Binswanger

Lügen im Namen des Volkes

Mit seinem Versuch, das Parlament zu entmachten, stellt Boris Johnson die Gewaltenteilung infrage. Nun wird sein Manöver ein Fall für den Supreme Court.

Von Daniel Binswanger, 14.09.2019

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

Hat Boris der Queen ins Gesicht gelogen? Man könnte versucht sein, diese Frage, an der sich die neuste Eskalations­stufe des Brexit-Showdowns entzündet, unter britischer Royals-Folklore abzubuchen. Leben wir nicht in einer Welt, in welcher der amerikanische Präsident das Lügen zur Alltags­routine macht? In welcher der britische Premier nur deshalb in sein Amt gekommen ist, weil er mit inzwischen eingestandenen Propaganda­lügen das Brexit-Referendum für sich entschieden hat? Es gibt keinen unmittelbar einsehbaren Grund, weshalb die britische Monarchin von Johnson anders behandelt werden sollte als die britische Öffentlichkeit. Dass er vom obersten schottischen Gerichtshof nun ausgerechnet für Majestäts­belügung gemassregelt wird, ist aber trotzdem sinnfällig.

Es wirft ein Schlaglicht auf das Grund­problem, welches Johnsons Versuch, das britische Parlament zu entmachten, auf dramatische Weise aufwirft: die Gewalten­teilung. Verhandelt wird die Frage, ob politische Legitimität dadurch entsteht, dass vermeintlich alle dasselbe wollen, oder dadurch, dass möglichst zahlreiche Macht­instanzen die Beschlüsse mittragen. Die Frage, ob die Homogenität des Kollektivs oder die Diversität der politischen Institutionen dem wahren demokratischen Ethos gerecht werden.

Gewaltenteilung oder Volks­souveränität: Diese Alternative bezeichnet immer dann eine unversöhnliche Konflikt­linie, wenn populistische Bewegungen den Versuch machen, die Volks­souveränität zu verabsolutieren. Es ist der Grund, weshalb die Usurpations­gesten von Boris Johnson für unsere Zeit so beispielhaft, so bezeichnend und leider auch so richtungs­weisend erscheinen.

Die unteilbare Souveränität

Was hat das mit der Queen zu tun? Sie ist in der konstitutionellen Monarchie des Vereinigten Königreichs eine Gegenmacht zur Exekutiv­gewalt. Sie waltet nicht als Regierungs­chefin, ist aber das Staats­oberhaupt und hat als solches weitgehende Prärogativen. Zwar befolgt sie in aller Regel die Anordnungen des Premier­ministers, wie eben jetzt die Aufforderung zur Aussetzung des Parlaments­betriebs, aber sie hätte auch das theoretische Recht, sich zu widersetzen. Ihre Gefolgschaft versteht sich nicht von selbst, sie beruht auf Vertrauen. Deshalb wird im Verhältnis zur Königin die Lüge zum staatsrechtlichen Problem. Der Stimmbürger darf beliebig angelogen werden – solange er dumm genug ist, Johnson trotzdem seine Stimme zu geben. Die Queen hingegen hat Anspruch auf ein Verhältnis auf Augenhöhe. Johnsons öffentliche Lügen sind ein politisches Problem – und in heutigen Zeiten ganz offensichtlich eine Strategie, die zum Erfolg führen kann. Johnsons Lügen gegenüber der Queen sind ein Problem der Gewaltenteilung.

Seit der frühen Neuzeit gibt es einen fundamentalen Widerspruch in der modernen Staatslehre. Einerseits wird Souveränität als unteilbar betrachtet. So jedenfalls wollte es Jean Bodin, der in seinen «Sechs Büchern über den Staat» den Boden für den modernen Begriff politischer Souveränität gelegt hat. «Der Staat beruht auf der Einheit der Souveränität», heisst es bei Bodin. Thomas Hobbes schreibt im «Leviathan» kurz und bündig: «Geteilte Gewalten zerstören sich gegenseitig.»

Andererseits entsteht mit dem modernen Staat die Notwendigkeit von Gewaltenteilung und von Toleranz. John Locke führt das Prinzip einer separation of powers in die Staatslehre ein. Alle diese Autoren reagieren auf die Erfahrung der Religions­kriege: Entweder wird der konfessionelle Bürgerkrieg vermieden, indem ein allmächtiger Herrscher alle Differenzen unterdrückt und Einheit erzwingt. Oder die verschiedenen Parteien schaffen multipolare Machtstrukturen – und tolerieren sich gegenseitig.

Wenn der Gesamtwille homogen ist

Potenziell unversöhnlich wird der Gegensatz zwischen diesen beiden Alternativen jedoch erst mit dem Siegeszug der modernen Auffassung von Volks­herrschaft. Die Aufklärung bringt sowohl die Staats­theorie von Montesquieu, der die Gewaltenteilung für die Grund­voraussetzung republikanischer Tugend hält, als auch Rousseaus politische Philosophie hervor, die politische Legitimität auf den Begriff der volonté générale gründet. Dieser Gemeinwille ist nicht der Gesamtwille, nicht die Summe der Willens­äusserungen aller Bürger, sondern homogen und Ausdruck der sittlichen Gesamt­körperschaft des Staates. Erneut ist Souveränität unteilbar, nur handelt es sich künftig um die Volks­souveränität.

Rousseaus «Gesellschaftsvertrag» ist eine grosse Errungenschaft, insofern er begründet, weshalb eine Gemeinschaft nur auf geteilten ethischen Grundsätzen beruhen kann. In seiner vulgären (und historisch wirkungs­mächtigen) Variante ist seine Botschaft eine andere: Er führt zur erneuten Verabsolutierung von ungeteilter Souveränität – im Namen des Volkes.

Genau auf dieser Fiktion – der Fiktion eines homogenen, einheitlichen, klar bestimmten und allein legitimen Volkswillens – beruht nun Johnsons politische Wette. «Das Volk» will den Brexit bis Ende Oktober, und vor diesem Imperativ müssen alle anderen Gewalten zurücktreten. Johnson muss geradezu die Gewalten­teilung unterlaufen, um sich zum Heros der Volks­souveränität zu machen. Er wird einen Das-Volk-gegen-das-Parlament-Wahlkampf führen – und je absoluter, intoleranter und konfrontativer er das tun kann, desto besser für seine – nun ja – Glaubwürdigkeit.

Der Angriff ist – vorerst – abgewehrt

Die Spannung zwischen Gewalten­teilung und populistisch aufgeputschter Volks­souveränität kommt aus den Tiefen der europäischen Geschichte und beherrscht die politische Gegenwart. Sie zeigt sich in der extremen Politisierung des amerikanischen Supreme Courts, die mit der Berufung von Brett Kavanaugh einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Sie zeigt sich in Viktor Orbáns Neutralisierung des Verfassungs­gerichtshofs. Sie ist der Antrieb der permanenten Scharmützel, mit denen die Schweizerische Volkspartei gegen alle öffentlichen Institutionen vorgeht, die sich einem unmittelbar politischen Diktat entziehen: die National­bank, die Universitäten, die SRG und natürlich das Bundesgericht.

Mit dem versuchten Angriff auf das britische Parlament hat die Verabsolutierung der Volks­souveränität eine neue Eskalations­stufe erreicht. Fürs Erste ist er abgewehrt. Westminster hat sich bislang als wehrhaft erwiesen. Am nächsten Dienstag wird sich nun der Supreme Court in London über die Frage beugen, ob Johnson gemäss Verfassung dazu berechtigt war, das Vertrauen der Monarchin zu missbrauchen. Sollte er verurteilt werden, käme er in ernsthafte Schwierigkeiten. Wie die Sache aber letztlich ausgeht, wird politisch entschieden werden, in Grossbritannien nicht weniger als in allen anderen Demokratien. Da könnte Johnsons Rechnung weiterhin aufgehen.

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr