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Was will eigentlich Boris Johnson?

Grossbritannien schlittert Tag für Tag tiefer in die politische Krise. In der Hauptrolle: der neue Premier­minister. Ein kurzes Erklärstück – und ein paar essenzielle Lesetipps.

Von Olivia Kühni, 03.09.2019

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Das wohl Wichtigste, was Sie zur aktuellen Krise in Gross­britannien wissen müssen: Es handelt sich in der jetzigen Phase um ein Theater­stück. Unschöner ausgedrückt: Premier­minister Boris Johnson nimmt gerade das Land in Geiselhaft, um möglichst viel für sich und seine Verbündeten herauszuholen.

1. Das Ziel: Macht durch Inszenierung

Johnson und seine Berater haben dem Parlament eine baldige Zwangs­pause verordnet. Das verkürzt den Zeitraum massiv, in dem die Abgeordneten den Brexit-Kurs der Regierung noch beeinflussen können. Damit will Johnson eine Situation schaffen, in der er nur gewinnen kann.

Entweder die EU macht nun dramatische Zugeständnisse, einen Deal, der Johnson als Sieger dastehen lässt (Szenario A, unwahrscheinlich).

Oder die Opposition im Parlament «zwingt» Johnson mit einer Blockade seines Brexit-Fahrplans dazu, Notwahlen (snap elections) auszurufen (Szenario B, wahrscheinlich). «Zwingt» in Anführungs­zeichen, weil es das ist, was sich Johnsons radikaler Fanclub um Chefberater Dominic Cummings und Ukip-Gründer Nigel Farage insgeheim wünscht. Die Brexiteers könnten dann im Wahlkampf Stimmung gegen das bockige Parlament machen – und die «Brexit-Verschlepper» würden an der Urne abgestraft.

Johnson selbst, so sagen mehrere Insider, wünscht sich einen Deal mit der EU (also Szenario A) und glaubt, ihn mit der gegenwärtigen Drohkulisse erreichen zu können – doch hinter den Kulissen machen seine zweifel­haften Freunde Druck.

Wahrscheinlich ist Szenario B zusätzlich darum, weil Notwahlen auch das sind, was sich das Lager um den linken Oppositions­führer Jeremy Corbyn wünscht. Wer jemals an einer radikalen politischen Kampagne beteiligt war, weiss: Wenn es zum grossen öffentlichen Duell kommt, gewinnen beide.

2. Die Aussichten: Wahlen

Weil es in dieser kurzen Frist kaum einen neuen Deal geben kann – niemand aber einen Austritt ohne Deal wirklich will.

Interessant wird die Inszenierung: ob Johnson selbst eine Notwahl ankündigt, weil – so seine Darstellung – das Parlament seine Verhandlungs­strategie sabotiert. Oder ob die Opposition diese mit einem Misstrauens­votum erzwingt.

Boris Johnson verliert nicht gerne. Ersteres, so viel Prognose sei an dieser Stelle gewagt, ist darum das Wahrscheinlichste.

3. Die Lesetipps

Zum eigentlichen Thema, um das es schon lange nicht mehr geht: Dieser Text von «Politico Europe» zeichnet nach, wie sich Gross­britannien in den Verhandlungen mit der EU von Anfang an selbst sabotiert hat.

Zur Persönlichkeit des Boris Johnson: Was passierte, als der ehrgeizige Premier die renommierte Althistorikerin Mary Beard zu einem rhetorischen Duell traf – und an Boden verlor.

Und dazu passt: «Was erklärt Brexit? Das Bewertungssystem der Elite-Unis»: Der Politik­wissenschaftler Yascha Mounk erklärt in einem Twitter-Thread, wie die Noten­kriterien von Oxford und Cambridge die Studierenden zu Populisten erziehen.

Apropos Twitter: Falls Sie auch sonst dort unterwegs sind und schnelle Einordnungen mögen: Folgen Sie ausserdem Ian Dunt, Autor von «Brexit: What the Hell Happens Now?», David Allen Green, Experte für die britische Verfassung, und Laurie Penny, Autorin und Feministin.

Zur Macht hinter den Kulissen: Die Brexit Party macht sich bereit. Kaum etwas entlarvte den Druck auf Johnson hinter dem Vorhang so klar wie der Kommentar von Brexit-Party-Cheerleader Nigel Farage (vormals Ukip) nach der Ankündigung der Zwangs­pause des Parlaments. Wenn Johnson gegenüber der EU standhaft bleibe, mache er ihn zu «seinem Helden», schrieb Farage. Und: Seine Partei sei bereit für eine Wahl. Seither überzieht der Zündler sein Twitter-Konto mit Ankündigungen, die nichts anderes sind als ein Wahlkampfauftakt.

Zu den Rüpeln im eigenen Haus: Zahlreiche Konservative haben inzwischen öffentlich bereut, das Verführ­spiel von Farage und Ukip nicht besser durchschaut zu haben. Anschaulich ist dieser persönliche Essay von Peter Oborne. Er macht auch deutlich, warum es eben meist nicht ein starker Konservativismus ist, der die Tür zum Autoritarismus öffnet – sondern ein schwacher.

Dazu auch: Der «Economist» mit seiner Titel­geschichte zur weltweiten Krise des Konservativismus. Und dem wichtigen Unterschied zwischen Konservativen und der Alt-Right.

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