Von Mord, Hass und Clickbait-Quatsch
Nick Drnaso: «Sabrina»
Eine 27-Jährige wird grausam ermordet, der Täter ist schnell identifiziert. Doch damit beginnt die Geschichte erst. Die Graphic Novel «Sabrina» ist eine kluge Abrechnung mit der heutigen Medienrealität. Nun liegt das Werk auf Deutsch vor.
Von Birthe Mühlhoff, 13.09.2019
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Dass Graphic Novels literarisch ebenso anspruchsvoll sein können wie Romane, haben Bücher wie «Fun Home» von Alison Bechdel längst bewiesen. Nur: Mit Literaturpreisen gewürdigt wurden sie bisher nicht. Umso mehr Aufsehen erregte im letzten Jahr «Sabrina» des 1989 geborenen Amerikaners Nick Drnaso mit der Nominierung für die Longlist des Booker Prize. Die Schriftstellerin Zadie Smith bezeichnet das Buch als Meisterwerk, Thomas Melle nannte es «sensationell zeitgenössisch». Nun erscheint das Buch in der schönen Übersetzung von Daniel Beskos und Karen Köhler auf Deutsch.
Es erzählt in Wort und Zeichnung von einem Kapitalverbrechen und dem medialen Umgang damit. Die 27-jährige Sabrina verschwindet, wird grausam ermordet aufgefunden, der Täter, ein junger, einsamer Mann, ist schnell identifiziert. Aber damit beginnt die Geschichte erst.
Teddy fallen die Kurt-Cobain-haften langen blonden Haare wie ein Vorhang ins Gesicht. Er war Sabrinas Freund und kommt über ihren Tod nicht hinweg. Deshalb zieht er für eine Weile zu seinem alten Schulfreund Calvin, den gerade seine Frau samt Tochter verlassen hat. Es beginnt eine gleichförmige Zeit. Einsam hört Teddy stundenlang Radio. Er findet Trost – oder ist es bloss Ablenkung? – in den wütenden Tiraden eines Radiohosts, der an den rechten Verschwörungstheoretiker Alex Jones erinnert.
Doch es kommt noch schlimmer.
Als ein vom Mörder aufgenommenes Video des Verbrechens ins Internet hochgeladen wird, bekommen Teddy und Calvin persönliche Drohungen und irre Anschuldigungen. Sie sollen zugeben, lediglich Schauspieler zu sein. In Wirklichkeit lebe Sabrina noch oder sei auf andere Weise zu Tode gekommen. Die ganze Geschichte sei eine Inszenierung und wie die mörderischen Schiessereien an Schulen nur ein weiterer Versuch vonseiten der Regierung, die Bevölkerung einzuschüchtern, um strengere Waffengesetze durchzusetzen.
Statt Mitgefühl schlägt Calvin und Teddy Misstrauen entgegen.
Die Zeichnungen von Nick Drnaso sind dabei so schlicht und schmucklos, dass die Figuren fast wie Schablonen wirken, wie gesichtslose Puppen, wie Dummys bei einem Crashtest. Die nur mit wenigen Strichen angedeuteten Gesichtszüge lassen vieles unausgesprochen, fast so, als solle man das Umrissene durch die eigene Vorstellungskraft ergänzen. Manchmal liegt ein unlesbarer Ausdruck auf den Gesichtern, was eine eigenartige, düstere Spannung erzeugt.
Obwohl es nach dem Gewaltverbrechen für Sabrinas Angehörige keine Rückkehr in das alte Leben gibt, ist die heimliche Hauptperson dieser Graphic Novel – die Normalität. Drnasos Figuren führen Gespräche, wie jeder sie kennt, in Haltungen, wie sie jeder kennt: an der Küchenzeile lehnend, im ehemaligen Kinderzimmer auf dem Teppich liegend, mit hochgezogenen Knien auf einem wackeligen Stuhl. Die Zeichnungen wirken wie Schnappschüsse. Oder wie ein Film, bei dem man an einer willkürlichen Stelle auf Stopp gedrückt hat. Momentaufnahmen, wie eingefroren.
Ein Roman über die neuen Medien
Das bevorzugte Thema von Comics ist der Superheld – das Aussergewöhnliche, Abnormale. Aber im Gegensatz dazu ist es vielleicht gerade die Graphic Novel, die den medialen Alltag unserer Gegenwart am besten schildern kann – unsere neue Normalität. Artikel, News, Spiele, Kommentare auf Computerbildschirmen und Handys – das alles besteht mindestens so sehr aus Bildern wie aus Text. Was ein konventioneller Roman mühselig beschreiben müsste, fügt sich in die Bilder der Graphic Novel nahtlos ein. Vor dem Einschlafen liest Calvin noch die Nachrichten auf seinem Smartphone. Er scrollt sich durch Clickbait-Quatsch und Infotainment und liest die gehässigen Forenbeiträge zum Fall Sabrina. Denn Teil dieser Normalität ist der Hass.
«Sabrina» ist damit auch eine Reflexion über die heutige Medienlandschaft. Das Video mit der Aufnahme des Verbrechens schickt der Mörder auf VHS-Kassetten an Zeitungsredaktionen. Merkwürdig anachronistisch findet die Rezensentin Namara Smith das in der «London Review of Books»: Wer würde heutzutage Dutzende Kassetten per Post verschicken, wenn er die Aufnahme doch einfach ins Internet stellen könnte?
Aber ist es nicht vielmehr plausibel, dass die verzögerte Verbreitung für den Mörder gerade den Reiz dieses Vorgehens ausmacht? Denn natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Clip, wie es Teddy und Calvin schon befürchtet haben, von jemandem hochgeladen und von Zehntausenden im Internet angesehen wird. Der Mörder in «Sabrina» führt vor, dass grausame Bilder von Verbrechen für viele Menschen zur Normalität gehören – dass er also eine beträchtliche voyeuristische Nachfrage bedient.
Nick Drnaso gelingt es, die dunkle Seite der heutigen Gesellschaft im virtuellen wie im analogen Raum sehr genau auf den Punkt zu bringen. Das ist, obwohl die Treffsicherheit der Beobachtungen oft zum Lachen einlädt, naturgemäss bedrückend. «Sabrina» jedoch schafft dazu den Gegenpol des literarischen Gelingens.
Nick Drnaso: «Sabrina». Aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Beskos und Karen Köhler. Blumenbar-Verlag, Berlin 2019. 208 Seiten, ca. 38 Franken. (Die deutschsprachige Ausgabe ist ab heute verfügbar.)
Nick Drnaso: «Sabrina». Drawn & Quarterly 2018. 204 Seiten, ca. 28 Dollar. Der Verlag für die englische Originalausgabe bietet eine Leseprobe.
Birthe Mühlhoff, Jahrgang 1991, hat Philosophie in Hamburg und Paris studiert. Sie schreibt für «Zeit online», die «Süddeutsche Zeitung» und diverse Zeitschriften, ausserdem übersetzt sie aus dem Englischen und Französischen, unter anderem für den Merve-Verlag und den «Merkur». 2018 erschien «Werbung für die Realität», ein literarischer Essay über das Internet, im Mikrotext-Verlag. Zu ihrem Twitter-Account geht es hier.