Strassberg

Eine brand­gefährliche Fiktion

Volkswille? Allgemeinwille? Willensnation? Diese Begriffe sind wieder einmal mächtig im Schwang. Leider!

Von Daniel Strassberg, 24.09.2019

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Sie kennen das. Sie beschäftigen sich mit irgendetwas, und plötzlich taucht es überall auf. Als würde es in der Luft liegen.

In den vergangenen Wochen beschäftigten mich der Wähler­wille und sein naher Verwandter, der sogenannte Volkswille. Vor den Wahlen bemühen alle Seiten den Wähler­willen, mit dem Volks­willen legitimiert Boris Johnson seinen anti­parlamentarischen Amoklauf, und die AfD schwadroniert unablässig vom Volks­willen, vom Volks­körper und sogar vom drohenden Volkstod.

Die politische Verwendung des Volks­begriffs ist zwar nicht neu – wir haben in der Schweiz diverse Volks­parteien, und die Teilnehmerinnen der Montags­demonstrationen in der ehemaligen DDR skandierten «Wir sind das Volk!» –, aber sie scheint sich aktuell bedrohlich zu verschärfen.

Während ich also versuchte, diesem ominösen Wähler­willen oder Volks­willen auf die Spur zu kommen, erschien wie ein Menetekel überall der Name Rousseaus. In der Republik griff Daniel Binswanger auf Rousseau zurück, um das britische Desaster verstehen zu helfen, und die Plattform, auf der die Mitglieder der Cinque Stelle unter anderem darüber abstimmen konnten, ob die Bewegung eine Koalition mit dem Partito Democratico eingehen soll, heisst ohne Umschweife Rousseau.

Mit folgender Passage aus dem «Contrat social» hat es unser Jean-Jacques zum Schutz­patron der grössten italienischen Volks­bewegung gebracht:

«Wie findet man eine Gesellschafts­form, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschafts­gliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?» Dies ist die Haupt­frage, deren Lösung der Gesellschafts­vertrag gibt. (…)

Alle [Klauseln dieses Vertrages] lassen sich, wenn man sie richtig auffasst, auf eine einzige zurückführen, nämlich auf das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschafts­gliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit, denn indem sich jeder ganz hingibt, so ist das Verhältnis zunächst für alle gleich, und weil das Verhältnis für alle gleich ist, so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu machen. (…)

Scheidet man also vom Gesellschafts­vertrage alles aus, was nicht zu seinem Wesen gehört, so wird man sich überzeugen, dass er sich in folgende Worte zusammenfassen lässt: «Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.»

Aus: Jean-Jacques Rousseau, «Contrat social», Kapitel VI.

Das also war Rousseaus Rezept für eine harmonische, gerechte und demokratische Gesellschaft: Jeder gibt seinen persönlichen Willen an der Garderobe ab und nimmt dafür den allgemeinen Willen an. Seither fegt der allgemeine Wille, die volonté générale, wie ein Hurrikan durch die Welt­geschichte und richtet beträchtlichen Schaden an. Einmal heisst er Wähler­wille, dann Wille des Volkes, dann Willens­nation.

Die Schweiz sei eine Willens­nation, heisst es tiefschürfend. Doch was in drei Teufels Namen ist eine Willens­nation? Wer will da was? Ich? Mich hat nie jemand gefragt, ob ich Schweizer sein will. Und viele, die wollen, dürfen nicht, weil sie nicht wissen, wo die nächste Migros liegt. Also will die Nation. Doch wie kann eine Nation etwas wollen? Nur Personen wollen etwas, und bisweilen nicht mal diese.

Wie immer, wenn etwas verwirrend ist, kann man bei Wikipedia nachschauen: Als Willens­nation bezeichnet sich ein Staat im Sinne einer voluntaristischen, also bewusst gewollten Gemeinschaft von ansässigen Bürgern unter­schiedlicher ethnischer Herkunft.

Irgendwie muss ich im Ausland gewesen sein, als die Schweizer Willens­nation das bewusst wollte.

Natürlich weiss auch ich, dass die volonté générale eine Fiktion ist, aber sie ist eine brand­gefährliche Fiktion, weil sie eine exklusive Einheit suggeriert. Gemäss Rousseaus Theorie ermitteln Wahlen und Abstimmungen nicht etwa fragile, volatile und oft zufällige Mehrheiten, sondern bringen einen metaphysischen Einheits­willen zum Ausdruck. Die Demokratie wird dadurch auf Wahl­ergebnisse reduziert, dabei ist sie in der Realität viel mehr als das: Sie ist ein ausgeklügeltes Verfahren, wie in einer Gesellschaft über unterschiedliche Interessen von Gruppen (nicht von Einzelnen!) entschieden wird, flankiert von Institutionen, die dieses Verfahren schützen.

Das Verfahren mag Mängel haben – in manchen Gemeinden haben rund die Hälfte der 30- bis 49-Jährigen kein Stimm- und Wahlrecht –, aber es hat sich im Grossen und Ganzen bewährt. Es hat sich vor allem deshalb bewährt, weil es ein träges System ist. Die Physik nennt ein System dann träge, wenn es im beobachteten Zeitraum keine oder kaum Veränderungen zeigt. Also zum Beispiel die Schweiz, wo eine Verschiebung um 2 Prozent Wähler­stimmen einem politischen Erdrutsch gleichkommt.

Die amerikanischen Gründer­väter haben durch checks and balances das politische System absichtlich träge ausgelegt, damit es nicht gekapert werden kann. Doch genau das geschieht im Augen­blick überall auf der Welt. In Gross­britannien, Israel, den USA, Italien, Ungarn, Polen wird gerade die parlamentarische Demokratie ausgehebelt – im Namen des Volkes, im Namen der volonté générale, im Namen der Demokratie selbst. Es ist also kein Zufall, dass sich die Cinque Stelle mit Rousseau schmücken.

Was ist eigentlich so gefährlich am Konzept der volonté générale?

  1. Es degradiert das Parlament zum willfährigen Erfüllungs­gehilfen des metaphysischen Willens und produziert damit jene merkwürdige Spaltung zwischen Parlament und Volk, die in der Schweiz unter der Chiffre «Classe politique» segelt. Der Speaker des House of Commons, John Bercow, redete bei seinem Rücktritt den Parlamentariern und Parlamentarierinnen ins Gewissen: Ihr seid keine Delegierten, ihr seid Repräsentanten! Übersetzt: Ihr seid nicht gewählt, um genau das zu tun, was eure Wähler vermeintlich wollen, sondern um Ideen zu haben und sie umzusetzen.

  2. Die volonté générale ist – gegen Rousseaus Intention – nationalistisch. Der Volkswille wurde in der Romantik mit einem Volksgeist versehen, vor allem von Johann Gottfried Herder (1744–1803). Der Volkswille ist deshalb nicht überall derselbe, weil er einen nationalen Geist ausdrückt, gleichsam den Charakter eines Volkes. Diese Charaktere sind natürlich unterschiedlich, auch unterschiedlich edel, jedenfalls steht der deutsche meist ganz oben auf der Liste. Leider lässt sich dieser ominöse Volksgeist so wenig ausrotten wie die Tiger­mücke oder Winden­gewächse. Rudolf Steiner hat ihn kolportiert, Alfred Rosenberg hat ihn mit der Rassen­theorie vermählt, und heute hat er sich ein scheinbar harmloses Mäntelchen umgelegt: die Leitkultur.

  3. Die volonté générale ist ausgrenzend. Wenn der Mehrheits­entscheid den Willen des Volkes oder den Wähler­willen ausdrückt, gehört dann die Minderheit nicht mehr zum Volk? Oder jene, die gar nicht wählen? Doch damit nicht genug, den Hütern des Volks­willens gelingt es sogar, diesen für sich zu beanspruchen, wenn sie in die Minderheit versetzt werden. Sie machen die Mehrheit einfach zu Würmern. Am Ende werden jene, die den Volks­willen nicht teilen, als Volks­schädlinge dehumanisiert, die den Volkstod herbeiführen – alles aus der Un-Sprache der AfD.

  4. Die volonté générale tendiert zur Diktatur, weil sie einen pervertierten Freiheits­begriff erzeugt. Die Freiheit der SVP-Plakate ist nicht die durch die Institutionen geschützte Freiheit des Einzelnen, sondern die Freiheit eines Kollektivs, des Volkes, der Schweiz, der Nation, schlimmsten­falls des Mobs. Diese Freiheit kann deshalb problemlos von einem Einzelnen usurpiert werden, der behauptet, den Volks­willen zu repräsentieren und die Freiheit des Volkes zu schützen. Nur weil sie behaupten, die volonté générale zu verkörpern, können all die kleinen Tyrannen mit den komischen Frisuren dauernd die Freiheit im Mund führen, während sie die Freiheit des Einzelnen mit Füssen treten.

Wie wäre es also mit einer künftigen Montags­demo, auf der skandiert wird: «Wir sind kein Volk»?

Illustration: Alex Solman

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