Die Physiker

Ein verschlafenes Nest in den Pyrenäen ist der Treffpunkt für eine Gruppe hoch spezialisierter Physiker. Verhandelt wird eine Realität jenseits dessen, was der Mensch erfahren kann – mit dem Potenzial, die Welt zu verändern.

Von Anja Conzett (Text) und Kati Rickenbach (Illustrationen), 07.09.2019

Vorgelesen von Anna-Tina Hess
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New York, Florenz, Jerusalem. Paris, Mekka, Peking, Istanbul, Santiago de Chile – es gibt Orte, die man im Leben gesehen haben sollte, weil das, was dort entstanden ist, die Welt geprägt hat.

Benasque ist nichts davon: ein Hochtal in den spanischen Pyrenäen. 2200 Einwohner in einer Handvoll Dörfern zwischen roten Felsen. Doch könnte, was hier alle zwei Jahre besprochen wird, die Welt grundlegend revolutionieren.

Jeden zweiten Sommer pilgern 250 Physiker in den gleich­namigen Hauptort des Tals, um sich im Kongress­zentrum neben Dorfplatz und Tourismus­büro während dreier Wochen über ihre Forschungen auszutauschen.

Dann wird in dem steinernen Dorf eine neue Wirklichkeit verhandelt: eine, in der alles wahrscheinlich und nichts sicher ist. Eine Wirklichkeit, in der die Summe der Einzel­teile grösser sein kann als das Ganze (→ Verschränkung oder Entanglement).

Zum Glossar

Wir haben zu diesem Text ein ausführliches Glossar zu Namen, Begriffen, Sach­verhalten verfasst. Sie finden den jeweiligen Link zum entsprechenden Stichwort nach dem «→».

Eine Realität, in der ein Ding an zwei Orten gleichzeitig sein kann. In der ein Teilchen sich erst zum Zeitpunkt der Messung für einen Ort entscheidet, an dem es sich aufhält. In der zwei Atome unabhängig davon, wie weit sie zeitlich und räumlich voneinander entfernt sind, quasi telepathisch miteinander verbunden bleiben. Eine Wirklichkeit, in der ein und dieselbe Beobachtung zu widersprüchlichen Aussagen über den Verlauf der Dinge führen kann. Und in der die Antwort auf eine Frage davon abhängt, welche Fragen man sonst noch stellt.

Nichts verstanden? Willkommen im Reich der Quantenphysik.

Fuck you, Newton! – You too, Einstein.

Es ist 10 Uhr morgens, Ende Juni, Mittwoch. Zu heiss für die Tageszeit, zu heiss für den Monat. Und grundsätzlich zu heiss für einen Mittwoch.

Auf dem Platz vor dem Centro de Ciencias de Benasque Pedro Pascual versammeln sich die ersten Physikerinnen.

Sie sind angereist aus Indien, Japan, Hongkong, Kanada, Kolumbien, Brasilien – und aus ganz Europa: Kopen­hagen, Warschau, Barcelona, Paris, Bristol, Edinburgh, Berlin, Düsseldorf, Wien, Genf, Zürich.

Die Quanten­information, um die es an diesem Kongress spezifisch geht, ist so etwas wie die Tochter der Quanten­physik und der Informations­theorie und gerade einmal ein gutes Viertel­jahrhundert alt. Entsprechend erfrischend ist das Publikum: Die meisten der Teilnehmer in Benasque sind Doktoranden und Postdocs, viele sind zwischen 25 und 35 Jahre alt. Einige haben sich auf Hand- und Fussgelenke ihre Lieblings­formeln tätowiert. Einer trägt Rastas, die ihm bis zur Hüfte hinunter­hängen, ein anderer sein Kind auf dem Arm. Und auffallend viele tragen unterschiedliche Socken. Das kann zwei Dinge bedeuten:

  1. Eine Hommage an den pensionierten Wiener Professor für Quantenphysik → Reinhold Bertlmann, der ebenfalls berühmt dafür ist, nie ein Paar gleicher Socken zu tragen.

  2. «Ich sehe einfach keinen plausiblen Grund, meine Zeit mit Socken­sortieren zu verbringen.»

Während manche draussen auf den Fenster­läden, die gleichzeitig Wandtafeln sind, bereits die ersten Gleichungen und Probleme skizzieren und diskutieren, verköstigt sich der Grossteil lieber am Buffet mit Wasser­melone und Gipfeli.

Das gemeinsame Frühstück mit anschliessendem Morgen­meeting ist der einzige feste Termin in → Benasque. Dort, im Hauptsaal im dritten Stock, stellen sich alle vor; mit Namen, Herkunft, wofür man sich im Rahmen der eigenen Forschung interessiert; und es werden die Sessions des Tages und der Woche angekündigt, alle von den Teilnehmerinnen selbst organisiert.

Nach dem Morgen­meeting sind die zehn Wandtafeln auf den Platz hinaus voll ausgelastet. Formeln, Rechnungen, Skizzen – nur schnell, bevor die Sonne so unbarmherzig herunter­brennt, dass einem das Eiweiss im Blut gerinnt.

Manchmal bleiben Touristen vor den unleserlichen Zahlen- und Zeichen­kombinationen stehen. Manchmal schütteln sie ratlos den Kopf, machen Fotos, manchmal entsteht ein Gespräch.

Wenn ein Laie auf einen Physiker trifft, kann das so ausgehen:

«Woran arbeitest du genau?»

«Ich beschäftige mich mit Tensor­netzwerken. Konkret versuche ich, durch Matrix­multiplikationen riesige Quanten­zustände effizient darzustellen.»

«Kannst du mir das noch mal erklären, aber so, als wäre ich sechs Jahre alt?»

«Äh … das habe ich gerade versucht?»

Kopfschmerzen und Inferioritäts­gefühle sind natürliche Begleit­erscheinungen, wenn man sich als Normal­sterblicher unter Quanten­physiker wagt. Doch Durchhalten lohnt sich.

Denn die Quanten­physik ist eines der ganz grossen Abenteuer unserer Epoche.

Ohne diese Wissenschaft des Unvorstellbaren gäbe es keine Computer, Digital­kameras, LEDs, → Laser – und alle Geräte, die sie beinhalten. Der Wissenschafts­autor Brian Clegg schätzt, dass ein Drittel des Brutto­inlandprodukts von Industrie­ländern auf Errungenschaften der Quanten­physik beruht.

Stark vereinfacht gesagt beschäftigt sich Quanten­physik mit dem Verhalten der kleinsten uns bekannten Einheiten dieser Welt – Elementar­teilchen wie Photonen und Elektronen, aber auch Neutronen und Protonen bis hin zu ganzen Atomen und grossen Molekülen. Aber die Forschung ist weit mehr als das: Sie ist ein neuer Weg, über die Welt nachzudenken.

Ein Beispiel: Die Gesetze der Physik, wie sie seit Newton verstanden werden, sind zutiefst intuitiv. Sie gehen davon aus, dass wir, wenn wir wissen, wie das Universum zu einem gewissen Zeitpunkt ist, vorhersagen können, wie es sich verhalten wird. Also: «Sag mir, wie die Dinge sind, und ich sage dir, wie sie später sein werden.»

Aber dann kam Anfang des letzten Jahrhunderts die Quanten­physik und fand: «Fuck you, Newton!» Auf subatomarer Ebene lässt sich nichts mit Sicherheit sagen, wir können nur die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der wir sagen können, wie sich etwas verhalten könnte. Die Welt ist also keine Spieluhr, sondern ein verflixtes Würfel­spiel. Das heisst zwar nicht, dass Newtons Gesetze keine Gültigkeit mehr haben. Doch sie gelten nur noch für einen Ausschnitt dieser Welt.

Wir haben also zwei unterschiedliche Gesetzes­kataloge in ein und derselben Welt, die sich weder mit noch ohne Bruch aneinander­reihen – und irgendwo darüber, darunter und dazwischen liegt das, was der Mensch so gerne «wirklich» nennt.

Windet sich der Verstand schon? Gut. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Denn noch wilder als die Quanten­physik ist das Feld der Quanten­information, in dem sich die Physiker von Benasque tummeln. Sie sind die Exzentriker unter den Nerds, die mavericks unter den Rebellen.

Dazu zuerst ein Blick in die Geschichte: Die Quanten­information wurde unter anderem von der Arbeit von → John S. Bell befruchtet. Bell nahm es mit niemand Geringerem auf als mit → Albert Einstein.

Einstein, der ironischer­weise mit seinen Erforschungen von Quanten­effekten das Feld mitbegründete und dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war die Quanten­physik nicht ganz geheuer. Einerseits, weil sie scheinbar nicht lokal ist, was er → Spooky Action at a Distance nannte und was beschreibt, dass gewisse Teilchen eben quasi telepathisch über Zeit und Raum hinweg verbunden bleiben. Andererseits, weil man es in der Quanten­physik mit Systemen zu tun hat, in denen der Wert einer Messung noch nicht feststeht, bis man zu messen beginnt. In der Welt der Quanten­physik ist es also unmöglich, die Wirklichkeit zu beobachten, ohne sie zu verändern.

Das Grossvater-Paradox ist gar kein Paradox. Es ist ein Antonym! Für mich ist es ein Paradox. Beide Begriffe sind falsch – es geht hier um menschliche Intuition! Und das wisst ihr auch!

Das war dem grossen Physiker zu viel Absurdität – er glaubte an die Klarheit in der Natur. Zusammen mit seinen Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen versuchte Einstein 1935 im → EPR-Paradoxon aufzuzeigen, dass die Quanten­physik unvollständig ist – deshalb die störenden Paradoxe. Und er dachte nach, wie man sie vervollständigen könnte, um die Harmonie wieder­herzustellen. Aber dann kam in den Sechziger­jahren der irische Quanten­ingenieur Bell und stellte in seiner Freizeit eine Ungleichung auf, die den Versuch von Einstein und Co., die Quanten­physik zu vervollständigen, als unmöglich entlarvte. Erst nach Bells Arbeit wurden in der Quanten­physik wieder jene Diskussionen geführt, die Jahrzehnte später die Entstehung der Quanten­information ermöglichen sollten.

In anderen Worten: Am Anfang der Quanten­information stand ein leises «Fuck you, Einstein».

Die Quanten­physik ist bereits hirnerschütternd kontra­intuitiv. Die Quanten­information ist im Vergleich dazu on steroids. Fragt man 40 Quanten­physiker, was Quanten­information ist, erhält man 42 Antworten. Hier eine davon: Sie ist die fundamentale Theorie darüber, was mithilfe der Quanten­physik prinzipiell möglich ist. Angewandt sieht das so aus: Um die vorliegenden quanten­physikalischen Systeme überhaupt untersuchen zu können, werden sie in der Quanten­information derart abstrahiert, dass sie vollständig losgelöst von der für Menschen erfahrbaren Welt existieren.

Im Gegensatz zur Quanten­physik hat die Quanten­information – bis auf ein paar Erkenntnisse, die andere Wissenschaften weiter­gebracht haben, und ein paar wenige kommerzialisierte Technologien wie Zufalls­generatoren für Versicherungen, Banken und Casinos (→ Random Numbers) – noch nichts in unserem Alltag Nachvollzieh­bares hervor­gebracht. Doch das Potenzial scheint gigantisch. Nicht umsonst werden derzeit Milliarden in das Feld investiert und unzählige Beiträge darüber geschrieben.

Stichwort: → Quantencomputing.

Die Forschungen auf dem Gebiet der Quanten­information könnten dazu führen, dass wir Computer bauen können, die so leistungs­fähig sind, dass sie einen heutigen Rechner teilweise so aussehen lassen, wie ein heutiger Rechner einen Rechen­schieber aussehen lässt.

Da ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich mehrere Sessions in Benasque mit dem Thema beschäftigen. Wer aber nicht mindestens einen Bachelor in Physik hat, wird den Diskussionen höchstens fünf Minuten lang folgen können, something, something, → Qbits. Die restlichen anderthalb Stunden heisst es ausharren bei 34 Grad; direkt unter dem Dach, ohne Klimaanlage.

«Oh, das geht mir genauso», sagt Eliza Agudelo, Forscherin am Institut für Quantenoptik und Quanten­information in Wien, während sie tröstend den Arm ihres Gegenübers tätschelt. «Die Sessions sind immer spannend, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr spannend sind.» Agudelo – Kolumbianerin, 35 Jahre alt, Sommer­sprossen, schweifender Blick und ein Doktortitel in Physik – ist erst vor ein paar Wochen von der Quanten­optik in die Quanten­information gewechselt.

Ein seltener Entscheid. Ein mutiger Entscheid. Denn die Forschung in der Quanten­information ist so hoch spezialisiert, dass sogar Physiker, die mit dem gleichen Teilthema beschäftigt sind, Mühe haben, einander zu folgen. Der Preis, den Agudelo für ihren Wechsel bezahlt, ist: sehr viel härter arbeiten zu müssen, um die Fach­expertise von Kollegen zu erreichen, die eine lineare Karriere verfolgen.

Trotzdem ist ihr die Entscheidung leichtgefallen. Einerseits, wie sie sagt, weil die Quanten­information eines der Felder ist, in dem sich gerade besonders viel tut; weil sie grenz­überschreitend und inter­disziplinär ist; und weil im Unterschied zu etablierten Gebieten nicht eine Gruppe an einem Problem arbeitet, sondern mehrere Gruppen an mehreren Problemen. Andrerseits: «Wegen der Community.» Sie sei jünger, diverser, offener.

Ein beachtlicher Teil dieser Gemeinschaft hat sich zum Abendessen versammelt. Alle sind sich einig: Die Community der Quanten­information ist eng verstrickt. In Benasque speziell. Viele kommen schon seit Jahren hier hoch. Man kennt sich, ist befreundet.

So bringt man sich an den ersten Abenden bei Tapas und Bier erst einmal auf den neuesten Stand: Wo steckt man, wie geht es dem Partner, wer hat Kinder – und es wird getratscht: Warum zum Teufel ist die Piratenbar zu? Der Besitzer ist wegen Drogen­handels im Gefängnis. Und was ist mit dem Nachtclub? Der Besitzer hat sich letztes Jahr das Leben genommen.

Gesprächsthema Nummer eins in dieser Runde: die «Industrie», die dieses Jahr zum ersten Mal in Benasque vertreten ist. Bislang interessierte sich für Benasque nur die Akademia. Die Industrie ist ein neuer Player im Feld, den manche Physiker mit einem gewissen Unbehagen registrieren.

Quantum, Kant und Kante

Die Hitzewelle über Spanien hält an. Noch hitziger als die Temperaturen sind an diesem Nachmittag in der ersten Woche des Quanten­informations­camps aber die Diskussionen. Der Moderator, der zu der Session eingeladen hat, bemüht sich, die Situation zu deeskalieren. Vergebens. Nach fünf Minuten in der Debatte geht es ans Grundsätzliche; zehn Minuten, dann kommen die persönlichen Beleidigungen. Im Jargon der Physiker klingt das so: «Du Ingenieur!»

Eine Dynamik, wie man sie von religiösen oder politischen Debatten kennt – aber von einer Natur­wissenschaft?

→ Richard Feynman, Mitarchitekt der Atombomben, die über Hiroshima und Nagasaki niedergingen, und Nobelpreis­träger für seine Forschung auf dem Gebiet der Quanten­elektrodynamik, sagte einmal: «Wer glaubt, er habe Quanten­physik verstanden, hat sie nicht verstanden.»

Es gibt keinen Weg, reelle Werte zu messen! Das ist eine Frage, oder?

Er könnte sich dabei auf das bezogen haben, worum es bei dieser aufgeladenen Session in Benasque geht: das → Measurement-Problem. Manche sagen, es sei überhaupt kein Problem, andere sagen, es sei das fundamentalste aller Probleme und dass wir Quanten­physik nie verstehen würden, ohne es zu lösen. Falls es überhaupt lösbar ist.

Stark vereinfacht geht es beim Measurement-Problem um die Frage, wie die Messwerte entstehen, die wir schliesslich an den Apparaturen eines Experiments ablesen. Dieses Problem wirft dann jedoch noch mehr Fragen auf wie zum Beispiel die alles zerfetzende Frage, an welchem Punkt die Gesetze der erfahrbaren Welt – also die Gesetze der klassischen Physik von Newton und Co. – ihre Gültigkeit verlieren und wo die Gesetze der Quanten­physik beginnen.

Wo liegt diese Grenze? Und, viel wichtiger: Gibt es sie überhaupt? (→ Heisenberg-Cut) Und was heisst das für alles, was wir über die Welt zu wissen glauben, wenn es sie nicht gibt?

Letztlich ist es eine hoch philosophische Frage. Die Frage, ob es die eine grosse Wahrheit gibt, die alles beschreibt, was in dieser Welt geschieht – und die wir Menschen uns so sehnlich wünschen; oder ob mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren können, die einander scheinbar zuwiderlaufen.

In der Measurement-Session reicht es irgendwann einem der wenigen Konferenz­teilnehmer mit grauen Haaren: Er erhebt sich aus der hintersten Reihe und sagt: «Am Ende des Tages gilt: Damit wir unsere Arbeit machen können, müssen wir für den Moment einfach aushalten, dass die Theorien, die wir anwenden, nur den Teil der Welt erklären, den wir gerade betrachten.»

Marcelo França Santos, Professor der Universität Rio de Janeiro, kurz, breit, pausige Bäckchen, hohe Stirn und schmale Augen, die das Gegenüber unentwegt mustern, kommt seit 16 Jahren nach Benasque. Er und sein Kollege Marcelo Terra Cunha gelten als zuverlässige Talent­schmiede, die in den letzten Jahren einige der besten Quanten­informations­physiker Südamerikas geschult und auf die Welt losgelassen haben.

Seit 26 Jahren macht França Santos die gleiche Übung. Er geht nach Hause, denkt darüber nach, woran er gearbeitet hat, und gesteht sich ein, dass er nicht komplett versteht, was seine Arbeit im Grossen und Ganzen bedeutet. Das muss er auch nicht zwingend. Denn: «In der Quanten­physik können wir problemlos mit Konzepten rechnen, ohne dass wir sie vollständig verstehen.»

Zu den Anhängern der → Shut Up and Calculate-Bewegung, die sämtliche philosophischen Fragen der Quanten­physik am liebsten für immer ignorieren würde, will er aber nicht gehören. Letztlich sei es eine Frage des Fokus und der Verhältnis­mässigkeit.

In der Quanten­physik kann sich das Resultat einer Beobachtung durch den blossen Akt der Beobachtung verändern (→ Measurement Backaction). Das ist eine Realität, die vorher nur aus den Zwittern der Geistes- und der Natur­wissenschaften bekannt war – der Soziologie, der Anthropologie und der Ethnologie etwa –, aber nicht in den klassischen Natur­wissenschaften.

Gepaart mit der Erkenntnis, dass nichts sicher ist, sondern alles nur wahrscheinlich, ist der Interpretations­spielraum in der Quanten­physik und ihrer potenzierten Tochter, der Quanten­information, immens grösser als in anderen natur­wissenschaftlichen Forschungs­gebieten. Dieses Vakuum ist ein Einfallstor für esoterischen Übereifer – und viele Quanten­physiker sind deswegen gebrannte Kinder.

«Die Resultate unserer Berechnungen werden von den philosophischen Fragen nicht beeinflusst», sagt França Santos. «Sehr wohl aber, welche Forschungs­fragen wir stellen.»

Und: Die Frage, die John Stewart Bell in seinem berühmten Theorem in den Sechzigern empirisch beantwortbar machte, wurde von den Urvätern der Quanten­physik noch für eine rein philosophische Frage gehalten. Es ist also unerlässlich, dass sich die Quanten­physik mit diesen philosophischen Fragen beschäftigt.

«Reden wir drüber», sagt França Santos, «aber bitte – fangt keinen Krieg an deswegen.»

Am Abend, wenn alle Sessions durch sind, trifft sich ein Rudel der Physiker von Benasque jeweils in der Bar Petronilla. Ein Teil spielt drinnen Billard, Tischfussball oder Schach, während beruhigend belanglose Popmusik aus den Boxen wummert. Die meisten aber stehen draussen und führen die Diskussionen des Tages weiter; mehr oder weniger entspannt. Die radikalen → String­theoretiker, → QBisten, → Many-Worlds-Propheten und Verfechter des → Kollapsmodells sind in Benasque nicht vertreten. Jedenfalls nicht in der Bar. Jedenfalls lassen sie es sich nicht anmerken. Jedenfalls nicht an diesem Abend.

In der «Petronilla» hat man sich längst an das eigentümliche Publikum gewöhnt. Der Besitzer hat vor Jahren schon eine Wandtafel aufgehängt, damit die Physiker nicht die Servietten und Bierdeckel vollkritzeln, weil sie in jedem Zustand noch Probleme lösen wollen.

Nach der Measurement-Session sind die Probleme vorwiegend philosophisch. Mancher Teilnehmer in Benasque hat dem Physik­studium noch ein Philosophie­studium angehängt, die meisten sind zumindest versierte Autodidakten.

Also, es gibt Systeme, die treu und monogam sind, und das bedeutet… Nicht doch! Verschränkungsmasse können entweder treu oder monogam sein – aber nie beides gleichzeitig. What the fuck? Jedes mal, wenn ich glaube, ich habe was verstanden… Haha! Voll. Aber weisst du, manchmal bedeutet Verstehen auch einfach auszuhalten, dass man nicht alles gecheckt hat!

Irgendwann kommt Kant ins Spiel; weil Kant ja immer irgendwann kommt; weil er ja immer irgendwie recht hat, der alte Sack; wenigstens ein bisschen – aber es ist jetzt 3 Uhr früh und gefühlte zwei Promille zu spät für die Erkenntnis­theorie.

Aber irgendwann gibt sich auch der letzte Philosoph die Kante. Und sagt: gute Nacht, Immanuel.

La Bohème

Es ist Wochenende und so heiss, dass das Sekretariat des Centro Hitze­warnungen aushängt. Vorsicht vor ausgiebigen Wanderungen und eine Warnung an die Raucher, sich nicht zu lange auf den glühenden Steinplatten aufzuhalten.

Manche lassen sich davon nicht abschrecken, einen Gipfel zu stürmen. Andere nutzen das Wochenende, um an einem der Computer­plätze zu arbeiten. Und für zwanzig gibt es den ersten von zwei «Hippiehikes». Eine Stunde Marsch bis zu den Wasser­fällen, die aus fast violettem Fels springen; danach Picknick neben dem Fluss – Käse, Brot, jamón und Kirschen. Drei Decken, zwei Flaschen Wein, ein Joint und Yann Tiersen aus der Boombox. Kitsch, der Stoff, aus dem die Sehnsucht ist.

Ausnahmsweise drehen sich die Gespräche kaum um Quanten­physik oder ihre Philosophie. Stattdessen geht es um Literatur, Musik, Kunst. Architektur, Psychologie, Sport und Politik.

Alles auf verdammt hohem Niveau.

Obwohl es sich bei der Quanten­information um eines der vermutlich nerdigsten Forschungs­gebiete unserer Zeit handelt, sind die Physiker, die dazu forschen, alles andere als Nerds. Sie sind gesellig und breit interessiert. Vielleicht kompensieren sie mit ihrer Welt­gewandtheit den Umstand, dass ihr Feld vollkommen losgelöst von der geteilten Realität der restlichen Menschheit existiert. Vielleicht ist es historisch bedingt.

«Kulturträger» sollten sie sein, hatten die Begründer der Quanten­physik – → Einstein, → Heisenberg, → Bohr und → Schrödinger – schon in den 1920ern von ihrer Zunft gefordert. Im Feuer des Zweiten Weltkriegs und im Nichtfeuer des Kalten Krieges ging diese Haltung der Physik beinahe verloren, wie der MIT-Professor David Kaiser in seinem Buch «How the Hippies Saved Physics» beschreibt. Erst im Aufwind der 68er-Bewegung mit ihrer Jeunesse, Verspieltheit, dem radikalen Freidenken und den vielen psychedelischen Drogen, die das alles befeuerten, beriefen sich die Physiker wieder auf die Denkweise, die die Quanten­physik ein halbes Jahrhundert zuvor erst ermöglichte.

Die Hippie-Physiker befassten sich wieder mit jenen grundsätzlichen Fragen der Quanten­theorie, die Bell einst aufwarf und die der Quanten­information schliesslich den Weg ebneten. Im Enthusiasmus des New Age verrannten sich die Exponenten teilweise ins Esoterische – doch das habe ihren Errungenschaften bezüglich der Quanten­physik keinen Abbruch getan, stellt Kaiser fest.

In Sachen politisches Engagement stehen die Physiker von Benasque ihren Hippie-Wegbereitern in nichts nach. Viele sind politisch aktiv. Die meisten irgendwo links. Einige hart links; Kommunisten, Anarchisten (→ Paul Feyerabend).

Dass man als Wissenschaftler Feminist, Antirassist und Klassen­kämpfer ist, ist für Marcelo França Santos keine Selbst­verständlichkeit – es ist eine Bedingung: «Ganz einfach, weil es sich die Forschung nicht leisten kann, auf das menschliche Potenzial zu verzichten, das sonst flöten geht.» Kurz kommt Bewegung in den sonst ruhigen, konzentrierten Mann: «Man stelle sich vor, wo wir heute sein könnten, hätten wir allen Frauen, Dunkel­häutigen und Arbeiter­kindern die Chance gegeben, ihren Interessen zu folgen und ihrem Talent gerecht zu werden!» Dann fasst er sich wieder: «Ganz abgesehen davon ist es moralisch das einzig Richtige.»

Als Jair Bolsonaro in Brasilien zum Präsidenten gewählt wurde, hat sich Marcelo França Santos entschieden, sein politisches Engagement zu intensivieren – indem er tut, was er am besten kann: Wissenschaft unterrichten. Mehrheitlich in seiner Freizeit gibt er Workshops und Events für mehrere Tausend Kinder aus den Kinder­gärten und Schulen der armen Bezirke des Staats Rio de Janeiro. Das Ziel einerseits: dem miserablen Standard an öffentlichen Schulen entgegen­zuwirken. Andrerseits: die Geistes­haltung des Forschers zu vermitteln – das freie Denken zu fördern.

Je faschistoider, reaktionärer oder traditioneller eine Gesellschaft ist, desto schlechter steht es um die Wissenschaft. Denn der Kerngedanke der Forschung ist der Fortschritt. Per se ist sie also angewandter Anti­konservatismus – counterculture by default.

In Benasque seien die Freigeister und animaux politiques auch für wissenschaftliche Verhältnisse übervertreten, sagt França Santos. Ein bisschen liegt es an der Geschichte und der Beschaffenheit der Quanten­information. «Ein bisschen sicher auch einfach an Benasque.»

Tracey Paterson – kurze, grauschwarze Haare, die eine Iris blau, die andere grün – beugt sich über eine Landkarte, um einem Physiker, der mit Familie angereist ist, dabei zu helfen, eine kinder- und temperatur­gerechte Wander­route zu finden.

Seit elf Jahren ist sie Sekretärin im Zentrum, das 2008 eigens um diesen Kongress herumgebaut wurde von der Tochter des spanischen Quanten­physikers Pedro Pascual, der Ende der Neunziger­jahre seine Forscher­kollegen zum ersten Mal nach Benasque lud.

Der Quanten­informations­anlass ist noch immer der grösste und längste. Mittlerweile stemmen Paterson und ihr Team aber insgesamt zwanzig Konferenzen im Jahr. Manchmal zeigen sie auf der Leinwand im Auditorium auch Opern oder Theater für die Winter­touristen. Die meisten Anlässe aber stammen weiterhin aus dem Bereich der Natur­wissenschaften. Der Ruf des Teams in der Wissenschafts­community ist unterdessen so gut, dass es auch für Kongresse ausserhalb gebucht wird – in Barcelona, Brasilien, Shanghai.

Paterson stammt ursprünglich aus Schottland, hat ein paar Jahre in einem Dojo in Japan gelebt und ist eigentlich Biochemikerin. Das helfe, sagt sie. Wissenschaftler sind ein anspruchs­volles Publikum. Sie brauchen ein fein tariertes Gleich­gewicht zwischen Freiraum und Betreuung.

Was die Quanten­information von anderen Konferenzen unter­scheidet, ist die freie Gestaltung des Programms.

Herkömmliche Konferenzen sind strikt durchgetaktet – Vortrag an Vortrag, einen Nachmittag zur freien Gestaltung in der Woche, kaum Platz für Diskussionen. Am Quanten­informations­kongress bestimmen die Teilnehmer, worüber sie diskutieren wollen. Powerpoint-Präsentationen oder das blosse Vorstellen der eigenen Arbeit sind verpönt. Es geht nicht um Eigen­werbung, sondern um Informations­austausch – nicht um die Resultate, sondern um die Probleme, die man hat.

Und dann sei da der soziale Aspekt, sagt Paterson. Durch die vielen Freizeit­aktivitäten wirkt Benasque tatsächlich weniger wie ein Kongress als wie ein Sommercamp: Fussball, Wandern, Salsa, Poolpartys, Pingpong, Canyoning und Yoga. Auch das ist alles von den Teilnehmerinnen selbst koordiniert.

Die Kontakte, die bei diesen Aktivitäten geknüpft würden, seien von anderer Qualität, sagt Paterson. Das wirke sich auch auf spätere Kollaborationen aus.

Benasque hat den Ruf, ein Trendsetter zu sein. Die Ideen und Fragen, die hier besprochen und gestellt werden, weisen oft in die Richtung, in welcher die Quanten­information in den nächsten zwei Jahren forschen wird.

Vielleicht liegt es am Karaoke. Zumindest ist der Event so beliebt, dass er gleich dreimal stattfindet – in jeder Woche einmal.

Gesungen wird Whitney Houstons «I Wanna Dance with Somebody», Britney Spears’ «Toxic» oder auch, tief aus der Nischen­kiste gegriffen: «Die Arbeiterinnen von Wien».

Genya Crossman singt «Come on Eileen». Kaum einer kennt den Klassiker von «Dexys Midnight Runners», kaum einer singt mit, aber das beirrt die schnell sprechende, noch schneller denkende Amerikanerin mit dem ansteckenden Lachen und den immer leicht aufgerissenen blauen Augen nicht. Sie rockt den Song auch allein. Die charismatische 26-Jährige ist eine der beiden Vertreterinnen der Industrie – als Quanten­ingenieurin ist sie beim kalifornischen Quantumcomputing-Start-up Rigetti angestellt.

Sie hat Physik studiert und sich im Studium schon immer gefragt: Und was macht man jetzt daraus? Nach dem Bachelor ist sie in die Industrie gewechselt; aus Interesse daran, ein Produkt zu entwickeln; etwas, was von konkretem Nutzen für die Menschheit ist.

Als Ingenieurin fühle man sich in Benasque schon manchmal wie eine Aussen­seiterin – «die Schere zwischen Experimentalisten und Theoretikern», sagt sie. Ansonsten spüren Crossman und ihre Kollegin aus London nichts vom Unbehagen, das einige Physiker gegenüber ihrer Teilnahme hegen.

Ob man ihr gegenüber nun wohlgesinnt oder misstrauisch ist: Die plötzliche Präsenz der Industrie in Benasque markiert einen tipping point im Feld der Quanten­information.

Im letzten Jahr haben die USA, China und Europa Milliarden für die Quanten­forschung gesprochen, und asiatische Telecom­konzerne investieren mit beiden Händen aus Furcht davor, zum nächsten Nokia zu werden. Dazu schiessen Dutzende Start-ups aus dem Boden, die ein Stück vom Kuchen haben wollen.

Das Feld der mavericks wird zum professionellen Rennstall.

Das bringt Geld, Aufmerksamkeit – und Wandel. Bislang war die Quanten­information leicht genug, um sie mit viel Freiheit zu manövrieren – das Steuer fest in der Hand der jungen Wilden. Nur: Wie lange noch?

Der Karaoke­abend neigt sich dem Ende zu, und irgendwann singt einer der Franzosen «La Bohème» von Charles Aznavour; aus voller Brust: Ça ne veut plus rien dire du tout?

Doch bevor die Melancholie um sich greifen kann, legt irgend­einer noch mit Queen nach: «Don’t Stop Me Now».

Die Physiker*innen

Die Physiker der Quanten­information sind gern gesehene Gäste in Benasque. Nicht nur, weil sie gute Esser und Trinker sind oder weil das Centro dem Wintersport­ort verlässlich die Sommer- und Neben­saisons rettet. «Einfach angenehme Menschen», sagt der Barkeeper im «Petronilla». Nur rechnen könnten sie nicht, diese Physiker, heisst es in den Restaurants – weil sie verlässlich für 4 Personen reservieren und dann mit 14 auftauchen.

Beim Abend­essen im Nachbar­dorf Ansils, dessen weisse Schokoladen­suppe so legendär ist, dass sie schon in Master­arbeiten verewigt wurde, sitzen an diesem Abend 25 Physiker. Genauer gesagt 20 Physiker und 5 Physikerinnen. Es geschieht etwas, was man an der Konferenz oft beobachten kann: Die wenigen Frauen sitzen in die gleiche Ecke des Raums, keine sitzt allein. → Clustering nennt man das in der Soziologie, entlehnt von einem Phänomen der Physik und ein paar weiteren Naturwissenschaften.

Wie in fast allen Mint-Feldern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sind Frauen auch in der Quanten­information unter­vertreten. In der Physik allgemein beträgt der Frauen­anteil etwa 30 Prozent. In Benasque sind von 250 Teilnehmern rund 30 Frauen – 12 Prozent.

Seth Lloyd schätzt den Frauen­anteil in der Quanten­information insgesamt auf 20 Prozent. «Das war früher anders.» Lloyd ist Professor am MIT, am Massachusetts Institute of Technology, hat langes graues Haar, graublaue Augen, zarte Gesichts­züge und wirkt immer so, als hätte er gerade zwei Stunden meditiert. Seit 1997, der ersten Konferenz überhaupt, kommt er nach Benasque. Er ist ein Pionier in der Quanten­information – und einer ihrer Stars. Als er vor 25 Jahren auf dem Feld, das damals noch ein Acker war, mit seinem Doktorat begann, lag der Frauen­anteil bei 50 Prozent – zehn Frauen, zehn Männer. Warum es heute anders ist? «Je etablierter und prestigeträchtiger – also je kompetitiver – ein Feld wird, desto mehr Männer sind dort unweigerlich anzutreffen.»

Zum Fall Seth Lloyd / Jeffrey Epstein

Postskriptum: Nachdem dieser Text schon geschrieben war, kam heraus, dass einer seiner Protagonisten, Seth Lloyd, für seine Forschung Geld von Jeffrey Epstein angenommen hatte. Dies unter anderem nachdem der unterdessen verstorbene Milliardär erstmalig wegen Zuhälterei und sexuellen Missbrauchs von minder­jährigen Mädchen verurteilt worden war. MIT-Professor Lloyd gestand zudem, eine persönliche Beziehung zu Epstein gehabt und ihn unter anderem im Gefängnis besucht zu haben. In einem Entschuldigungsbrief an Epsteins Opfer schreibt er von professionellem wie moralischem Versagen seinerseits. Und weiter: «Indem ich mich weiterhin am Gespräch mit Mr. Epstein zwischen mir und anderen Wissenschaftlern beteiligte und dadurch, dass ich seine Spenden weiter angenommen habe, habe ich Mr. Epstein dabei geholfen, seine Reputation zu schützen und seine Opfer zu entmächtigen. Ich hätte mich auf sie konzentrieren sollen statt auf ihn.»

Das Entsetzen über Lloyds Verhalten in der Quanten­informations­community ist gross. Insbesondere bei feministischen Aktivistinnen wie der Physikerin Juani Bermejo-Vega.

Auf dem Weg zurück von Ansils nach Benasque lassen sich vier Frauen hinter die Gruppe zurückfallen. Nicht lange, da dreht sich das Gespräch um den unbewussten sexistischen Bias im Feld, den sie erleben; dass man aggressiver mit ihnen spricht als mit männlichen Kollegen, wenn sie zu einem anderen Schluss kommen: «Wie genau kommst du darauf?» versus «Du liegst falsch, das stimmt nicht!» Es geht um Belästigung: um Assistenz­professoren und Teamleiter, um die man einen Bogen machen sollte. Es geht um das tödliche Gefühl der Isolation; die brechende Einsamkeit, die einzige Frau in der Gruppe zu sein – so viel zu erklären, dass man es irgend­wann vorzieht, zu schweigen.

Und dann ist da noch das Impostor­syndrom: dieser permanente Zweifel daran, gut genug zu sein; egal, wie oft die eigene Arbeit gelobt oder zitiert wird – und ja, klar, Männer leiden auch daran, aber wenigstens leiden sie nicht ganz so allein … oder? Und schliesslich geht es um eine Diskriminierung, die noch immer so selbst­verständlich ist, dass die Täter nicht mal daran denken müssen, sie zu verhüllen – wie ein Professor in Österreich, der kürzlich in einer Runde mit männlichen Studenten gesagt haben soll, er stelle keine Frauen ein, weil die sowieso nur schwanger werden würden; so zumindest hat es einer der Wiener Burschen erzählt, der dabei war.

Nach der Hälfte der zwei Kilometer nach Benasque laufen die Frauen, die sich kaum mehr als ein paar Abende kennen, Arm in Arm – sich überwiegend scherzhaft und immer auch ein bisschen ernsthaft vor dem fürchtend, was alles auf sie lauern könnte, hier, in der Dunkelheit, die sie auf einem Weg ohne Kandelaber umgibt.

Ein rarer Moment geteilter Verletzlichkeit. Denn ausserhalb der Intimität solcher Frauen­runden sind die Physikerinnen von Benasque allesamt harte Kriegerinnen, die keine Zeit für Bullshit haben – eine jede entweder verdammt gut in dem, was sie tut, oder auf dem Weg dahin, verdammt gut zu sein. «Ist ja nicht so, als hätten wir eine andere Wahl», sagt eine der Frauen trocken.

Am nächsten Tag findet eine Session dazu statt. Titel: Diversity. Anders als am Vorabend geht es dabei weniger um Probleme als um Lösungen. Fast alle Frauen der Konferenz sind gekommen; an die hundert Teilnehmer insgesamt; die meisten sind Männer, notgedrungen.

Die hohe Beteiligung ist auch darauf zurück­zuführen, wer geladen hat. Juani Bermejo-Vega, 31 Jahre, dicke Lidstriche über runden grünen Augen, kehliges Lachen, Kirschmund, Doktortitel. Bermejo-Vega kennt jeden in Benasque – die Physiker, die Veranstalter, die Dorfbewohner –, und jeder kennt sie. «Queen of Quanta» oder «The Real Quantum Mama» trägt liegen gebliebene Telefone nach, übersetzt auf Spanisch und zurück, wo immer jemand Übersetzung braucht, und sorgt dafür, dass jene, die es schaffen, sich spätnachts aus ihrem Airbnb auszuschliessen, doch noch einen Schlafplatz finden. Vor ein paar Jahren war Fussball praktisch die einzige Freizeit­aktivität am Kongress. Das fand die Physikerin zu wenig inklusiv, also führte sie Karaoke ein.

Es ist Bermejo-Vegas drittes Mal in Benasque und das erste Mal, dass sie als Frau teilnimmt.

Manchmal bringen Kollegen die Pronomen durcheinander, nennen sie beim männlichen Vornamen, den sie abgelegt hat, oder stellen ein wenig zu persönliche Fragen – zum Beispiel, ob sie Hormone nimmt – that’s it. Ansonsten hat die Community ausnahmslos positiv reagiert. Sie grinst. «Was soll ich sagen? Ich bin eine liebenswerte Person, ich bin extrovertiert, die Menschen mögen mich.» Und noch etwas: Innerhalb ihres Forschungs­gebiets gehört sie der absoluten Elite an, so attestieren es ihr Kollegen wie Professoren. Als Bermejo-Vega letztes Jahr ihr Coming-out hatte, war sie für ihre Arbeit bereits so hoch respektiert, dass ihr niemand mehr etwas konnte. Intouchable.

Bermejo-Vega weiss, dass es andere nicht so leicht haben wie sie; sei es wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Identität oder wegen ihrer Herkunft. Letztes Jahr hat sie QTurn mitgegründet: einen Quanten­informations-Kongress, der möglichst diverse Referenten und Teilnehmer einlädt. In erster Linie eine Research-Konferenz, wie es viele im Feld gibt, aber auch ein inklusiver Event, an dem sich alle sicher fühlen sollen. «Was QTurn so besonders macht, ist, dass wir nebst unserer Forschung auch über Themen reden, die uns als Community betreffen – Gender, Arbeits­recht, Gesundheit und Chancen­gleichheit.» Eine der referierenden Professorinnen liess die Veranstalterinnen im Anschluss wissen, dass es die erste Konferenz war, bei der sie das Gefühl hatte, wirklich dazuzugehören. Das Konzept hat eingeschlagen. So, dass es unterdessen auch an anderen Konferenzen Workshops zu diesen Themen gibt – auch ohne das Zutun Bermejo-Vegas und ihrer Mitstreiterinnen.

Nebst Bermejo-Vega referieren fünf weitere Teilnehmer. Eine Studie über LGBT+ in Physik wird vorgestellt, und auch Genya Crossman spricht – rasend und dicht – über ihre Erfahrungen in der Mint-Industrie, wo der Wind für Frauen noch ein paar Knoten härter zu wehen scheint.

Zweieinhalb pausenlose Stunden dauert die Session, nur wenige verlassen den Raum frühzeitig, die Diskussion ist angeregt, viele Fragen werden gestellt. Bermejo-Vega nickt zufrieden.

Im Anschluss an die Session findet der wöchentliche Weinempfang statt – Paella, Oliven, Lachstatar –, danach steht Salsa auf dem Programm.

Eliza Agudelo wippt vorfreudig mit den Hüften. Die Forscherin trägt aus Prinzip nur Kleider; heute ein blaues ohne Ärmel. Sie war 18 Jahre alt, als ihr damaliger Professor sagte, Frauen hätten in der Physik nichts zu suchen.

Agudelo ist in Medellín aufgewachsen, ihr Vater ist Metall­schlosser, die Mutter hat das Studium zugunsten der Kinder unterbrochen, und weil Agudelo aus Kolumbien stammt, nehmen sie die Europäer, unter denen sie schon seit acht Jahren lebt, oft erst einmal nicht als ebenbürtige Gesprächs­partnerin wahr. Zumindest so lange, bis sie beiläufig fallen lässt, dass sie einen Doktor­titel in motherfucking Quanten­physik hat.

Sexismus, Rassismus, Klassismus – Eliza Agudelo hat alles schon erlebt. Sie hebt die rechte Augenbraue und zuckt die Schultern.

«Das Leben eines Postdoktoranden ist grundsätzlich hart», sagt sie. Und für jene, die nicht als schwach pigmentierter, hegemonialer Mann auf dem wohlhabenden Fünftel dieser Welt geboren sind: «noch härter».

Postdoc-Stellen sind im Verhältnis zum Grad der Ausbildung oft beschämend bezahlt und in der Regel auf ein bis zwei Jahre befristet. Agudelo und ihre Kollegen sind also ständig auf Jobsuche. Die neue Stelle liegt dann mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem anderen Land oder gar auf einem anderen Kontinent. Jeder Umzug entwurzelt, kostet Nerven, Zeit und Geld. In Grossbritannien muss man allein für den Papierkram bis zu 9000 Pfund bezahlen, um mit einer dreiköpfigen Familie einwandern zu können.

Familie ist ein weiteres Stichwort. Jemanden zu finden, der dieses Nomaden­leben mitmacht, ist unwahrscheinlich, also führen viele Fern­beziehungen über mehrere Jahre und Tausende von Kilometern. Das Phänomen ist so häufig, dass es einen eigenen Namen hat: das «Two-Body-Problem». Familiengründung ist dann das «Three-Body-Problem». Ersteres ist in der Physik vollständig lösbar. Zweiteres nicht. Auch hier sind Frauen benachteiligt, weil sie weniger lange mit dem Kinder­kriegen warten können und es in der Gesellschaft noch immer Usus ist, dass die Frau ihre Karriere­wünsche irgendwann denen des Mannes unterordnet.

Die Chance, dass die zähen Wanderjahre in einer festen Stelle münden, sind noch dazu marginal.

«Abbruchkante» wird das Phänomen genannt, bei dem hoch ausgebildete Akademiker, die Jahre in der Forschung verbracht haben, der Wissenschaft verloren gehen. Ein gigantischer Braindrain, den sich die Universitäten bislang nur leisten konnten, weil Quanten­informations-Forscherinnen keine andere Wahl hatten, als in der Akademia zu bleiben, wenn sie auf ihrem Gebiet weiterarbeiten wollten.

Mit 35 gehört Agudelo zu den Veteraninnen unter den Postdoktoranden. In den letzten zwölf Jahren ist sie fünfmal umgezogen – von Kolumbien nach Brasilien, von Brasilien wieder nach Kolumbien, von Kolumbien nach Deutschland, von Deutschland nach Italien, von Italien nach Wien. Ihren Partner musste sie beim letzten Umzug in Italien zurücklassen.

Die Stellen, die momentan in der Industrie entstehen, könnten das Akademiker-Prekariat verbessern. Aber sie könnten die akademische Forschung auch kannibalisieren.

Logisch wäre, dass die Universitäten im Bereich der Quanten­information mit der boomenden Industrie bei den Löhnen schnell mitziehen würden, um konkurrenz­fähig zu bleiben. Und dass mehr Förder­gelder automatisch mehr Festanstellungen bedeuteten.

«Da habe ich wenig Hoffnungen», sagt ein Postdoktorand, der seinen Namen lieber nicht nennen will: «Universitäten sind strukturell sehr behäbige Tierchen.»

Bis vor kurzem war es für Eliza Agudelo noch unvorstellbar, das akademische Umfeld zu verlassen. Heute denkt sie etwas anders darüber.

Die Salsa-Session ist derweil in vollem Gang, und zum letzten Mal für heute herrscht Not an der Frau: Damenwahl.

Bombenstimmung

Es ist viel los in diesen Wochen in Benasque, auch ausserhalb der Konferenz. Während die Sonne wieder gnädiger scheint, werden draussen auf dem Platz die Überreste des Dorffests zusammen­geräumt – vier Tage lang Prozessionen, Gesang, Kreistänze in mittelalterlichem Kostüm um eine von den Gladiolen fast verdeckte Jesusstatue mit zu grossem Kopf; und vier Abende schlecht abgemischte Rockmusik mit Bier aus dem Liter­becher bis in die frühen Morgen­stunden, in denen betrunkene Heimkehrer auf die ersten Wanderinnen treffen.

Während das Dorffest abzieht, zieht das Schach­turnier ein in die Mehrzweck­halle am Rand des Dorfs, behängt mit Flaggen aus 30 Ländern – mindestens –, die im Wind der surrenden Klimaanlage zittern. Ansonsten: Totenstille. Frauen, Kinder, Männer im Kreis um einen Tisch oder einfach in der Ecke sitzend, zusammen­gesackt, regungslos, mit starrem Blick in irgendeine Unendlichkeit.

Die Physiker sind weitaus lebendiger – zu gerne feiern, plaudern, lachen sie. Nur einmal kommt klammes Schweigen auf. An jenem Dienstag­abend, an dem ein Film gezeigt wird, ein Dokumentarfilm über das Manhattan-Projekt. → Roy J. Glauber, letzten Dezember verstorbener Nobelpreis­träger, ausgezeichnet für seine Forschung auf dem Gebiet der Quanten­optik, erzählt darin anlässlich eines Besuches in Benasque als letzter Zeitzeuge über den Bau der Atombombe in Los Alamos. Er berichtet leidenschaftlich, teilweise nostalgisch über die Zeit, in der er als Teenager an der Waffe baute, die rund 200’000 Menschen in Hiroshima und Nagasaki das Leben kostete.

Am Ende des Films, nachdem die Bilder der zerstörten japanischen Städte über die Leinwand geflimmert sind, ist es kurz so still, dass man fürchten muss, die Gedanken könnten gehört werden.

Doch zehn Minuten später auf dem Weg zum Restaurant ist der Spuk schon wieder vorbei, die Physiker sind wieder ihr geselliges Selbst. Nur die Nicht­physikerin hat Redebedarf.

«Wie kann man im Bewusstsein darum, für den Tod von so vielen Menschen mitverantwortlich zu sein, so unbeschwert auf diese Zeit zurückblicken?»

«Wie meinst du das?»

«Fühltet ihr euch nicht verantwortlich, wenn durch eure Arbeit eine noch zerstörerische Waffe als die Atombombe gebaut würde?»

«Für den Bau nicht. Dafür, wie sie eingesetzt wird – ja. Aber nicht primär als Forscher, sondern als Weltbürger. Als Wissenschafter können und müssen wir uns ethische Fragen stellen, versuchen, mit unserer Expertise Einfluss zu nehmen, wie die Ergebnisse unserer Arbeit eingesetzt werden – so, wie die Architekten der Atombombe es getan haben. Mehr nicht.»

Die Wissenschaft liefert immer nur Modelle, durch die wir die Realität betrachten. Diese Modelle zu vergegen­ständlichen, ist die Aufgabe der Ingenieure, der Industrie. Wie wir den Gegenstand einsetzen, die Aufgabe der Gesellschaft als Ganzes.

Im Guten wie im Schlechten: Die Wissenschaft darf sich nur am Rande damit beschäftigen, was mit dem geschieht, was sie hervorbringt. Es geht ihr nicht primär darum, Antworten zu finden, sondern neue, bessere Fragen.

Richard Feynman drückte es so aus: «Wir müssen vorsichtig sein, nicht Dinge zu glauben, nur weil wir wollen, dass sie wahr sind. Niemand kann dich so leicht in die Irre führen wie du selbst!»

Wenn eine Physikerin sich zu sehr darauf konzentriert, was aus ihrer Forschung entstehen könnte, läuft sie unweigerlich Gefahr, ihre Resultate zu verfälschen, die Forschung zu kastrieren.

Ein Beispiel: Der → Laser, die grösste Errungenschaft der Quanten­physik, wurde ohne das geringste Bewusstsein dafür entdeckt, wie wertvoll er für die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit ist. Hätten die Physiker konkret darauf hingearbeitet, etwas so vorzüglich Undenkbares wie den Laser zu entwickeln – sie hätten es mit grösster Wahrscheinlichkeit bis heute nicht geschafft.

Wer in Gegenwart der Quanten­physiker von Benasque von wissenschaftlichen Erfolgen redet, wird darum schnell korrigiert – nicht Erfolg. «Fortschritt!»

Genau diese Haltung setzt die akademische Forschung rund um die Quanten­information diametral zur Industrie – beide denken zwar über das Gleiche nach, nur vollkommen anders.

Auch wenn sie sich bei ihrer Arbeit nicht zu sehr darauf konzentrieren dürfen, was sie denn letztlich für einen Nutzen erbringt: Praktisch alle Physikerinnen in Benasque begrüssen die Idee, dass die Industrie ihre Forschung zum Nutzen der Menschheit vergegen­ständlicht. Was manchen Kummer bereitet, ist die Art und Weise, wie das geschehen könnte – und mit welchen Folgen.

Was dabei herauskommt, wenn Erfolgs- und Ertrags­streben in einem wissenschaftlichen Feld überhand­nehmen, zeigt sich in der Medizin, wo der Run um Patente die Forschung und damit die Heilung schwer kranker Menschen bereits lähmt.

Diese Aussicht liegt manchem Physiker fast so schwer auf dem Magen wie das viele tierische Eiweiss, aus dem die Küche von Benasque hauptsächlich besteht: Steaks, Fisch, Eier, Käse.

Die Veganer haben sich selbst organisiert. Alle andern leiden – Rülpser ausgenommen – still: In der zweiten Woche ist das Alka Seltzer in der Apotheke ausverkauft.

Damn! Ist es eine Quabble?

Success versus progress – in diesem Spannungs­feld operieren die Physiker seit je. Auch schon lange bevor die Industrie nach Benasque kam.

Als die Quanten­information noch in den Kinder­schuhen steckte, interessierte sie nebst einer Handvoll rebellischer Physiker ein ganz anderes Publikum als die Wirtschaft. Ausgerechnet die Geheim­dienste und das Militär haben die Forschung der Hippie-Physiker überhaupt erst möglich gemacht.

Ganz wohl war es den Wissenschaftlern damit nie. Seth Lloyd erinnert sich noch gut, wie an einem Kongress 1994 ein Mann aufstand und den versammelten Forschern verkündete: «Mein Name ist Keith Nelson, ich arbeite für die NSA, und ich bin autorisiert, Ihnen mitzuteilen, dass sich die NSA für Quantumcomputing interessiert.»

Ein grosser Moment, sagt Lloyd. «Wir alle waren ganz aus dem Häuschen – mein Gott, die NSA, der amerikanische Auslands­geheimdienst, hat tatsächlich etwas kommuniziert, nach all den Jahren!»

Keith Nelson sei dann nochmals aufgestanden und habe gesagt: «Natürlich sind wir interessiert an → Quantumcomputing. In einem gewissen Sinn sind wir natürlich daran interessiert, dass nie ein → Quanten­computer gebaut wird. Aber na ja – wenn es denn schon sein muss, wären wir gerne die Ersten, die einen haben.»

Seth Lloyd ist nicht nur Professor am MIT, sondern auch Chefforscher eines kanadischen Quantum­computing-Start-ups. Das Interesse der Industrie, das manche in Benasque als Bedrohung empfinden, sieht er, der die meiste Zeit damit leben musste, dass seine Forschung von der NSA ermöglicht wird, als Chance für das Feld.

Die privaten Investitionen können die Forschung enorm vorantreiben – und wie bereits bewiesen auch staatliche Förder­gelder lockern: eine Milliarde Euro von der EU, etwas mehr als eine Milliarde von den USA, rund zehn Milliarden von China. Milliarden, die alle grösstenteils wieder in die akademische Forschung fliessen werden. Die Investitionen hätten sich in den letzten fünf Jahren verzehnfacht, sagt Lloyd.

Der Run auf die Quanten­information ist eröffnet. Und der Geldsegen kann verdammt schnell zum Fluch werden.

«Wer Geld will, egal woher, muss nur ‹Quantum­irgendwas› in den Pitch schreiben.» Marcelo França Santos schüttelt den Kopf, als würde er versuchen, eine Wespe loszuwerden. Im Moment werden beim Kampf um Investitions­gelder im → Quantum­computing Versprechungen gemacht, von denen niemand genau weiss, bis wann, ja, ob sie überhaupt eines Tages eingehalten werden können. «Wir haben gerade erst begonnen, uns überhaupt vorzustellen, was eines Tages sein könnte.»

Das Risiko einer Blase ist hoch.

Die Wahrheit ist: Wir sind noch sehr weit davon entfernt, einen universellen → Quantencomputer zu bauen, der von tatsächlichem Nutzen für die Menschheit wäre. Schon allein deshalb, weil fast alle Vorgänge in der Quantenwelt starke Wechsel­wirkungen kennen. Und deshalb auch teuflisch störungs­anfällig sind. Die heute verwendeten Systeme haben eine Grösse von etwa 50 bis 100 Qbits. Gebraucht wären mehrere Millionen → Qbits.

Bis ein Quanten­computer das erbringt, was sich die Ingenieure heute erträumen, könnten Jahrzehnte vergehen. Nur will nicht jeder, der investiert, das auch wahrhaben. Schliesslich verlief die Entwicklung herkömmlicher Computer exponentiell. Das ist bei Quanten­computern aber nur schwer vorstellbar, weil es erstens kein Äquivalent für den → Transistor gibt und wir zweitens noch nicht einmal wissen, auf welche Kennzahl sich ein solches Gesetz des exponentiellen Wachstums überhaupt beziehen sollte.

Dieser Umstand, gepaart mit einem Finanz­system, das nur Gier oder Panik kennt – plopp?

«Quabble» nennt Seth Lloyd die Quanten-Bubble. Der Professor wurde unlängst auch noch von BMW angeheuert. «Was die Autoindustrie mit Quanten­mechanik will, weiss ich auch nicht – aber okay!» Der Professor sieht die Tendenzen und Gefahren, die der Run birgt. Wirklich Sorgen macht er sich aber nicht.

Die abgestuften Investitions­modelle der Start-ups seien ein vernünftiger Weg für die Finanzierung von etwas so Seltsamem wie der Quanten­forschung. Er nimmt einen Schluck seines zweiten Kaffees Cortado innerhalb einer halben Stunde und sagt: «Mein Gott, es werden Millionen investiert in Apps ... was weiss ich ... in eine App, die dir ein Uber ruft, während sie deinen Hund bürstet.» Da hat die Quanten­information doch etwas mehr zu bieten.

Mehr Gedanken als um den Investitions­hype macht er sich um etwas anderes: «Egal, ob die NSA, das Militär oder die Industrie investieren – keiner von denen hat Interesse daran, ihre Erkenntnisse auszutauschen.»

Erkenntnis­austausch ist elementar für allen Fortschritt. Für die Quanten­information besonders, weil sie so hoch spezialisiert ist.

Man kann sich das so vorstellen: Die Physik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ist wie eine Aorta. Die Quanten­physik im letzten Jahrhundert: eine von vielen Arterien, die davon wegführen. Bei der Quanten­information aber befinden wir uns in einem Netz, das aus Millionen von Kapillaren besteht.

Wird die Zirkulation der Informationen unterbrochen, hört das Herz irgendwann auf zu schlagen. Und ein paar Takte früher stirbt das Hirn.

Nutzen und Sinn

In der dritten Woche kommt der Regen und mit ihm endlich die Kühlung. Das Physikfestival in Benasque neigt sich dem Ende zu, die meisten reisen frühzeitig ab, ein paar wenige kommen gerade erst an. Umarmungen; schwere Abschiede; eine plötzliche Nostalgie überfällt die hoch spezialisierten Bohemiens – einige, die dieses Jahr dabei waren, wissen nicht, ob sie in zwei Jahren noch auf dem Gebiet forschen können. Wann und ob man sich wiedersehen wird?

Marcelo França Santos glaubt, dass es einen Paradigmen­wechsel braucht, damit die Quanten­information ihr volles Potenzial ausschöpfen kann. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die es so gewohnt ist, nach dem Nutzen zu fragen, dass sie verlernt hat, den Sinn zu sehen. «Vielleicht müssen wir lernen, der Wissenschaft mehr so zu begegnen, wie wir der Kunst oder der Philosophie begegnen. Weniger als Vorstufe der Industrie, sondern schlicht als Teil der menschlichen Erfahrung – einem Zweck in sich selbst, aus dem durchaus auch Nützliches darüber hinaus entstehen kann.»

Wird die Quanten­information sonst scheitern? «Nein», sagt França Santos, «Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Nur behindern.»

Die Wissenschaft war schon immer Spielball der sozio­ökonomischen Interessen, die auf sie wirken. Wo das enden kann, erzählt die Geschichte des Heronsballs.

Die ersten Pläne für die Dampfmaschine sind 2000 Jahre alt. Um das Jahr null im alten Ägypten entwickelte Heron von Alexandria einen Ball, der sich – mit Wasserdampf aus Düsen betrieben – um seine eigene Achse dreht. Damit hatte er das Modell für die Turbine erfunden.

Nur folgte nichts daraus. Der dampfbetriebene Ball wurde in Tempeln zur Schau gestellt, als Kuriosität. Und wurde nach kurzer Zeit wieder vergessen – mitsamt der neuen Technologie.

Warum? Im Buch «Hellenistic History and Culture» erforscht unter anderen Peter Green, Professor für klassische Geschichte in Austin, den Grund dafür: Niemand hatte Interesse an einer Dampf­maschine. Macht und Reichtum gründeten in der antiken Welt auf Sklaven. Diese waren für ihre Besitzer billiger als die Entwicklung einer neuen Technologie. Vor allem aber fürchtete die herrschende Schicht, die Sklaven würden aufbegehren, gäbe es einen Apparat, der ihnen Arbeit abnähme.

In Benasque holpern Rollkoffer über den Kopfstein, Nummern werden in letzter Minute ausgetauscht, Versprechen gemacht, sich zu melden. Mit Bussen, Autos, Flugzeugen, ausgestreckten Daumen an der einen Hand, beschrifteten Karton­schildern in der andern und mit der Inspiration und dem Wissen der letzten Wochen im Gepäck verteilen sich die Physikerinnen wieder in der Welt.

Vielleicht werden die mavericks in ein paar Jahren jene Erkenntnisse liefern, mit denen universelle Quanten­computer gebaut werden, die halten, was heute schon versprochen wird. Vielleicht bilden diese dann den entscheidenden Schlüssel: für den totalen Überwachungs­staat, das Aufhalten der Klimakrise oder etwas noch völlig Unvorhergesehenes.

Sicher ist nichts. Alles nur irgendwie wahrscheinlich.

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