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Eine Mutter will ihren Sohn beschneiden lassen. Die Kesb ist dagegen. Wie entscheidet das Gericht?

Von Brigitte Hürlimann, 24.09.2019

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Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist ein Verbrechen, das in der Schweiz seit 2012 explizit im Strafgesetzbuch aufgeführt wird. Es droht eine Freiheits­strafe von bis zu zehn Jahren, und es herrscht breiter Konsens darüber, dass es sich dabei um eine schwere, durch nichts zu rechtfertigende Körper­verletzung handelt. In weltweiten Kampagnen versuchen staatliche und nichtstaatliche Organisationen, Aufklärungs­arbeit zu leisten und der grausamen Tradition endlich ein Ende zu setzen.

Doch wie steht es mit der Zirkumzision, der Beschneidung von Knaben beziehungsweise der Entfernung der Vorhaut, wie sie in der jüdischen und der islamischen Religion praktiziert wird? Die Frage stellt sich vor allem dann, wenn es sich beim Betroffenen um ein Kind handelt, das seinen Willen nicht selber kundtun kann. Es ist ein juristisch kniffliges und ein sensibles Feld – und die hiesige Recht­sprechung dazu äusserst dürftig.

Ein neustes Urteil zur Zirkumzision stammt vom Ober­gericht des Kantons Zürich, es ist Ende August rechtskräftig geworden. Die II. Zivil­kammer hatte folgenden Sach­verhalt zu würdigen: Die Mutter eines heute zehnjährigen Knaben will ihren Sohn aus religiösen Gründen beschneiden lassen. Sie ist geschieden und verfügt über die alleinige Sorge über den Bub, der in einem Kinder­heim lebt. Dem Kind wird eine Beiständin zur Seite gestellt. Die Mutter berichtet der Beiständin von der Idee, den Knaben beschneiden zu lassen, doch die Kesb untersagt den Eingriff.

Dagegen erhebt die Mutter Beschwerde: zunächst vor dem Bezirksrat Zürich, wo sie unterliegt, anschliessend vor Ober­gericht. Dieses prüft den konkreten Fall und kommt ebenfalls zum Schluss, dass von einer Zirkumzision abzusehen ist, weil es sich um ein Kind mit einer schwierigen Vergangenheit und einer anhaltenden posttraumatischen Belastungs­störung handle. Der Eingriff, so das Ober­gericht, würde das Kindes­wohl gefährden.

Der Knabe reagiert panisch auf ärztliche Behandlungen; nur schon der Versuch, ihm in der Schul­zahnklinik eine Zahn­spange anzubringen, musste abgebrochen werden. Es bestehe die Gefahr einer Retraumatisierung, schreibt das Ober­gericht. Eine medizinische Indikation für die Beschneidung liege zudem nicht vor. Die Mutter hatte ihren Wunsch aus religiösen Gründen geäussert und unter anderem befürchtet, der Knabe könnte von anderen muslimischen Kindern gemobbt werden, weil er nicht beschnitten sei. Das Gericht anerkennt das Recht der Mutter, ihren Sohn religiös zu erziehen, hält aber fest, auch dieses Recht stehe unter dem Vorbehalt des Kindeswohls.

Das Zürcher Obergericht erwähnt in seinem Urteil einen Entscheid aus dem Kanton Graubünden vom Oktober 2013. Auch das Kantons­gericht Graubünden hatte sich damals gegen die Beschneidung eines Knaben ausgesprochen – jedoch aus ganz anderen Gründen. Im Bündner Fall geht es ebenfalls um ein geschiedenes Elternpaar und um eine Mutter, die den Wunsch äussert, das dreijährige Kind einer Zirkumzision zu unterziehen. Sie verfügt über das alleinige Sorgerecht, hat sich dem Islam zugewandt und will den Sohn fortan nach muslimischen Grundsätzen erziehen. Der Vater hingegen ist Katholik und wehrt sich gegen das Ansinnen der Mutter.

Wegen der unterschiedlichen Religions­zugehörigkeit der uneinigen Eltern lehnt das Bündner Gericht eine Beschneidung ab. Es führt in seinem Urteil aus, der Sohn habe regelmässig auch mit dem Vater Kontakt und lebe im Umfeld von zwei Religionen. Es sei deshalb mit der Beschneidung abzuwarten, bis das Kind selber in der Lage sei, zu entscheiden.

Komme hinzu, so das Kantons­gericht Graubünden, «dass die Beschneidung weder nach den Regeln des Judentums noch des Islams religions­begründend ist, sondern lediglich ein Zeichen der Religions­zugehörigkeit darstellt. Mit anderen Worten muss ein Mann somit nicht beschnitten sein, um seinen Glauben zu bezeugen und dem Islam beitreten zu können. Das Glaubens­bekenntnis ist auch ohne vorherige Beschneidung gültig.»

Die Bündner Richterinnen setzen sich mit der Entstehung der Strafnorm gegen die weibliche Genital­verstümmelung auseinander und stellen fest, dass es der Schweizer Gesetzgeber bewusst unterlassen habe, die Beschneidung von Knaben explizit unter Strafe zu stellen. Allerdings habe keine eigentliche Auseinander­setzung mit der Zirkumzision stattgefunden.

Beide Gerichtsinstanzen, die zürcherische und die bündnerische, verweisen auf ein Grundlagenpapier des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte in Bern. Die Autorinnen dieses Berichts beleuchten die involvierten Rechts­gebiete und die internationale Recht­sprechung. Sie kommen zum Schluss, dass die Zirkumzision zwar eine einfache Körper­verletzung darstelle, diese aber nicht grundsätzlich das Kindeswohl tangiere. Deshalb können die Eltern in die Beschneidung ihrer urteils­unfähigen Söhne einwilligen – aber eben nur dann, wenn das Kindes­wohl nicht aus anderen Gründen gefährdet ist.

Um es in den Worten des Zürcher Ober­gerichts auszudrücken: «Das Kindeswohl ist das massgebliche Kriterium des Kindes­rechts überhaupt, dessen Gefährdung bildet damit die Grenze des elterlichen Vertretungsrechts.»

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