«Der gemässigte, sozialpolitische Flügel der Konservativen ist ausgestorben»

Grossbritanniens Premierminister Boris Johnson untergräbt Normen, Institutionen – gar die Verfassung. Dabei gab sich seine Partei immer als deren Bewahrerin. Wie aus den Pragmatikern die Ideologen wurden, erklärt der Politologe Pete Dorey.

Ein Interview von Solmaz Khorsand, 03.09.2019

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Grossbritannien ist das Land der Magna Charta und der Bill of Rights. Die Welt hat den Briten den modernen Parlamentarismus zu verdanken. Jetzt suspendiert Boris Johnson mit dem Segen der Queen das Parlament. Ist Gross­britanniens Vorbild­funktion Geschichte?
Die Brexiteers werden das anders verkaufen. Sie sagen: Im Gegenteil, wir haben uns von Europa befreit und die Demokratie wieder­hergestellt. Erneut sind wir die Vorreiter für andere Länder. Ich denke, früher ist Gross­britannien tatsächlich ein Leucht­turm der Demokratie gewesen, und man hat sich an uns ein Beispiel genommen. Jetzt heisst es: Bloss nicht die gleichen Fehler machen wie die Briten! In dem Sinne sind wir wohl immer noch ein Vorbild, allerdings ein abschreckendes.

Zu Pete Dorey

Er ist Professor für britische Politik an der Universität Cardiff. Er hat zahlreiche Bücher zu den britischen Parteien geschrieben, darunter «British Conservatism: The Politics and Philosophy of Inequality».

Welche Rolle spielt Gross­britanniens ungeschriebene Verfassung in der gegenwärtigen Krise? Es heisst: Solange sich alle an die Spiel­regeln halten, ist sie funktions­tüchtig. Doch nun scheinen die Spieler selbst das Spiel nicht mehr zu respektieren.
Das ist korrekt. Die Verfassung wurde in Gross­britannien so lange respektiert, wie die Dinge gut gelaufen sind, politisch wie ökonomisch. Nach zehn Jahren Austeritäts­politik, stagnierenden Löhnen, Studentinnen, die auf 50’000 Pfund Kredit­schulden sitzen, Managern, die das 160-Fache ihrer Arbeiter verdienen, und einer Rekord­obdachlosigkeit suchen heute viele den starken Mann. Er soll unsere Nation schützen. Und wenn das bedeutet, ein paar konstitutionelle Regeln und Traditionen zu brechen, ist das nun einmal der Preis, den man zu zahlen bereit ist.

Kommentatoren behaupten, es gebe in Gross­britannien gar keine konservativen, sondern nur mehr radikale Parteien. Teilen Sie die Analyse?
In gewisser Hinsicht sind Gross­britanniens moderne Konservative so etwas wie die alten Marxisten.

Boris Johnson ist ein Marxist?
Lassen Sie mich ausholen. Früher war die konservative Partei stolz auf ihren Pragmatismus, sie legte Wert darauf, von jeder Ideologie befreit zu sein. Die Tories standen für den Mittelweg. Sie verwarfen abstrakte Ideen und theoretische Blaupausen. Aus der traditionellen Sicht der Konservativen war es genau das Problem der Linken, dass diese versuchten, auf der Basis von Marx-und-Engels-Lektüre eine Gesellschaft zu entwerfen. Doch in den 1980ern hat sich das geändert: Während der Thatcher-Jahre haben sich die Tories ideologisiert.

Das macht sie zu Marxisten?
Nein, zu Ideologen. Sie glauben, dass der einzige Weg, die Gesellschaft zu verbessern, darin besteht, den freien Markt auszubauen, den Freihandel anzukurbeln, Steuern abzuschaffen. Wenn Sie heutige Konservative fragen, wie sie die Probleme Gross­britanniens angehen würden, bekommen Sie als Antwort: Wir müssen den Markt befreien, wir sind noch nicht weit genug gegangen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihre Ideologie versagt hat. Stattdessen sagen sie, ihre Ideologie sei einfach noch nicht richtig angewandt worden, nicht mit genug Energie und Enthusiasmus. Genau so haben früher Marxisten argumentiert.

Sie sagen aber, die Ideologisierung der britischen Konservativen habe erst mit Margaret Thatchers Abgang volle Fahrt aufgenommen.
Das ist die Ironie: Je mehr wir uns zeitlich von Thatcher entfernt haben, umso mehr hat sich die Partei in ihre Richtung entwickelt. Das liegt daran, dass spätestens seit der Wahl von 1992 immer mehr konservative Abgeordnete des rechten Lagers ins Parlament eingezogen sind. Das waren diejenigen, die von der Basis als Kandidaten gepusht wurden – und sie kennen auf jedes Problem in Grossbritannien nur eine Antwort: den freien Markt.

Es ist die gleiche Basis, die Boris Johnson zum Premier gemacht hat, und die gleiche Basis, die gemäss aktuellen Umfragen alles dem Brexit opfern würde: eine Abspaltung Nordirlands und Schottlands, eine kaputte Wirtschaft und sogar die Zerstörung der eigenen Partei. Ist die Basis radikaler als die Führung?
Bis zu einem gewissen Grad, ja. Auch bei Labour ist das der Fall. In der konservativen Partei will die Basis einen starken Mann, der für harte Law-and-Order-Politik und einen Brexit steht, der die Immigration eindämmt. Aber ich denke, dass sich der Abstand zwischen der Basis und den Abgeordneten im Parlament in den vergangenen Jahren sehr verringert hat.

Wer ist diese radikale Basis, der das Land Boris Johnson zu verdanken hat?
Zu ihren Mitgliedern zählen wohlhabende Leute, vor allem aber sehr viele Menschen der unteren Mittel­schicht, kleine Unter­nehmer und Selbstständige. Das sind Bevölkerungs­gruppen, die Migranten, höheren Steuern und Arbeitnehmer­rechten am Feindlichsten gegenüberstehen.

David Camerons Austeritäts­politik hat in Gross­britannien tiefe Spuren hinterlassen. Die NGOs zählen 320’000 Obdachlose. 1,6 Millionen Essenspakete wurden von April 2018 bis März 2019 ausgegeben, so viele wie noch nie zuvor. Tangiert das nicht die Konservativen, die zur unteren Mittelschicht gehören?
Konservative wollen dafür keine Verantwortung übernehmen. Sie sagen, dass wir es mit einer neuen Generation zu tun haben, die arbeits­scheu ist und die sich dafür entscheidet, bei der Suppen­küche anzustehen. Dass es zu wenige oder schlecht bezahlte Jobs gibt, sehen sie nicht. Ebenso wenig, dass die meisten Menschen, die auf soziale Hilfe angewiesen sind, arbeiten und ihre Familien trotzdem nicht ernähren können.

In der Vergangenheit hatten die Tories auch einen gemässigten Flügel mit einer sozial­politischen Agenda. Sie bezeichneten sich als One-Nation-Konservative. Wo sind die heute?
Die sind ausgestorben. Im modernen Thatcherismus gibt es so etwas wie zu viel Ungleichheit gar nicht mehr. Würde der Staat intervenieren, um die Ungleichheit zu reduzieren, schrien die Tories sofort auf und forderten, dass man aufhören müsse, Löhne zu kontrollieren oder Gerechtigkeit zu schaffen. Die Generation der One-Nation-Tories, die daran festhält, dass Noblesse verpflichtet und dass die Reichen eine Verpflichtung gegenüber den Armen haben, gibt es nicht mehr.

Aber so gut wie alle Thatcher-Tories bezeichnen sich als One-Nation-Konservative, selbst David Cameron und Boris Johnson.
Die wahren One-Nation-Konservativen gehen zurück auf das 19. Jahrhundert. Das sind Politiker wie Benjamin Disraeli und später Stanley Baldwin. Es verbindet sie, dass sie Ungleichheit in der Gesellschaft als natürlich und unvermeidbar betrachten; aber sie erwarten auch, dass die Reichen ihrer Pflicht nachkommen, den Armen zu helfen. Sie sagen: Man darf nicht zulassen, dass Ungleichheit so exzessiv wird, dass es die Legitimität der sozialen Ordnung gefährdet.

Der «Economist» hat kürzlich eine Umfrage veröffentlicht, die belegt, dass sich die Einstellung der britischen Bevölkerung gegenüber Sozialhilfe­empfängern verändert hat. 2010 hielt man die Sozial­leistungen noch für zu grosszügig, nun findet eine Mehrheit, dass die Spar­massnahmen zu vielen Menschen schaden würden.
Jüngere Studien zeigen, dass sich die Feindseligkeit gegenüber arbeitslosen und armen jungen Menschen etwas verringert hat. Es herrscht das Gefühl vor, dass der Staat mit dem Sozial­abbau zu weit gegangen ist. Nehmen Sie zum Beispiel die Wahlen 2017. Die wichtigsten Motive der Wähler, die sich für Labour entschieden haben, waren die Ungleichheit, die Armut und die Austeritäts­politik. Davor waren auf den vordersten Rängen immer: bessere Bildung, Gesundheits­politik, Renten­systeme. Es war das erste Mal, dass Ungleichheit als zentrales Motiv angegeben wurde. Das ist neu.

Entdeckt Grossbritannien sein soziales Gewissen?
Je mehr die Regierung die Sozial­leistungen kürzt, umso mehr werden die Leute sagen: Moment, ich kenne jemanden, der seine Ansprüche verloren hat, der seine Wohnung zwangsräumen muss, der jetzt bei der Suppen­küche ansteht. Und das ist kein Sozial­schmarotzer. Das ist mein Cousin, mein Freund, mein Onkel.

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