Briefing aus Bern

Ein Steuercoup, ein System­wechsel – und der Stunt von FDP-Ständerat Ruedi Noser

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (71).

Von Andrea Arezina und Elia Blülle, 03.10.2019

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In der Schweiz haben noch nie so viele Frauen für das Parlament kandidiert wie in diesem Jahr. 2015 waren 34,5 Prozent der Kandidaten weiblich; 2019 sind es 40,3 Prozent. Mit rund 4600 Kandidatinnen stehen auf den Wahllisten insgesamt 565 Frauen mehr als noch vor vier Jahren. Ein grosser Fortschritt.

Am höchsten ist der Frauen­anteil bei den Grünen. 55 Prozent der Kandidaten sind weiblich. Gefolgt von der SP (51 Prozent). Im Mittelfeld liegen GLP (41 Prozent) und CVP (40 Prozent). Bei der SVP sind die Frauen mit 22 Prozent vertreten.

Und die FDP?

Nationalrätin Doris Fiala hat im Juni gegenüber der «SonntagsZeitung» behauptet, dass sich die FDP mit einem Frauen­anteil von 45 Prozent in den Wahlkampf stürzen wird. Das wären 15 Prozent mehr als noch vor vier Jahren. Respekt!

Doch die neusten Auswertungen zeigen, dass die Partei dieses Ziel nicht erreicht hat. Tatsächlich liegt die Frauen­quote auf den Listen der FDP nur bei 37 Prozent. Wieso die Partei die Ankündigung von Doris Fiala nicht einlösen konnte, bleibt unklar. Leider war Fiala gestern für einen Kommentar nicht zu erreichen. Aber wir halten fest: Mit Ausnahme der GLP hat keine andere Partei ihren Frauen­anteil so stark verbessert wie die FDP. Und das ist trotz verfehltem Versprechen ein Erfolg.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Medizinische Leistungen: Einheitlich finanzieren

Worum es geht: Das heutige Finanzierungs­modell von medizinischen Leistungen ist kompliziert und schafft falsche Anreize. Das will der Nationalrat ändern. Er hat vergangene Woche mit grosser Einig­keit eine einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Behandlungen beschlossen. Trotzdem droht Ärger: Entgegen dem Wunsch der Kantone hat die grosse Kammer die kosten­intensive Finanzierung der Langzeit­pflege nicht der einheitlichen Finanzierung unterstellt.

Warum Sie das wissen müssen: Heute tragen die Kantone bei stationären Behandlungen 55 Prozent der Kosten, die Kranken­kassen 45 Prozent. Ambulante Behandlungen bezahlen die Versicherungen alleine. Dieses System führt dazu, dass mehr teure stationäre Behandlungen verschrieben werden, als nötig wären, weil die Kranken­kassen an der Verlagerung in den ambulanten Bereich wenig Interesse haben. Um das zu ändern, sollen sich künftig die Kranken­kassen und Kantone die Kosten sowohl bei stationären wie auch bei ambulanten Behandlungen teilen. Der Nationalrat hat entschieden, dass die Kranken­kassen mit dem neuen Gesetz 77,4 Prozent der Gesamt­kosten tragen sollen und die Kantone den Rest übernehmen.

Wie es weiter geht: Als Nächstes wird die Vorlage im Ständerat behandelt. Die Kantone drohen mit einem Referendum, sollten die Kosten der Langzeit­pflege nicht ebenfalls zu 77,4 Prozent von den Kranken­kassen getragen werden. Ebenfalls unzufrieden sind die Sozial­demokraten. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran zieht ein Referendum in Betracht, weil aufgrund der Gesetzes­änderung künftig auch Privat­spitäler aus der Grund­versicherung bezahlt werden könnten.


Kinderzulagen: CVP initiieren grosszügiges Wahlgeschenk

Worum es geht: Heute können Familien die externe Kinder­betreuung von den Steuern abziehen. Nun hat das Parlament diesen Betrag erhöht, damit mehr Frauen ihre Arbeit wieder frühzeitig aufnehmen könnten und keine Fach­kräfte verloren gehen. Doch CVP-National­rat Philipp Kutter hat das noch nicht gereicht. Auf seinen Antrag hat das Parlament kurzer­hand auch den allgemeinen Kinder­abzug von 6500 auf 10’000 Franken erhöht. Mit dem Resultat: Anstatt 10 kostet die Vorlage nun plötzlich 360 Millionen Franken.

Warum Sie das wissen müssen: Der geplante Steuer­abzug kommt vor allem Familien mit hohem Einkommen zugute. Der Mittel­stand und die Niedrig­verdienenden gehen leer aus. Von den 350 Millionen Franken entfallen 250 Millionen auf jene Familien, die über 150’000 Franken verdienen. Die aller­meisten Familien – 44 Prozent – erhalten gar keine Entlastungen, da sie keine Bundes­steuer bezahlen müssen.

Wie es weiter geht: Die Steuer­erleichterung ist beschlossene Sache. Nun droht die SP mit einem Referendum. Unter­stützung könnte die Partei von den Kantonen erhalten. Denn auch sie sind alles andere als glücklich über die aufgebrummten Steuerverluste.


Vaterschaftsurlaub: Initiative zurückgezogen

Worum es geht: Vor drei Wochen hat das Parlament einem indirekten Gegen­vorschlag zugestimmt, der einen zwei­wöchigen Vaterschafts­urlaub vorsieht. Nun hat das Komitee um die Initiative «Vaterschafts­urlaub jetzt!» ihr Anliegen zurück­gezogen. Die Initiative hat einen vier­wöchigen Vaterschafts­urlaub gefordert.

Warum das wichtig ist: Die Schweiz ist eines der wenigen Länder in Europa, das keinen Vaterschafts­urlaub kennt. Bisher hat man den Männern nach der Geburt des Kindes lediglich einen einzigen Tag zugestanden. Der Vaterschafts­urlaub gilt als ein wichtiger Schritt hin zu mehr Gleich­stellung. Er soll Vätern ermöglichen, sich bereits früh an der Kinder­betreuung zu beteiligen.

Wie es weiter geht: Mit dem Rückzug der Volks­initiative tritt der indirekte Gegen­vorschlag in Kraft. Er könnte bereits im nächsten Jahr zur Anwendung kommen. Mit dem Rückzug ihrer Initiative macht das Komitee Platz für weiter­führende Diskussionen. Es liegen zusätzliche Vorschläge auf dem Tisch: Ein anderes Komitee fordert per Initiative eine Eltern­zeit von 30 Wochen, und die Zürcher Sozial­demokraten streben auf Kantons­ebene eine Eltern­zeit von 38 Wochen an.


Stunt der Woche: FDP-Ständerat Noser braucht mehr Zeit

Der Ständerat wird entgegen dem ursprünglichen Plan erst nach den Wahlen über die Konzernverantwortungsinitiative und ihren Gegen­vorschlag debattieren. Dafür gesorgt hat FDP-Ständerat Ruedi Noser. Weil FDP-Bundes­rätin Karin Keller-Sutter im Sommer plötzlich einen eigenen Gegenvorschlag präsentierte, braucht Noser jetzt mehr Zeit zum Nach­denken. Nachdem der Rat sich bereits zwei Jahre mit der Initiative befasst hatte, bat Noser seine Kolleginnen, die Entscheidung zu vertagen. Die Initiative fordert, dass hiesige Firmen für im Ausland begangene Menschen­rechts­verletzungen und Umwelt­schäden in der Schweiz zur Rechenschaft gezogen werden. Der Gegenvorschlag will zwar, dass Unternehmen künftig über ihre Tätigkeiten im Ausland Bericht erstatten; eine Haftbarkeit ist aber nicht vorgesehen. Weil der Vorschlag der FDP-Bundesrätin für viel Ärger und Widerstand gesorgt hat, scheint es nun, als ob ihre Partei vor den Wahlen eine Diskussion zur Konzern­verantwortung um jeden Preis verhindern will.

Illustration: Till Lauer

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