Was Deutschland schaffen muss

Der Erfolg der AfD und der Niedergang von CDU und SPD werden kleingeredet. Es ist nicht weniger als das Ende der deutschen Nachkriegsordnung.

Ein Essay von Georg Diez, 06.09.2019

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Das Verstörendste an der sehr deutschen Wahl vom vergangenen Sonntag war gar nicht mal, dass ein Viertel bis ein Drittel der Wähler in Brandenburg und Sachsen den rechts­extremen und offenen Nazi-Sympathisanten der AfD ihre Stimme gaben. Und das ausgerechnet am 1. September 2019, dem Tag, an dem sich zum 80. Mal der deutsche Überfall auf Polen jährte, der Beginn deutschen Mordens und millionen­fachen Leides im Zweiten Weltkrieg.

Das Verstörendste war die allgemeine Unfähigkeit – oder die Verweigerungen –, diesen Bruch, diesen moralischen und politischen Bruch im Gefüge der Bundes­republik, als solchen zu benennen, zu verstehen, den Schock oder den Abscheu oder wenigstens eine Art von Antwort klar zu formulieren, den richtigen Ton zu treffen.

Die Normalität – deutscher Lieblings­zustand, deutsche Selbst­hypnose – ist weiter an der Macht, das wollen sich die allermeisten wohl einreden, am Wahlabend selbst und in den Tagen danach. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen. Die Journalistinnen im Fernsehen versuchten mit bücklingshafter Verdruckstheit zu beschwichtigen und zu versöhnen und sprachen von der Möglichkeit einer stabilen «bürgerlichen» Koalition – zwischen der CDU in Sachsen und der AfD, Leuten, die ihre politischen Gegner entsorgen wollen. Die Journalisten von Print und Online atmeten einmal tief durch und analysierten dann mehr oder weniger fröhlich um die eigentlichen Fragen herum – wie es so weit kommen konnte und vor allem: wie es weitergeht.

Und auch beim Bäcker am nächsten Morgen gab es frische Brötchen.

Ist also gar nichts passiert? Ist alles nochmals gut gegangen? Das war tatsächlich der Tenor vieler Kommentare: Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können, denkt doch an die Wahl­prognosen – politischer Journalismus am Tropf der Demoskopie.

Und die Vertreter der öffentlichen Macht stiessen wie mit letzter Kraft diesen einen Satz hervor, in verschiedenen Varianten, der Nullpunkt des politischen Diskurses: Wir dürfen nun nicht einfach zur Tages­ordnung übergehen.

Aber was bedeutet das? In den vergangenen Jahren, mindestens seit vor ziemlich genau vier Jahren im Sommer 2015 Hundert­tausende von Geflüchteten nach Deutschland kamen, was eine Welle der Hilfsbereitschaft erzeugte, war die Antwort: mit den Rechten reden. Das hat den gesamten Diskurs nach rechts verschoben und die AfD gross gemacht.

Es wäre also an der Zeit, sehr grundsätzlich zu überlegen, was der Erfolg der AfD bedeutet – und wie man ihm begegnet. Es wäre nötig zu benennen, dass die bundes­republikanische Nachkriegs­ordnung an ihr Ende gekommen ist – die ordoliberale Erfolgs­geschichte eines Landes, das sich sicher wähnte vor dem Erbe der eigenen Untaten. Es wäre wichtig zu sehen, wie die Verwerfungen zustande kamen, nachdem doch der Westen, die Guten, also wir 1989 gewonnen hatten – aber vielleicht waren der ungeregelte Markt, der The-winner-takes-it-all-Kapitalismus und der Rückzug des Staates aus wesentlichen Teilen des zivil­gesellschaftlichen Alltags doch nicht die beste Idee für die Stabilität der Demokratie. Vor allem in weiten Teilen Ostdeutschlands, wo nun Rassisten gewählt werden.

Es wäre, alles in allem, die Gelegenheit zu erkennen, dass sich dieses Land längst in einer verschleppten Systemkrise befindet.

Aber schon allein dieses Wort jagt vielen Deutschen im bezahlten Kommentar­wesen kalte Schauer über den Rücken: Systemkrise, Weimar, Ende der Demokratie, Juden­mord und Welten­brand. Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Die deutsche Unfähigkeit, die eigene Krise zu sehen, hängt immer auch mit der deutschen Unfähigkeit zusammen, die eigene Katastrophe als das zu sehen, was sie war – der Zusammen­bruch der gesellschaftlichen und politischen Normen von innen heraus, aus der Mitte, nicht von den Rändern her, wie die Erzählung des Aufstiegs der National­sozialisten oft geht; und wie auch heute wieder die rhetorische Geometrie es will, wonach «links» und «rechts» wie Problem­beschreibungen klingen und «die Mitte» wie das Refugium, die Antwort, die Lösung gehandelt wird.

Dieser Begriff, «die Mitte», stand denn auch als einziger Slogan an der Wand hinter der CDU-Partei­vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, als sie am Tag nach der Wahl ein paar Erklärungen zu vermeiden versuchte. Und sie hatte auch nur dieses eine Wort anzubieten: die Mitte. Punkt. Im deutschen Stil, halb Befehl, halb Beschwörung, eine Anrufung des gesellschaftlichen Normal­zustandes, der eben längst entglitten ist. «Die Mitte», stellt sich heraus, ist keine Antwort, es ist die Frage. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer etwa hat seit Jahren sehr eindrucks­voll und faktenreich über «den Extremismus der Mitte» geschrieben. Tatsächlich ist diese das Problem. Es sind nicht nur die Abgehängten, die die Rassisten, Nationalisten, Faschisten wählen. Es sind die «ganz normalen Leute» oder eben «ganz normale Männer», wie Christopher Brownings Buch über eine Polizei­einheit heisst, die im Zweiten Weltkrieg am Judenmord beteiligt war.

Was also ist passiert? Die Antwort auf diese Frage ist, dass das Land von seiner Geschichte eingeholt wird, und zwar mindestens doppelt oder dreifach: Die zweifache Diktatur­erfahrung – zuerst Hitler­deutschland, dann die DDR – hat in vielen Deutschen kein waches demokratisches Bewusstsein wachsen lassen, im Westen wie im Osten, im Osten aber aggressiver. Hier wurde dieses Phänomen verbunden und verstärkt mit der Kränkungs­erfahrung nach dem Fall der Mauer 1989, der durchgepeitschten Wieder­vereinigung, den gebrochenen Biografien, der Übernahme durch westliche Firmen und Zahnärzte, die sich die schönsten Immobilien schnappten; mit verödeten Landstrichen durch die Abwanderung der Jugend, einer nicht vorhandenen Zivil­gesellschaft. Alles in allem sehr ähnlich den Entwicklungen in vielen Ländern Osteuropas, wie sie der bulgarische Politologe Ivan Krastev in seinem Buch «Europadämmerung» beschreibt.

Und auch wenn ich mit Krastevs Darstellung der «Flüchtlings­krise» 2015 als das «9/11 Europas» eben überhaupt nicht übereinstimme – seine Beschreibung der schwachen freiheitlichen und rechtsstaatlichen Wurzeln in diesen jungen Demokratien macht die internationale Dimension der deutschen Krise deutlich: Faschisten mit Krawatten, antidemokratischer Parlamentarismus, von Ungarn bis Polen; eine antiparlamentarische Exekutive, von Trump bis Boris Johnson; eine Abkehr von der Demokratie, die doch als Siegerin der Weltgeschichte vom Platz gegangen war – so hatte es Francis Fukuyama doch in den Neunziger­jahren versprochen – und die trotzdem von vielen als selbstbezogen und sklerotisch gesehen wird, die Programme von Kleinmut und die Parteien von Karrierismus geprägt. Dem Westen, den Deutschen, ist etwas Seltsames passiert, auf das speziell die Deutschen nicht vorbereitet waren, schon aufgrund ihrer Geschichte: Sie haben den Krieg gewonnen, den Kalten Krieg – aber sie haben den Frieden verloren.

Die deutsche Nachkriegsordnung ist dahin, sie endet, mit dreissig Jahren Verspätung, 2019. Nicht mehr CDU und SPD, die wesentlichen Gründungs­parteien der BRD, sind entscheidend für die politische Debatte, was ihre Regierung im Bund als Grosse Koalition umso zombiehafter erscheinen lässt. Die politischen Gegner, die sich gegenüber­stehenden politischen Lager, sind nun die Grünen und die AfD: offen, ökologisch, eher gut verdienende und weltgewandte Wähler einerseits, autoritäre, dezidiert anti-ökologische, eher weniger gut verdienende und sich abgehängt fühlende Wähler andererseits. Die SPD landet in Sachsen bei jämmerlichen 7,7 Prozent, die CDU in Brandenburg bei erschütternden 15,6 Prozent – wenn es zu einer demokratischen Neu­begründung dieses Landes kommen soll, müssen sich diese beiden Parteien komplett neu definieren, was bei der Dürftigkeit des Personals beider früherer «Volksparteien» eher unwahrscheinlich ist.

Das erklärt die Ratlosigkeit der etablierten Politikerinnen wie auch deren journalistischer Begleiter, die sich einfach zu lange vor allem mit sich selbst und miteinander beschäftigt haben – Politik als Antwort auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse ist seit langem nicht mehr erkennbar. Oder nur in eher kleinteiligen Einheiten, was dem gegenwärtigen Gefühl einer globalen, umfassenden, drängenden wie schleichenden Bedrohung nicht gerecht wird, vom Klima­wandel und seinen Folgen wie weltweiter Migration über die Grenzen des Wachstums bis zur technologischen Revolution, die die Essenz dessen, was ein Mensch ist, infrage stellt. Angst also als Grund­zustand dieser Zeit – und eine Politik, die keine Hoffnung anbietet.

Dabei wäre genau das der richtige Weg. Ein Umlenken und Umdenken, was die Grund­prämissen der vergangenen dreissig, vierzig Jahre westlicher Politik angeht: weg vom gedanken- und empathiearmen Neoliberalismus, hin zu einem Staat, der aktiv ist, transparent, durchlässig; eine Politik, die sich um Lösungen kümmert und auch vor radikalen Massnahmen nicht zurück­schreckt; die Verbindung von Ökologie, Ökonomie, Infrastruktur, Technologie und Gerechtigkeit, wie sie der Green New Deal bedeutet. Es gibt das Angebot einer aktiven, sichtbaren, engagierten Politik, die sich klar zu den Krisen­phänomenen unserer Zeit verhält, die sich nicht hinter einfachen Antworten verschanzt und die Menschen fordert, in ihrem Bürgersinn, in ihrem Bürgersein.

Wenn sich das Parteien­spektrum also gerade neu sortiert, muss das nicht unbedingt schlecht sein. Es zeigt nur, wie sich die Zeiten verändert haben, die Fragen und Probleme und auch die Organisations­weise der Politik; weg von Parteien, hin zu Bewegungen; weg von alten Verteilungs­kämpfen, Arbeiter versus Kapital, hin zu neuen Verteilungs­kämpfen, User versus Facebook; weg von alten Allianzen, hin zu neuen Konflikten.

Ich glaube deshalb auch nicht, dass dieses Land wirklich gespalten ist, eine Metaphorik, die in gewisser Weise aus den USA übernommen wurde. Ich glaube, es gibt Unterschiede und Entscheidungen, denen sich jeder Wähler und jede Wählerin stellen muss. Es scheint so, als ob diese Differenzen härter geworden sind. Sie sind damit aber auch klarer geworden.

Gleichzeitig sind die Probleme und Fragen auch nicht mehr so eindeutig einem politischen Lager, einer politischen Partei zuzuordnen. Das bedeutet mehr Debatte, mehr wechselnde Allianzen und im Idealfall eine andere Form von Politik, die kleinteiliger ist und gleichzeitig das Grosse im Blick hat; die pragmatischer ist, gerade weil viele Fragen so ideologisch besetzt sind.

Es wird noch eine Weile brauchen, weil die alten Rituale zu sehr eingeübt sind. Es ist aber der einzige Weg, um aus dem derzeitigen – nicht nur deutschen – Schlamassel von Angst, Aggression und Apathie herauszufinden.

Denn eines zeigt sich deutlich, nicht zuletzt bei dieser Landtags­wahl: Wer die Demokratie will, muss für sie arbeiten und auch kämpfen.

Zum Autor

Georg Diez war lange Jahre Kolumnist von «Spiegel online». Künftig wird er nebst der journalistischen Tätigkeit in einem Thinktank mitarbeiten, der sich Fragen der ökologischen, ökonomischen und politischen Transformation widmet. Sein letztes Buch «Das andere Land» beschäftigt sich mit der Krise und den Zukunfts­chancen der Demokratie in Deutschland.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: