Ins offene Messer
Einer 57-jährigen psychisch und physisch angeschlagenen Frau wird die Invalidenrente gestrichen. Sie ist fortan von der Sozialhilfe abhängig. Und muss sich prompt noch vor dem Strafrichter verantworten – wegen Betrugs.
Von Brigitte Hürlimann, 09.10.2019
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Seit dem 1. Oktober ist der Gesetzesartikel in Kraft, über den die Schweiz so heftig gestritten hat. Es geht um die Versicherungsdetektive oder, anders gesagt, um die Observation von Menschen, die Leistungen der Unfall-, Arbeitslosen-, IV- oder Krankenkasse in Anspruch nehmen. Ein Referendum gegen das Gesetz hatte keine Chance: 64,7 Prozent der Stimmbevölkerung waren für die Überwachung von Versicherten. Seither dürfen die Versicherer mit gesetzlicher Rückendeckung und weitgehenden Befugnissen im Privatleben ihrer Kundschaft schnüffeln.
Ein paar Grenzen gilt es allerdings dennoch zu beachten. Das zeigt ein Fall, der noch ohne die neue gesetzliche Grundlage entschieden wurde. Knifflige Abgrenzungsfragen zwischen Sozialversicherungs- und Strafrecht stellen sich nämlich immer noch.
Ort: Regionalgericht Bern-Mittelland
Zeit: 18. September 2019, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: PEN 18 887
Thema: Betrug und versuchter Betrug
Die Vorstellung, dass da jemand vor unserer Wohnung lauert und jede Bewegung, jede Handlung, Mimik und Gestik mit einer Kamera aufnimmt, ist schauderhaft.
Wir giessen auf dem Balkon unsere Geranien und werden dabei gefilmt. Wir verlassen das Haus, plaudern auf der Strasse mit einer Nachbarin, lächeln und streicheln ihren Hund – und machen uns damit höchst verdächtig. Wir gehen ins Restaurant, gönnen uns einen Kaffee, lesen die Zeitung, und ein Herr am Nebentisch nimmt alles auf. Tagelang bleibt er uns auf den Fersen. Das Resultat seiner Schnüffeleien liefert er anschliessend der Auftraggeberin ab, einer Sozialversicherungsgesellschaft. Wir erfahren erst davon, wenn wir dort antraben und unser ungebührliches Verhalten rechtfertigen müssen.
Denn als IV-Rentnerin sollte man nicht lachen. Oder nur noch daheim, in der Wohnung, wenn die blickdichten Vorhänge gezogen sind.
Übertriebene Polemik?
Ein konkreter Fall aus dem Kanton Bern zeigt auf, wie weit die Observationen gehen können.
Was bei diesem Beispiel ins Auge sticht: Es geht um eine Frau, die nicht vollständig krankgeschrieben ist, von der man also guten Glaubens annehmen darf, dass sie in irgendeiner Form am Alltagsleben teilnimmt. Sie bezieht von der IV eine Dreiviertelrente in der Höhe von rund 700 Franken pro Monat; und zwar so lange, bis die IV-Stelle misstrauisch wird und eine Observation anordnet. Die vom Detektiv eingereichten Fotos und Videos genügen der Versicherung, um die Leistungen einzustellen. Das war vor sechs Jahren. Seither ist die heute 57-jährige Frau sozialhilfeabhängig.
Doch damit nicht genug. Die Invalidenstelle beendet nicht nur ihre Zahlungen, sie reicht auch Strafanzeige ein: wegen Betrugs und versuchten Betrugs. Beim vollendeten Betrug soll die Deliktsumme knapp 6500 Franken betragen, beim Betrugsversuch rund 40’000 Franken: Das sind Rentenleistungen, die der Versicherten allenfalls noch ausbezahlt worden wären, aufgerechnet bis zur nächsten, turnusgemässen Rentenrevision.
Mitte September muss sich die Frau in Bern vor Gericht verantworten.
Mutterseelenallein sitzt sie an einem kleinen Tisch vor dem Richterpodest, auf dem Einzelrichter Sven Bratschi und der Gerichtssekretär Platz genommen haben. Hinter ihr, in ihrem Nacken quasi, befindet sich Verteidiger Bernard Rambert. Die IV-Stelle Bern, die in diesem Verfahren die Rolle der Privatklägerin einnimmt, wird von Sibylle Volken vertreten, die in gebührendem Abstand zum Verteidiger ihre Dokumente ausbreitet. Staatsanwältin Brigitte Janggen-Schibli nimmt am Prozess nicht teil, weil sie dies nicht tun muss – aber könnte.
Die Beschuldigte macht vor Gericht keine gute Falle. Sie wirkt überfordert und eingeschüchtert, sitzt da wie ein Häufchen Elend, mag die Fragen des Richters nicht beantworten. Das steht ihr zu, das nennt man Aussageverweigerungsrecht. Die Frau bestätigt bloss ihre Wohnadresse, flüstert etwas von «Freispruch» und dass man bitte den Verteidiger für sie sprechen lassen möge. Dann schweigt sie.
Die Informatikerin stammt aus Rumänien und folgt 1990 ihrem Ehemann in die Schweiz. Die Frau lebt in diversen Asylzentren und in einem Passantenheim, muss vor ihrem gewalttätigen Mann in ein Frauenhaus flüchten und befürchtet, ausgewiesen zu werden; so, wie es ihrem Mann ergangen ist. Die Frau arbeitet, so gut und so lange es einigermassen geht, und engagiert sich ehrenamtlich in einer Kirchgemeinde. Irgendwann wird ihr alles zu viel.
Verteidiger Bernard Rambert erklärt das merkwürdige Verhalten seiner Mandantin vor Gericht, das zu Irritationen geführt hat. Die Frau befinde sich in einem Angstzustand, sagt er. Sie fühle sich terrorisiert und fürchte sich davor, dass man ihr die Worte wieder im Munde verdrehen könnte. «Es geht nicht um mangelnden Respekt dem Gericht gegenüber», beteuert der Rechtsanwalt.
Aufhorchen lässt das Wörtchen «wieder».
Die Frau bezieht ab 1999 wegen Rückenproblemen und einer depressiven Störung eine halbe Invalidenrente, die 2004 aus formalen Gründen auf eine Dreiviertelrente erhöht wird. Beim Revisionsverfahren im Jahr 2010 schöpft die IV-Stelle Verdacht. Sie war von einer mit ihr kooperierenden Ärztin darauf hingewiesen worden, dass die Schilderungen der Kranken unplausibel wirkten. Die IV lädt die Frau zu zwei Gesprächen ein, bleibt skeptisch und ordnet die Observation an; mutmasslich 2012 oder spätestens Anfang 2013. Auf jeden Fall zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch keine gesetzliche Grundlage dafür gab.
Die Frau wird im Januar und im September 2013 von einem Versicherungsdetektiv überwacht. Staatsanwältin Janggen-Schibli zitiert in ihrer Anklageschrift (die zuvor ein Strafbefehl war) ausführlich aus den Erkenntnissen der Observation. So erfährt das Strafgericht, dass die Frau lange Spaziergänge mit ihrem Hund machte und ihm Schneebälle zuwarf. Dass sie sich mit anderen Hundehaltern unterhielt, dabei lachte und fremde Hunde streichelte. Dass sie im Coop-Restaurant «etwas konsumierte, herumschaute und Zeitung las». Oder im Kontakt mit anderen Leuten «lachte und Freude zeigte».
Die Staatsanwältin verlangt einen Schuldspruch und eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 30 Franken. Sie schreibt, die Frau habe ihre Beschwerden gegenüber der IV-Stelle «wider besseren Wissens deutlich übertrieben». Von Lügen ist in der Anklageschrift allerdings nicht die Rede.
Die Vertreterin der IV-Stelle schliesst sich vor Gericht dem Begehren der Staatsanwältin an und fordert eine angemessene Bestrafung. Die Aussagen und das Benehmen der Informatikerin im Gespräch mit der IV – sie habe sich jeweils vor Schmerzen gewunden oder den Kopf auf den Tisch gelegt – stimmten überhaupt nicht mit dem Verhalten überein, wenn sie sich unbeobachtet fühle. Die Frau habe versucht, die IV zu täuschen, habe unwahre und unvollständige Angaben gemacht.
Auf die fehlende gesetzliche Grundlage geht die IV-Vertreterin mit keinem Wort ein. Ebenso wenig auf ein anderes Thema, das danach der Verteidiger anspricht: Sind die Aussagen der Frau gegenüber der Invalidenversicherung und der IV-nahen Ärztin überhaupt verwertbar?
Der Berner Strafrichter sagt: Nein.
Konkret geht es um zwei Gespräche, die im März 2013 und im September 2013 stattfanden – nachdem die Observation angeordnet worden war. Die verdächtigte IV-Rentnerin musste zu ihrem Gesundheitszustand Auskunft geben. Die Crux ist, dass im Sozialversicherungsrecht eine Mitwirkungspflicht gilt. Die Versicherten haben Red und Antwort zu stehen, ganz anders als im Strafrecht, wo sich Beschuldigte nicht selbst belasten müssen und ihre Aussagen verweigern dürfen. Im Strafrecht gelten die Unschuldsvermutung, strenge Anforderungen an die Beweiserhebung und die Pflicht, das rechtliche Gehör zu gewähren.
Kreuzen sich die beiden Rechtsgebiete mit ihren unterschiedlichen Regeln, so wird es heikel.
Bernard Rambert weist in seinem Plädoyer auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin und betont, seine Mandantin hätte bei den beiden in der Anklageschrift erwähnten Gesprächen auf die strafprozessualen Regeln hingewiesen werden müssen: weil der Verdacht einer strafbaren Handlung bereits im Raum gestanden sei. Die Belehrungen seien jedoch ausgeblieben, man habe die Frau im Gegenteil ins offene Messer laufen lassen. Sie wusste also beispielsweise nicht, dass sie die Aussagen hätte verweigern dürfen. Derart grobe Verfahrensfehler, so Rambert, müssten zu einem Verwertungsverbot führen. Und damit zu einem Freispruch.
Der Strafrichter gibt ihm recht und spricht die Frau, die bibbernd vor ihm sitzt, frei. Ab Januar 2013 habe ihr gegenüber ein massiver Anfangsverdacht bestanden, sagt Bratschi. Die Invalidenstelle hätte die Frau auf eine mögliche Strafanzeige und auf die Regeln im Strafverfahren hinweisen müssen, was nicht geschehen sei. Deshalb der Freispruch. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die unterlegene Staatsanwältin könnte den Fall noch vor Obergericht ziehen.
Einzelrichter Sven Bratschi erwähnt in seiner mündlichen Urteilsbegründung die Observation, die ohne gesetzliche Grundlage stattgefunden hat. Er geht davon aus, dass dieses Beweismittel verwertbar wäre: weil gemäss Strafprozessordnung auch ein unkorrekt erhobenes Beweismittel verwendet werden darf, wenn es zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist.
Schliesslich, so Sven Bratschi, gehe es um Betrug und Betrugsversuch: «Das ist nicht nichts.»
Eine verdatterte Freigesprochene verlässt den Gerichtssaal. Der Verteidiger muss ihr draussen im Gang mehrfach erklären, was soeben geschehen ist, bis sie es glaubt. Doch dann huscht der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht.
Illustration: Till Lauer