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Wenn der Prozess zur Farce verkommt

Verschlossene Türen am Gericht, der Staatsanwalt als Richter, die Verteidigung ohne Rechte – Geheimjustiz und Grossinquisitoren sind zurück.

Von Brigitte Hürlimann, 17.09.2019

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Erst gerade seit zweihundert Jahren kennen wir in unseren Breiten­graden das Prinzip des fairen Prozesses – und es ist bis heute ein zartes Pflänzlein geblieben.

Zum fairen Prozess gehört, dass Geständnisse nicht erpresst werden, kein Gross­inquisitor in Personal­union untersucht und bestraft. Und, ganz wichtig: das Öffentlichkeits­prinzip. Es soll keine Geheim­akten geben und grundsätzlich keine verschlossenen Gerichts­säle mehr. Letzteres gilt mit nur wenigen Ausnahmen, wenn es etwa ums Familien­recht oder ums Jugend­strafrecht geht. Wobei der Jugendstrafprozess eine gewisse Öffentlichkeit zulassen würde, die leider kaum wahrgenommen wird.

Schluss also mit der Kabinetts­justiz? Von wegen! Schluss mit dem Grossinquisitor? Nein, er ist wieder da, zwar ohne Folter­arsenal, aber mit erstaunlich viel Macht ausgestattet. Für beide Befunde gibt es konkrete, aktuelle Beispiele.

Beginnen wir mit der Kabinettsjustiz:

Erst kürzlich schliesst das Bezirks­gericht Dietikon (ZH) Publikum und Medien­vertreter vom Prozess aus, inklusive Urteils­eröffnung. Den vergebens angereisten Journalistinnen wird die entsprechende Verfügung in die Hand gedrückt und eine anonymisierte Medien­mitteilung in Aussicht gestellt.

Thema des Dietiker Geheim­prozesses sind Drohungen einer Mutter gegen die Lehrerin ihres Sohnes, aber auch allfällige Misshandlungen der Eltern dem Kind gegenüber. Der Strafrichter begründet den Total­ausschluss mit dem Schutz des Sohnes. Dessen Rechts­vertreterin hatte sogar gefordert, die Öffentlichkeit sei überhaupt nicht über den Fall zu informieren.

Diese Idee und das Verhalten des Straf­richters stehen im Widerspruch zu einem Bundesgerichtsurteil, das vier Medien­häuser erst vor wenigen Jahren erkämpft haben und das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: «Die Justiz­öffentlichkeit bedeutet eine Absage an jegliche Form der Kabinetts­justiz, will für Transparenz der Recht­sprechung sorgen und die Grundlage für das Vertrauen in die Gerichts­barkeit schaffen. Der Grundsatz ist von zentraler rechts­staatlicher Bedeutung.» Noch strenger, so das Bundes­gericht, seien die Anforderungen an einen Ausschluss, wenn es nicht um die Verhandlung, sondern um die mündliche Urteils­eröffnung gehe.

Das Bundesgericht lässt keinen Raum für einen Geheim­prozess. Kommt hinzu, dass es mildere Mittel gäbe, etwa einen punktuellen Ausschluss von der Verhandlung oder Auflagen an die Journalisten. Das alles ändert nichts daran, dass die Medien­vertreter stets verpflichtet sind, die Persönlichkeits­rechte der Beteiligten zu wahren – innerhalb und ausserhalb der Gerichtssäle.

Ausserdem gibt es – vor allem im Strafrecht – immer weniger ordentliche Straf­prozesse. Deutlich über 90 Prozent der Straffälle werden im nicht öffentlichen Strafbefehls­verfahren erledigt, kommen also nie vor ein Gericht. Es sei denn, die Betroffenen fechten die vom Staatsanwalt ausgefällte Strafe an, was nicht oft geschieht.

Das Strafbefehlsverfahren bedeutet die Rückkehr des Gross­inquisitors: Es ist der Staatsanwalt, der untersucht und bestraft, meist ohne den Betroffenen auch nur einmal gesehen zu haben; nicht selten einzig und allein aufgrund der Polizeiakten.

Das Strafbefehlsverfahren und die Geheim­prozesse sind das eine, doch es gibt weitere Bestrebungen, den ordentlichen Strafprozess zur «Geister­veranstaltung» verkümmern zu lassen, um es in den Worten des Basler Strafrechts­professors Wolfgang Wohlers auszudrücken. Wohlers macht seine Einschätzung einen Tag vor dem Dietiker Geheim­prozess: an einer Zürcher Tagung unter dem Titel «Straf­prozess­ordnung auf Abwegen», organisiert von der Fachgruppe Reform im Strafwesen.

Richter, Verteidigerinnen und Professoren konstatieren: Der ordentliche Strafprozess ist zum Sonder­fall geworden, das Haupt­geschehen findet im geheimen Vorverfahren statt, im Herrschafts­bereich der Staats­anwaltschaft. Sie erhebt die Beweise und darf die Beweis­anträge der Verteidigung ablehnen. So manches Gericht stützt sich nach Abschluss der Untersuchung massgeblich auf die von der Staats­anwaltschaft ermittelten Beweis­stücke – und verzichtet darauf, Zeuginnen oder Experten vorzuladen.

Das könne nur ein Schweizer Strafrichter, sagt Wolfgang Wohlers: Fälle, bei denen es entscheidend auf die Glaub­würdigkeit der Zeugen ankomme, durch blosses Akten­studium zu entscheiden.

Die Liste der Gründe, weshalb der Straf­prozess zur Farce verkommt, muss durch das abgekürzte Verfahren ergänzt werden, bei dem die Staats­anwältin mit dem Beschuldigten hinter verschlossener Tür einen Deal aushandelt. Das Gericht darf anschliessend nur noch entscheiden, ob die Voraussetzungen für den Deal erfüllt sind. Das hat mit Recht­sprechung nichts zu tun.

Und wie reagiert der Gesetz­geber auf die Kritik? Er schraubt an der eidgenössischen Straf­prozess­ordnung, die noch keine neun Jahre alt ist. Doch die vom Bundesrat Ende August vorgeschlagenen Änderungen – ausgelöst durch diverse parlamentarische Vorstösse – bezwecken nicht etwa die Stärkung des ordentlichen Prozesses. Oder eine Stärkung der Waffen­gleichheit. Im Gegenteil.

Eine wichtige Änderung betrifft die Teilnahme­rechte der Beschuldigten im Vorverfahren: Sie sollen eingeschränkt werden, und zwar ausgerechnet in jenem Verfahrens­stadium, in dem die Staats­anwaltschaft eine dominante Stellung einnimmt. Neu sollen die Beschuldigten erst dann an den Einvernahmen von Zeugen, Auskunfts­personen oder Mitbeschuldigten teilnehmen dürfen, wenn sie sich zum Gegenstand der Einvernahme «einlässlich geäussert» haben. Der Ausschluss gilt auch für die Verteidigung.

Wie lässt sich eine solche Regelung mit dem Aussage­verweigerungs­recht in Einklang bringen? Oder mit dem Recht, sich nicht selber belasten zu müssen?

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