Der Epstein-Skandal enthüllt den moralischen Bankrott der Tech-Elite

Eine ganze Klasse von Akademikern betreibt intellektuelle Prostitution. Zeit für eine radikale Agenda: Schliessung des MIT Media Lab, Auflösung der TED-Talks und ein kategorisches «Nein!» zum Geld von Tech-Milliardären.

Ein Kommentar von Evgeny Morozov («Guardian», Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 18.09.2019

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

Zu diesem Beitrag: Anfang Monat trat Joi Ito zurück, der Leiter des Media Lab am Massachusetts Institute of Technology. Dies, nachdem der «New Yorker» enthüllte, dass er enge Beziehungen zum verurteilten Sexual­straftäter und Milliardär Jeffrey Epstein unterhalten – und Epsteins Spenden an sein Forschungs­zentrum verschleiert hatte. Dazu publizieren wir diesen Kommentar von Kolumnist, Philosoph und Tech-Kritiker Evgeny Morozov.

Gerade realisiert die Welt, wie mächtig Big Tech geworden ist, da wird uns – etwas spät – all der von digitalen Riesen angerichtete Schaden bewusst. Leider gehen diese Diskussionen eher selten darüber hinaus, ob Big Tech reguliert werden müsse und was die Folgen für die Volks­wirtschaft sein könnten.

Was ist aus all den Ideen geworden, die Big Tech untermauern? Nun, zunächst einmal schreiben wir nicht mehr 2009. Facebook-Gründer Mark Zuckerbergs jugendliche Reflexionen über Transparenz oder das globale Dorf beeindrucken heute so gut wie niemanden mehr.

Und dennoch, aller wachsenden Skepsis gegenüber Silicon Valley zum Trotz, glauben immer noch viele an eine ernst zu nehmende intellektuelle Dimension der digitalen Revolution, die man auf Konferenzen wie TED, in Online-Salons wie Edge.org oder Publikationen wie «Wired» und Einrichtungen wie dem MIT Media Lab diskutiert. Die Ideen der Tech-Eliten mögen ja falsch oder übertrieben utopisch sein, heisst es, aber immerhin sind sie aufrichtig gemeint.

Der Epstein-Skandal – einschliesslich der jüngsten Enthüllung, Epstein könnte bis zu 8 Millionen Dollar (ein Teil davon offensichtlich im Auftrag von Bill Gates) ins MIT Media Lab gepumpt haben, obwohl dessen Leitung sich seines problematischen Hintergrunds sehr wohl bewusst war – rückt die Tech-Elite in ein ganz anderes Licht. Was denn auch bereits zum Rücktritt von Media-Lab-Direktor Joi Ito geführt hat.

Es handelt sich hier jedoch nicht nur um die Geschichte einiger auf Abwege geratener Einzelner. Das hässliche Gesamtbild der Tech-Eliten, wie es sich nach dem Epstein-Skandal abzuzeichnen beginnt, entlarvt sie als einen Haufen von moralisch bankrotten Opportunisten. Ihre Ideen als authentisch, wenn auch irrig zu behandeln, ist bei weitem zu grosszügig. Das einzig Authentische an ihnen ist ihre Falschheit. Sicher, Big Tech und seine Verteidiger produzieren grosse Gedanken – leider sind diese grösstenteils gerade mal zufällige Neben­produkte der Jagd nach dem grossen Geld.

So war das nicht gedacht. So pries etwa 1991 John Brockman, der erfolgreichste Impresario der digitalen Welt, das Entstehen einer «dritten Kultur», die letztendlich die technophoben literarischen Intellektuellen durch eine Elite aus Wissenschaft und Technik ersetzen würde. «Das Entstehen der dritten Kultur», schrieb Brockman damals in einem viel diskutierten Essay, «sorgt für neue Arten des intellektuellen Diskurses und bekräftigt Amerikas überragende Stellung auf dem Gebiet der grossen Ideen.» John Brockman war bis vor kurzem mein literarischer Agent.

Brockman hat Epstein mit Dutzenden von weltberühmten Wissenschaftlern – grösstenteils Klienten von ihm – bekannt gemacht. Er selber stellte das so dar, als seien Leute wie er kraft ihrer genialen Scharfsicht die Architekten dieser «dritten Kultur». Der Kardinal­fehler einer solchen Analyse ist ihre Tendenz, strukturelle Veränderungen des weltweiten Kapitalismus mit zeitgeistigen Trends der Ideengeschichte zu verwechseln.

So entstanden Brockmans «neue Arten des intellektuellen Diskurses» grösstenteils daraus, dass Tech-Unternehmen vom grossen, seelenlosen Rüstungs­geschäft des Kalten Kriegs auf die hippe Welt des Personal Computing umstiegen. Apple, mit Steve Jobs als hauseigenem Chef­evangelisten der Gegenkultur, brauchte den konsum­orientierten Mystizismus dieser «dritten Kultur». IBM und Hewlett-Packard, noch ganz der Mentalität der 1950er-Jahre verhaftet, brauchten ihn nicht. Desgleichen war «Amerikas überragende Stellung auf dem Gebiet der grossen Ideen» in erster Linie auf seine militärische und wirtschaftliche Vormacht­stellung zurückzuführen. Und das bremste zwangsläufig anderswo die Entwicklung von florierenden Alternativen zu Hollywood und dem Silicon Valley.

Es gab keinen besseren ersten Exponenten der «dritten Kultur» als den Gründer des MIT Media Lab Nicholas Negroponte, eine neue Gattung von praxis­orientiertem Intellektuellen, voll von grossen technischen Ideen. Das Lab war seiner Zeit insofern voraus, als man dort verstanden hatte, dass die Industrie wie der Staat coolere, interaktivere Technologie brauchten – welche die traditionelle Rüstungs­industrie des Kalten Kriegs nicht zu bieten hatte.

Alles andere ergab sich von selbst. So wurde Negroponte 1984 denn auch zum allerersten Redner der allerersten Technology, Entertainment, Design Conference (der berühmten TED Talks), die sich einige Jahrzehnte später als wesentliche Beförderin der «dritten Kultur» hervortat. Hier gab es keine Politik, keine Konflikte, keine Ideologie – nur Wissenschaft, Technologie und pragmatische Problem­lösung. Ideen als Dienst­leistung, handlich verpackt zu 18-minütigen intellektuellen Snacks.

Die «dritte Kultur» war eine perfekte Fassade, hinter der sich unter dem Banner des Intellektualismus unternehmerische Ziele verfolgen liessen. Grenzenloses Networking mit Milliardären, aber durchaus auch mit Models und Hollywood­stars. Sofort­finanzierung durch Philanthropen und Risiko­kapitalisten, die sich in denselben Kreisen bewegen. Mit horrenden Vertrags­honoraren gekoppelte Buch­bestseller, die lediglich Werbe­material für die lukrativeren kommerziellen, nicht selten von der akademischen Welt gemanagten Unterfangen des Autors sind.

Es war praktisch unvermeidlich, dass jemand wie Jeffrey Epstein sich diese Netzwerke zunutze machen sollte, um seine Verbrechen reinzuwaschen. Eine Welt, in der Bücher nichts als Marken­pflege sind – und die sowieso niemand wirklich liest –, ist wie geschaffen für einen glamourösen, reichen Scharlatan von Epsteins Format.

Eine der beharrlichsten von John Brockmans Beschwerden war, dass all die Tech-Milliardäre in seinem Bekannten­kreis so gut wie keines der Bücher seiner Klienten läsen. Es überrascht denn auch nicht weiter, dass seine legendären literarischen Diners – da sie während der TED-Konferenzen stattfanden, ermöglichten sie es Epstein, sich unter Wissenschaftler und Milliardäre zu mischen – meist jedes ernst zu nehmenden Inhalts entbehrten.

Wie Brockman selbst es 2004 nach einem dieser Treffen ausdrückte: «Letztes Jahr haben wir es mit einem ‹Wissenschafts­diner› versucht. Grosses Gähnen. Also ging es dieses Jahr im Rahmen unsers ‹Milliardärs­diners› wieder um Geld, Sex und Macht.» Waren «Geld, Sex und Macht» die ach so «neue Art des intellektuellen Diskurses», den die «dritte Kultur» versprach? Falls dem so ist, können wir darauf verzichten.

1999 war auf einem dieser Diners ein junger Amerikaner japanischer Herkunft namens Joi Ito zu Gast. Ausserdem anwesend waren Richard Saul Wurman, der eigentliche Gründer der TED Conference, Jeff Bezos und – neben all den anderen Milliardären – Jeffrey Epstein. Ito, der das College geschmissen hatte, sollte schliesslich das Media Lab leiten, Barack Obama interviewen, ein populäres Tech-Buch schreiben (auch er war einer von Brockmans Klienten) und in zwanzig Gremien und Ausschüssen sitzen, unter andrem bei so renommierten Institutionen wie der «New York Times», der MacArthur Foundation und der Knight Foundation.

Joi Ito war für die «dritte Kultur» der Jahrtausend­wende, was Negroponte für deren Version der 1980er-Jahre gewesen war. Negroponte umgab allerdings immer eine Aura von Aristokratie und Privileg – der Spross einer steinreichen griechischen Familie brüstete sich jüngst, mit 80 Prozent aller heutigen Milliardäre per du zu sein. Joi Ito ist dagegen der typische Start-up-Disruptor, ein Ex-Manager eines Nachtclubs in Japan, der sich irgendwie als Intellektueller der «dritten Kultur» neu erfand.

Aber genau wie bei Brockmans «Milliardärs­diners» mangelt es auch Itos Werk an Inhalt. Es ist grösstenteils Tech-Blabla, gemischt mit einer massiven Dosis futuristischem Jargon. Nicht dass das eine Rolle spielen würde. Der «dritten Kultur» sind Ideen hauptsächlich dazu da, Türen zu öffnen. Das MIT war nur daran interessiert, dass Itos Ideen seine Netzwerke vergrösserten; an Itos Talent als Spenden­sammler und an seiner Fähigkeit, Geldgebern wie Epstein fette Schecks aus dem Kreuz zu leiern.

Ist es also so überraschend, dass Ito, von einem Kollegen vor Epstein gewarnt, diesen als «ausgesprochen faszinierend» beschrieb? Epsteins Interessen waren übrigens nach eigener Aussage «Wissenschaft und Weiber». Brockman selbst erlag Epsteins Charme und bezeichnete ihn in einer E-Mail an mich als «ausgesprochen gescheit und interessant». Und das trotz seiner realistischen Ansichten über die niedrigen intellektuellen Standards der Tech-Gemeinde.

Wenn die «dritte Kultur» um so viel anspruchsvoller ist als ihre Vorgänger, wie kommt es dann, dass die meisten ihrer typischen Vertreter – berühmte Wissenschaftler, die dank dem Brockman-Imperium ihr eigenes Label haben – sich nun in den Epstein-Skandal verstrickt sehen? Es ist nicht ungewöhnlich, dass Intellektuelle als nützliche Hofnarren für die Reichen und Mächtigen herhalten. Aber unter der «dritten Kultur» scheint dies geradezu Pflicht zu sein.

Sind die Lebens­haltungs­kosten dieser Kultur – wie etwa die Prostitution intellektueller Tätigkeit auf «Milliardärs­diners» – ihren Preis tatsächlich wert? Und können wir Aussagen der führenden Intellektuellen dieser «dritten Kultur» überhaupt noch trauen? Zumal wenn man bedenkt, was sie sonst noch zu verkaufen haben.

Die Antworten auf diese Fragen liegen auf der Hand. Und so leicht es ist, faule Äpfel wie Ito oder Negroponte an den Pranger zu stellen, eine radikalere Agenda für eine Veränderung sollte mehr verlangen: die Schliessung des Media Lab, die Auflösung der TED-Talks, den Verzicht auf das Geld von Tech-Milliardären, den Boykott von Agenten wie Brockman. Ohne derart drastische Veränderungen wird der mächtige Komplex aus Bullshit und Industrie, der die «dritte Kultur» in Wirklichkeit ist, ungehindert weiter­machen, bis er dem nächsten Epstein als Deckmantel dient.

Korrigendum: In einer ersten Version des Beitrags stand im Lead verkürzt «Schliessung des MIT» statt «Schliessung des MIT Media Lab». Wir bitten, das Versehen zu entschuldigen!

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr