adels­privileg und zu schützendem Privat­eigentum in verschiedenen rechtlichen Kontexten nach und kommt zu einem vernichtenden Verdikt über die bürgerliche Überwindung der feudalen Standes­gesellschaft. Der Preis, den die aufklärerischen Kräfte für die Säkularisierung des politischen Systems bezahlt haben, war nach Piketty die Sakralisierung des Privat­eigentums: «Vom Augenblick an, wo man das Schema der Dreistände­gesellschaft aufgibt, das ja weitgehend auf einem transzendenten, religiösen Fundament ruht, muss man neue Antworten finden, um gesellschaftliche Stabilität zu garantieren. Die Sakralisierung des Eigentums ist in gewisser Weise eine Reaktion auf das Ende von Religion als expliziter politischer Ideologie.»

In dieser Sakralisierung des Eigentums erblickt Piketty den Kern der das 19. Jahr­hundert beherrschenden liberalen Geistes­haltung. Und sie treibt Blüten, die noch viel absurder sind als die Unfähigkeit der Französischen Revolution, nebst den Adels­privilegien auch nur die aller­exzessivsten Formen der Ungleichheit zu überwinden. Insbesondere schafft sie die grössten Schwierigkeiten für die Abschaffung der Sklaverei.

Erst im 20. Jahrhundert sank die Ungleichheit

Anteil am Gesamtvermögen von Frankreich

178018601935201523 % Oberstes Prozent6 % Unterste 50 Prozent03060 %

Quelle: Thomas Piketty (2019)

In verschiedenen Ländern führte die Frage der Sklaverei im 19. Jahr­hundert zu erbitterten Auseinander­setzungen, in den USA gar zum Bürger­krieg. Was weniger bekannt ist: Auch in anderen Ländern wurde die Sklaven­emanzipation von verblüffenden Verwerfungen begleitet. Grossbritannien zum Beispiel ging seiner Zeit voraus und erliess 1833 ein Gesetz, das die Sklaverei verbot und den ehemaligen Sklaven die vollen Bürger­rechte verlieh. Doch es wurde noch etwas Weiteres mit dem Gesetz beschlossen: Die vormaligen Sklaven­besitzer wurden vom Staat in vollem Umfang entschädigt, in Höhe des Markt­wertes der Frei­gelassenen. Rund viertausend Sklaven­besitzer erhielten 20 Millionen Pfund Entschädigung für etwa 800’000 Sklaven – eine gigantische Summe, die damals 5 Prozent des britischen BIP ausmachte. Um das in Relation zu setzen: Die öffentlichen Ausgaben Grossbritanniens für das gesamte Bildungs­wesen betrugen damals 0,5 Prozent des BIP.

Auch hier sollte das heilige Tabu gelten, dass Eigentums­rechte unbedingt respektiert werden mussten. Sklaven­halter durften nicht enteignet werden, «nur» weil sie ihr Kapital in Sklaven statt in Ländereien oder Aktien investiert hatten. Zwar herrschte Konsens darüber, dass Sklaverei mit den Menschen­rechten nicht vereinbar sei und eine unzulässige Form der Ausbeutung darstelle. Über finanzielle Wiedergut­machung für die Betroffenen wurde jedoch gar nicht erst geredet. Sie hatten ihrem eigenen Leben gegenüber keinen Eigentums­anspruch, dem man eine Abgeltung zuweisen konnte.

Ein nicht minder wahnwitziges Kapitel der Kollision von Eigentums­prinzip und Sklaven­emanzipation, das Piketty im Detail analysiert, ist die Geschichte von Haiti – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bis ins 20. Jahr­hundert hineinzieht. 1794, auf dem Höhe­punkt der Französischen Revolution, wurde im ganzen französischen Kolonial­reich die Sklaverei abgeschafft. Bereits 1802 restaurierte Napoleon allerdings die Eigentums­rechte der Plantagen­besitzer, und die Emanzipation wurde wieder rückgängig gemacht. Einzige Ausnahme war Haiti, die bisherige französische Kolonie Saint-Domingue: Die befreiten Insel­bewohner besiegten Napoleons Expeditions­armee, und Haiti erklärte sich 1804 für unabhängig.

Doch auch die souverän gewordene Ex-Kolonie musste sich freikaufen. Durch eine See­blockade und ständige Invasions­drohungen brachte Frankreich Haiti 1824 dazu, für die Befreiung seiner Bevölkerung «Reparations­zahlungen» zu garantieren, und zwar in Höhe von sagenhaften 300 Prozent des damaligen BIP des Insel­staats. Die Zahlungen wurden auch geleistet – bis ins Jahr 1951. Alles im Namen des Eigentumsprinzips.

Piketty vollzieht seine ideologische Dekonstruktion der Eigentümer­gesellschaft in den verschiedensten Themen­feldern der Geschichte des 19. Jahr­hunderts: der Amerikanische Bürger­krieg, die britische Kolonisierung des indischen Subkontinents, die Entwicklung des Wahl­rechts in verschiedenen europäischen Ländern. Die fundamentale Basis seines Arguments ist jedoch die Ungleichheits­entwicklung, die er mit besonderer Sorgfalt in Frankreich, aber auch in Schweden und in Grossbritannien aufzeigt. Auf der Ebene des materiellen Ausgleichs ist die Bilanz der Eigentümer­gesellschaft des 19. Jahr­hunderts sehr simpel: Die französische Revolution blieb schlicht und einfach folgenlos. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die Ungleichheit noch stärker als in der letzten Phase des Ancien Régime. Es war unausweichlich, dass die Eigentums­gesellschaft an eine Grenze stossen würde. Sie wurde erreicht mit dem Ersten Weltkrieg.

Das goldene Zeitalter der Mittelstandsgesellschaft

Der wirkliche Fortschritt mit Bezug auf die Verteilungs­gerechtigkeit – es sei denn, man betrachtet das Ancien Régime als vorbildlich – kam mit den Turbulenzen der Weltkriegs­jahrzehnte, die den Boden für die «sozial­demokratische Phase» bereiteten. Der in der Zeit von 1914 bis 1945 stattfindende Rückgang der Einkommens- und Vermögens­disparitäten war spektakulär, in diesen Dimensionen noch nie da gewesen.

Pikettys Analyse dieser Phase konzentriert sich hauptsächlich auf zwei Aspekte:

  1. Wie muss die Einebnung erklärt werden? Ist es die Vermögens­zerstörung durch die Welt­kriege, sind es andere Faktoren?

  2. Wie ist es gelungen, die Einkommens- und Vermögens­verteilung in den Friedens­zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg über dreissig Jahre relativ stabil zu halten?

Die Antwort auf die erste Frage ist eindeutig: Nein, es waren nicht die Kriege. Es waren nicht die Flächen­bombardemente und die Verwüstungen, jedenfalls nicht primär. Ihr Beitrag zur Vermögens­vernichtung, die sich in den Weltkriegs­jahrzehnten vollzog, beziffert Piketty für Deutschland und Frankreich auf 25 bis 30, für England lediglich auf ein paar Prozent.

Einen viel substanzielleren Beitrag leisteten die sich häufenden Staats­pleiten, die im 19. Jahr­hundert fast gar nicht vorkamen, weil sie stets um jeden Preis vermieden wurden; die starke Inflation, welche zur Entwertung von Schulden und Schuld­titeln führt; die Enteignungen und Verstaatlichungen; politische Preis­kontroll­massnahmen wie Miet­preis­bindungen, welche den Immobilien­besitz entwerteten – und schliesslich der explosions­artige Anstieg der Steuern. Es waren nicht die physischen Zerstörungen der Kriege, sondern politische Entscheidungen, die in die «sozial­demokratische Phase» führten. Viele dieser Entscheidungen wurden aus der Not geboren und konnten nur in einer Krisen­situation so gefällt werden. Aber sie waren nicht alternativlos. Eine andere Geld-, Steuer- und Schulden­politik wäre denkbar geblieben.

Genau dasselbe gilt für die Erklärung, weshalb die nach den globalen Krisen­jahren herrschende Einkommens- und Vermögens­verteilung, die 1950 so ausgeglichen war, wie es zuvor noch nie in der modernen Geschichte der Fall gewesen ist, über dreissig Jahre stabil blieb, trotz eines extrem dynamischen Wirtschafts­wachstums. Für diese verblüffende Tatsache gibt es eigentlich nur einen, inzwischen jedoch weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängten Grund: Steuern, Steuern und nochmals Steuern.

Topverdiener zahlen weniger Steuern

Grenzsteuersatz für die obersten Einkommen

190019401980201956 % Japan50 % Europa37 % USA050100 %

Europa = Durchschnitt aus Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden. Quelle: Thomas Piketty (2019)

Die «sozialdemokratische Phase» war in ihrem Kern die Phase der stark progressiven Einkommens- und Erbschafts­steuern. Im goldenen Zeitalter der Mittelstands­gesellschaft wurden die Reichstums­eliten massiv zur Kasse gebeten und die Unter­schichten nur sehr mässig besteuert. Am ausgeprägtesten war das erstaunlicher­weise in den USA und Grossbritannien der Fall, zwei Ländern, die heute als paradigmatisch für die ausgeprägte Kultur der Ungleichheit im angelsächsischen Raum gelten. Zwischen 1932 und 1980 lag der höchste Grenzsatz für die Einkommens­steuer in den USA im Durchschnitt bei 81 Prozent, in Grossbritannien bei 89 Prozent. Bei der Erbschafts­steuer lag der oberste Grenz­steuersatz für dieselbe Periode in den USA im Durchschnitt bei 75 Prozent, in Grossbritannien bei 72 Prozent.

Ein weiteres bemerkenswertes Faktum, auf dem Piketty insistiert: Nicht nur die theoretischen, auch die faktischen Steuer­sätze lagen sehr hoch. Aufgrund der viel weniger offenen Kapital­märkte war Steuer­vermeidung damals wesentlich schwieriger als heute. Es ist sogar so, dass die Wissenschaft über die Vermögens­verteilung in den Dreissiger- oder den Fünfziger­jahren viel präzisere Daten hat als über die heutigen Verteilungs­strukturen, für deren Bestimmung ständig Rekurs genommen werden muss auf prekäre Schätzungen des nicht deklarierten Kapitals.

Erst Anfang der Achtziger­jahre hat steuer­politisch die grosse Trend­wende eingesetzt: Die unteren Einkommens­schichten werden seither deutlich höher, die Reichtums­eliten hingegen dramatisch niedriger besteuert.

Die «Steuer­schere» hat sich zu schliessen begonnen. Die Einkommens­schere geht immer weiter auf.

Das Neo-Eigentumsprinzip

Was ist passiert? Wie konnte die westliche Welt allmählich wieder in einer Neo-Eigentums­gesellschaft landen? Ein entscheidender Faktor ist der Untergang der Sowjet­union. Eindrückliche Kapitel schreibt Piketty über die post­kommunistischen Länder als Laboratorien des Hyper­kapitalismus. Seine ausführlichsten Analysen gelten jedoch den Transformationen innerhalb der Wählerschaft der westlichen Industrie­länder.

Zwei massive Veränderungen lassen sich überall feststellen:

  1. Die Wahlbeteiligung sinkt, und zwar in asymmetrischer Form. In den oberen Schichten bleibt die politische Teilnahme relativ konstant, bei den unteren Schichten schwindet sie. Offenbar wird den Unter­schichten kein politisches Angebot mehr gemacht, das sie weiterhin auf breiter Basis mobilisieren kann.

  2. In der Wählerschaft haben sich spektakuläre soziologische Verschiebungen vollzogen. Piketty nennt sie «die Umdrehung der Bildungsspaltung».

Bis Anfang der Achtziger­jahre waren linke Parteien die Parteien der Niedrig­qualifizierten. Je geringer der Bildungs­grad der Wähler, desto stärker war ihre Neigung, links zu wählen. Hoch qualifizierte Akademiker dagegen wählten mit sehr deutlicher Mehrheit konservativ. Über die letzten dreissig, vierzig Jahre hat sich diese Spaltung jedoch in ihr Gegenteil umgedreht, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Grossbritannien und in den USA. Auch für die Schweiz gibt es Studien, die diesen Trend belegen und die Piketty am Rand berührt. Die Niedrig­qualifizierten wählen heute mehrheitlich rechts, die Linke erzielt die höchste Zustimmung bei den akademischen Eliten. Linke Parteien haben die Unter­schichten zu guten Teilen verloren und sind nun die Vertreter der akademischen Mittel­schicht und der Bildungseliten.

Hochqualifizierte wählen öfter links ...

Stimmenanteil linker Parteien bei Hochqualifizierten im Vergleich zum Rest

19481980201723 % USA12 % Grossbritannien15 % Frankreich−30−1501530 %

Lesebeispiel: 2016 lag der Wähler­anteil der Demokraten unter den 10 Prozent der am besten ausgebildeten Amerikaner 23 Prozent über dem Wähler­anteil der Demokraten beim Rest der Bevölkerung. In Frankreich: Wähleranteil der linken Parteien. In Grossbritannien: Wähleranteil von Labour. Quelle: Thomas Piketty (2019)

... auch in der Schweiz

Stimmenanteil linker Parteien bei Hochqualifizierten im Vergleich zum Rest

1970–79−4 % 1980–891 % 1990–995 % 2000–0910 % 2010–1915 %

Differenz des Wähler­anteils der linken und grünen Parteien bei Hoch­qualifizierten gegenüber dem Wähler­anteil beim Rest der Bevölkerung. Quelle: Thomas Piketty (2019)

Piketty prägt für dieses Phänomen den Begriff der «Brahmanen-Linken». De facto gründet ihr heutiger Erfolg auf der Kaste der Bildungs­elite. Begründet sieht Piketty diese Entwicklung hauptsächlich in der abnehmenden sozialen Mobilität, insbesondere mit Bezug auf Bildungschancen.

In der Nachkriegs­zeit konnten die schlecht qualifizierten Unter­schichten darauf setzen, dass ihre Kinder vom starken Ausbau der sekundären und tertiären Bildung profitieren würden. Die hohe Priorität, die Links­parteien dem staatlichen Bildungs­auftrag immer eingeräumt haben, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihnen zugute­kommen. Heute erscheint das Bildungs­system sehr viel stärker wie ein Reproduktions­mechanismus für die bestehenden akademischen Eliten. Die Kinder der Bildungs­verlierer unterliegen einem hohen Risiko, ihrerseits über den Stand der Niedrig­qualifiziertheit nicht hinauszukommen.

Das ist eine fundamentale Verschiebung, umso mehr, als der Staat in junge Bürger, die einen tertiären Abschluss machen, viel mehr Geld investiert als in solche, die nur eine niedrige Qualifikations­stufe erreichen. Diese Bildungs­ungerechtigkeit – die Tatsache, dass in die künftigen Eliten massiv mehr investiert wird als in weniger erfolgreiche Auszubildende – betrachtet Piketty als einen der zentralen Gründe für die «Scheidung zwischen der Linken und der Unterschicht». Er plädiert deshalb für eine sozial ausgeglichenere Streuung von Bildungs­ausgaben. Auch in Jugendliche mit niedrigerem Qualifikations­niveau kann sinnvoll investiert werden, damit sie in der heutigen Dienstleistungs­gesellschaft erfolgreicher werden.

In zwei Konfliktlinien denken

Am eindringlichsten warnt Piketty jedoch davor, die soziologischen Verschiebungen innerhalb der Wählerschaft zu eindimensional zu betrachten. Häufig stehen sich in den heutigen Debatten zwei grundsätzlich verschiedene Analyse­raster gegenüber: Klassen­kampf oder Identität. Es wird entweder davon ausgegangen, dass immer noch die Klassen­frage entscheidend ist. Dann werden die politischen Konflikte als vom ökonomischen Gefälle bestimmt betrachtet, von der Frage, ob man die Interessen der oberen oder der unteren Einkommens­kategorien vertritt. Oder aber es wird die Prämisse gesetzt, dass die entscheidenden Differenzen heute gesellschafts­politischer Natur seien, dass der Gegensatz von progressiv und konservativ, offen und geschlossen, der Unterschied zwischen Bejahung und Ablehnung der Migration, zwischen Inter­nationalismus und Nationalismus die politischen Lager strukturiere.

Piketty kommt jedoch zum Schluss, dass weder die Klassen­frage noch die Offenheits­frage eine vorrangige politische Konflikt­linie definiere. Womit wir es zu tun haben, sind zwei gleich­berechtigte Gegensatz­paare, deren Kombination zu vier relativ ausgeglichen starken Blöcken führt: soziale Internationalisten, soziale Nationalisten, elitäre Internationalisten, elitäre Nationalisten.

Am Beispiel der letzten französischen Präsidentschafts­wahlen erläutert Piketty im Detail, welche konkreten politischen Strömungen man diesen Lagern zuordnen kann:

  • Den sozialen Internationalismus sieht er bei Mélenchon und dem Parti socialiste verortet, die sich zwar für Europa, aber dezidiert nur für ein soziales Europa starkgemacht haben (im Fall Mélenchons inklusive der Drohung, aus der EU auszutreten, falls Deutschland keine sozialen Reformen akzeptiere).

  • Den sozialen Nationalismus schreibt er Marine Le Pen zu, die massiv auf Ausländer­feindlichkeit, aber ebenso stark auf Umverteilung – höhere Renten, höhere Sozial­leistungen, höhere Löhne – an die französische Unterschicht setzt (so, wie es Trump in seiner Rhetorik – und nur in seiner Rhetorik – ebenfalls tut).

  • Der elitäre Internationalismus wird von Macron vertreten, der einerseits mit seinem starken proeuropäischen Engagement, andererseits mit Steuer­senkungen für die französische Ober­schicht hervorgetreten ist.

  • Der elitäre Nationalismus schliesslich findet sich bei François Fillon wieder, der als klassischer konservativer Rechts­politiker auftrat, migrations­politisch hart, gemässigt EU-skeptisch und besonders beliebt bei Frankreichs ökonomischen Eliten.

Die vier Blöcke können je etwa ein Viertel des Elektorats an sich binden und nicht allein, sondern nur in wechselnden Allianzen regieren. Das ist aus Pikettys Sicht der Grund, weshalb in Frankreich wie in vielen anderen Ländern das Parteien­system so unstabil geworden ist. Es fehlt der dominierende Grund­konflikt. Es gibt jetzt deren zwei.

Als hoch problematisch erscheint aus dieser Perspektive der Versuch, den Klassen­konflikt, das heisst die politische Konfrontation zwischen unteren und oberen Einkommens­schichten, für überwunden und irrelevant zu erklären – so, wie dies politische Bewegungen tun, die behaupten, es gebe nur noch progressiv und konservativ als fundamentales Gegensatz­paar. «Die binäre Auffassung des politischen Konfliktes, die jenen zugute­kommt, die auf diese Weise ihre eigene Rolle ins Zentrum rücken, ist zugleich falsch und gefährlich», sagt Piketty. Sie stärkt zum einen die Position der Progressiven selbst, die ihre Gegner insgesamt als Rechts­populisten denunzieren. Sie ist aber in exakt symmetrischer Weise im Interesse der sozialen Nationalisten, die daraus das Argument ableiten können, alle ihre Gegner seien elitäre Globalisten.

Das ist nicht nur deshalb falsch, weil es in allen westlichen Demokratien ein Elektorat gibt, das sich sowohl dem Inter­nationalismus als auch der Gleichheit verpflichtet fühlt. «Die Rhetorik (der binären Auffassung) zielt natürlich darauf ab, die Progressiven für alle Ewigkeit an der Macht zu halten», sagt Piketty. «In Wirklichkeit riskiert sie aber, die Popularität der Nationalisten zu verstärken, besonders wenn es diesen gelingt, eine Form des sozialen Nationalismus zu entwickeln, das heisst eine Ideologie, die soziale und egalitäre Ziele verfolgt für die ‹im Land Geborenen› und den ‹nicht im Land Geborenen› mit harter Diskriminierung entgegentritt.» Eine progressive Politik, welche die Klassen­frage für überwunden erklärt und den Rechts­populismus zu ihrem exklusiven Gegner macht, läuft demnach Gefahr, ihm zum Sieg zu verhelfen. Auch in der Schweiz würden die progressiven Kräfte wohl gut daran tun, sich über Pikettys Analyse zu beugen.

Doch gibt es überhaupt eine Zukunfts­perspektive für einen nicht nationalistischen Egalitarismus?

Der Weg des partizipativen Sozialismus

Nicht zuletzt ist «Capital et idéologie» der Versuch des Entwurfs einer solchen linken Programmatik. Piketty hat sogar einen neuen Namen: partizipativer Sozialismus (den Terminus Sozial­demokratie hält er nach den Irrungen der 1990er-Jahre für zu beschädigt, als dass er ihn benutzen wollte). Sein Konzept ruht neben den dargelegten Vorschlägen zur Bildungs­politik auf drei Säulen:

  1. betriebliche Mitbestimmung,

  2. Verstaatlichung,

  3. Steuer­progression.

Alle drei Rezepte sind im 20. Jahr­hundert bereits extensiv erprobt worden. Worauf es ankommt, ist, sie in der richtigen Dosis einzusetzen.

Am wenigstens weit geht Piketty bei der Verstaatlichung. Zwar plädiert er für einen starken öffentlichen Sektor, aber nur in den klassischen Bereichen (Bildung, Gesundheit, Infra­struktur). Er insistiert vielmehr darauf, dass es die französischen und englischen Sozialisten stark behindert habe, ihr Heil über Jahrzehnte in der Verstaatlichung der Wirtschaft zu suchen und alle anderen Formen der partizipativen Organisation von wirtschaftlicher Macht zu vernachlässigen. Der traditionelle Sozialismus ist unter anderem daran gescheitert, dass er auf Verstaatlichung gesetzt hat.

Stattdessen möchte Piketty Formen der betrieblichen Mitbestimmung in den Fokus rücken und die in Deutschland und Skandinavien schon heute existierenden Mitbestimmungs­modelle weiterentwickeln. Für Betriebe bis zu einer bestimmten Grösse sollen die betrieblichen Stimm­rechte wie heute bei den Investoren liegen, für grosse Firmen will Piketty jedoch den maximal möglichen Stimmrechts­anteil von Einzel­aktionären limitieren. Es würde dazu führen, dass Konzerne sehr viel weniger oligarchisch geführt würden. Die in Nordeuropa gesammelten Erfahrungen deuten darauf hin, dass betriebliche Mitbestimmung sehr weit gehen kann, ohne die Effizienz der Unternehmens­führung zu gefährden. «Es besteht nicht der geringste Grund», sagt Piketty, «die Macht in Gross­betrieben für alle Ewigkeit in die Hände einer einzigen Person zu legen und sich der Vorteile einer kollektiven Deliberation zu berauben.»

Das Kernstück von Pikettys Erneuerungs­programm bildet jedoch das klassischste Umverteilungs­programm der Welt: Steuern. Er hält sowohl Einkommens- als auch Vermögens­steuern, die stark progressiv sind, für unabdingbar, um die Mittelstands­gesellschaft der «sozial­demokratischen Ära» zu restaurieren. Ohne massive steuerliche Eingriffe werden die Vermögens- und Einkommens­disparitäten unerbittlich weiter zunehmen.

Das Szenario der heilsamen Progression

Bei den Einkommen soll der oberste Satz 90 Prozent betragen, eine Massnahme, die aus heutiger Sicht wahnwitzig radikal erscheint, die aber in den Nachkriegs­jahren in angel­sächsischen Ländern dem normalen Standard entsprach und die erst bei extrem hohen, um den Faktor 10’000 über dem mittleren Einkommen liegenden Einkünften greifen würde. In der Schweiz entspräche das einem Jahres­einkommen von gegen einer Milliarde Franken.

Neuartig hingegen wären die Vermögens­steuern, deren Sätze so gestaltet wären, dass sie die Reichtums­eliten massiv zur Kasse bitten und die Vermögens­disparitäten stark reduzieren würden. Auch diese Steuer wäre gar nicht so innovativ: Sie träte an die Stelle der Erbschafts­steuer, die in vielen Ländern in der Nachkriegs­zeit ebenfalls sehr hoch gewesen ist. Piketty hält fest, dass es eigentlich nur darauf ankomme, die Steuer­sätze höher zu legen als die durchschnittliche Wachstums­rate von sehr grossen Vermögen (sie liegt deutlich höher als jene von bescheidenen Vermögen). Da Milliardäre heute, wie Piketty schon in «Das Kapital im 21. Jahrhundert» darlegte, einen durchschnittlichen jährlichen Vermögens­zuwachs von 4 bis 8 Prozent erzielen, sollten Vermögens­steuern mindestens bei 5 bis 10 Prozent liegen. Andernfalls wird die Vermögens­konzentration an der Spitze der Reichtums­pyramide konstant bleiben beziehungs­weise immer weiter zunehmen.

Was Piketty vorschwebt, ist nicht eine Steuer­hölle in noch nie dagewesenen Dimensionen: Die Gesamt­abgaben-Quote würde in seinem Modell bei 50 Prozent liegen, also dort, wo sie sich in einigen skandinavischen Ländern und in Frankreich schon heute befindet. Neu wäre lediglich, dass das Steuer­system wieder wirklich progressiv gestaltet sein soll – und dass die Einnahmen der Vermögens­steuer (in Höhe von 5 Prozent des BIP) für ein «bedingungs­loses Grund­kapital» verwendet würden, also für einen Kapital­betrag in Höhe von 60 Prozent des Durchschnitts­vermögens, der jedem Bürger an seinem 25. Geburtstag ausbezahlt würde. Damit könnte erreicht werden, woran auch die «sozial­demokratische Ära» gescheitert ist: die Demokratisierung nicht nur der Einkommen, sondern der Vermögen.

Denn die Vermögens­verteilung ist immer viel ungleicher gewesen als die Einkommens­verteilung, auch in der Nachkriegs­zeit. Insbesondere verfügen die unteren 50 Prozent in allen Demokratien über einen verschwindend geringen Anteil am Gesamt­vermögen. Die Hälfte der Bevölkerung hat in der Regel praktisch gar kein Kapital – und damit auch nicht die Lebens­chancen, Entwicklungs­möglichkeiten und wirtschaftlichen Perspektiven, die ein minimales Start­kapital eröffnet.

Piketty ist himmelweit entfernt von der Vorstellung einer Überwindung des Privat­eigentums. Im Gegenteil: An den Segnungen des Privat­eigentums soll auch die grosse Masse partizipieren können. Weder zweifelt er an seinen tugend­haften Effekten (Verantwortung), noch stellt er die Grund­prinzipien der Markt­wirtschaft infrage. Wogegen er sich stellt, sind die zerstörerischen Effekte von ausschliessender Überkonzentration.

Eigentum und Grenzen

Funktionieren können diese Vorschläge natürlich nur, wenn die offiziellen Steuer­raten nicht allzu weit weg liegen von den effektiv bezahlten Sätzen. Im Bereich der Vermögens­steuer hiesse dies, dass so etwas wie ein globaler Kataster für Finanz­vermögen angelegt werden müsste. Diese Forderung ist schon deshalb sinnfällig, weil bereits unter heutigen Bedingungen riesige Finanz­vermögen offshore angelegt werden und der Besteuerung auf legale oder illegale Weise entzogen sind.

Piketty legt dar, wie einfach es technisch wäre, dem ein Ende zu setzen. Über die Eigentümer von Finanz­vermögen wird schliesslich immer penibel Buch geführt, nur schon zur Sicherung der Besitz­ansprüche. Das Problem ist lediglich, dass diese Buch­führung nicht von staatlichen (wie bei den Grundbuch­einträgen, welche die Eigentümer­verhältnisse auf dem Immobilien­markt regeln), sondern von privaten Institutionen (Depositar­banken, Dienst­leister im internationalen Zahlungs­verkehr) besorgt wird, die gegenüber Steuer­behörden häufig nicht auskunfts­pflichtig sind. Für Piketty ein offensichtlicher Fall für Verstaatlichung.

Ein globaler Finanz­vermögens­kataster erscheint utopisch? Wer die heutige Welt betrachtet, wird das nicht ganz von der Hand weisen können. Allerdings ist es nicht nur aus pragmatischen Gründen einleuchtend, dass Piketty – der schon seit Jahren gemeinsam mit seinem Schüler Gabriel Zucman einen Kreuz­zug für Steuer­gerechtigkeit und gegen die Infra­struktur der Steuer­vermeidung führt – auf der internationalen Dimension des Problems insistiert.

Denn neben der Eigentums­ideologie ist das Problem der Grenze der Schlüssel zu den politischen Auseinander­setzungen unserer Epoche. Die Grenz­ziehungen sind die fundamentale Gegebenheit, die unsere Gestaltungs­räume definiert. Sie entscheiden über Ausländer- und Inländer­status, über Migration, über die Steuer­kraft der Staaten, über die Ausdehnung der Solidar­gemeinschaften. Stark integrierte supra­nationale Strukturen – zum Beispiel eine EU, die über Steuer­hoheit und ein substanzielles Budget verfügt – sind nach Piketty unumgänglich in einer Welt, in der Kapital­ströme weitgehend ungehindert fliessen. «Die einzige zufrieden­stellende Antwort», sagt Piketty, «besteht darin, eine transnationale Theorie der Demokratie zu entwickeln, die auf einem sozialen, demokratischen Föderalismus und der Ausbildung sozio­ökonomischer Gerechtigkeits­normen auf regionaler und globaler Ebene beruht. Das ist alles andere als eine einfache Aufgabe, aber es gibt dazu eigentlich keine Alternative.» Einen entsprechenden Versuch hat Piketty als europa­politischer Berater von Benoît Hamon gemacht, dem sozialistischen Kandidaten bei den letzten französischen Präsidentschafts­wahlen. Allerdings ohne Erfolg.

Die Furcht vor der «Büchse der Pandora»

Es gibt in Pikettys voluminösem Opus zwei sprachliche Ausdrücke, die auffällig oft wiederkehren. Der eine ist «Abzweigung» (bifurcation), der andere ist «Büchse der Pandora». Pikettys Wert­haltung wird bestimmt von der Überzeugung, dass die Geschichte nicht von ehernen Gesetzen diktiert wird: Wir nehmen immer wieder Abzweigungen, manchmal die richtigen, manchmal die falschen. Im Kontingenz­raum der politischen Auseinander­setzung hätte vieles auch ganz anders kommen können.

Dafür, dass es immer mal wieder falsch läuft, ist nach Piketty häufig das «Pandora-Argument» verantwortlich. Die Heftigkeit ideologischer Regime­wechsel wird nicht selten dadurch ausgelöst, dass die Akteure einer Wehret-den-Anfängen-Logik unterworfen sind, dass sie die «Büchse der Pandora» nicht öffnen, einen Mittelweg nicht gehen wollen.

Piketty tut das Gegenteil: Er will das Privat­eigentum nicht abschaffen, ganz und gar nicht, aber er will es auch nicht sakralisieren. Vielmehr soll es gezielt so eingeschränkt werden und so fluid bleiben, dass seine Hyper­konzentration das wirtschaftliche und das gesellschaftliche System nicht beschädigt. Ebenso müssen Privat­initiative und Innovations­kraft zwar geschützt werden, aber das bedeutet nicht, dass hohe, progressive Steuern aus Prinzip des Teufels sind. Die historische Erfahrung – so man sie denn ernst nehmen will – lehrt etwas völlig anderes.

Was in Pikettys Gross­opus vollkommen fehlt, ist eine Reflexion darüber, mit welchen politischen Methoden und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen seine Reform­konzepte umgesetzt werden können. Es liegt ihm fern, eine Macht­strategie zu entwickeln. Mit beinahe naivem Aufklärungs­glauben vertraut er ganz einfach auf die Macht des kritischen Diskurses. Seine frühen Arbeiten hatten einen enormen Einfluss auf Occupy Wall Street, und seine Mitstreiter Emmanuel Saez und der bereits erwähnte Gabriel Zucman haben einen wesentlichen Anteil an der Ausarbeitung der Steuer­reform­vorschläge von Elizabeth Warren. Wenn es Forschungs­projekte gibt, die etwas auslösen, dann diejenigen von Piketty.

Ob Warren tatsächlich eine Chance hat, die nächste US-Präsidentin zu werden? Ob sie, falls dem so wäre, tatsächlich eine hohe Vermögens­steuer durchbringen würde? Wir wissen es nicht. Eines aber ist gewiss: Die nächste Abzweigung wird kommen.

Zum Buch

Thomas Piketty: «Capital et idéologie». Verlag Seuil, 2019. 1197 Seiten, ca. 46 Franken. Die deutsche Ausgabe erscheint voraussichtlich im März 2020 beim Verlag C. H. Beck.

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