Es ist nicht zu Ende, es ist nie zu Ende

Wenn Leute ohne Urteil weggesperrt wurden, hiess das «administrative Versorgung». Dieses Kapitel Schweizer Geschichte ist nun aufgearbeitet. Wie die Gesellschaft mit Personen umgeht, die sie nicht in ihrer Mitte will, wird uns aber weiter beschäftigen. Ein Plädoyer gegen das Vergessen.

Ein Kommentar von Michael Rüegg, 02.09.2019

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Jugendliche, die eingesperrt werden und Zwangsarbeit verrichten. Schwangere Frauen, die im Zuchthaus landen, denen das Kind nach der Geburt weggenommen wird. Männer, die auf der Strasse verhaftet werden und hinter hohen Mauern verschwinden, ohne sich eines Verbrechens schuldig gemacht zu haben.

Menschen, die ohne fachliche oder mit ungenügend begründeten Entscheiden in geschlossenen Abteilungen landeten. Und die meist keinerlei Rechts­mittel dagegen ergreifen konnten. Aus der Gesellschaft entfernt, weil befunden wurde, dass sie nicht hinein­passen. Weil man fürchtete, sie würden die braven Bürgerinnen mit ihrer «Liederlichkeit» oder «Arbeits­scheu» anstecken.

Das sind Vorgänge, wie wir sie in Diktaturen, in totalitären Staaten vermuten. Aber nicht in einem demokratischen Land wie der Schweiz, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Doch die Geschichte zeigt, dass irrt, wer so denkt. Administrative Versorgungen waren in den Kantonen der Eidgenossenschaft während Jahrzehnten gang und gäbe. Sie klafften als breites Loch im Rechts­staat – das 1981 erst die Umsetzung der Europäischen Menschenrechts­konvention zu kitten vermochte.

Vier Jahre lang hat eine Unabhängige Experten­kommission, 2014 eingesetzt durch den Bundesrat, die Geschichte der administrativen Versorgung untersucht. Es war eine längst fällige Aufarbeitung. Heute Montag wird die Kommission in Bern ihren Schluss­bericht abliefern.

Viel Lesestoff geschaffen

Zehn Bücher sind daraus geworden, in der Mehrheit dicke Schinken. Keine leichte Ferien­literatur, sondern schwere Kost. Die ersten beiden Bände stechen etwas hervor, ein Porträt­band und einer mit literarischen Texten. Der grosse Rest illustriert die wissenschaftliche Akribie der Autorinnen noch deutlicher.

Nüchterne Betrachtungen. So nüchtern, wie die Behörden jahrzehnte­lang in die Leben Tausender Bürger eingegriffen hatten. Verschwunden ist allerdings die früher mitwummernde Moral, die als Gradmesser dafür diente, ob jemand als wertvolles Mitglied der Gesellschaft angesehen werden konnte. Und die Argumente lieferte, weshalb eine Person als schädlich einzustufen sei. Die Moral war der Persil­schein für das Unrecht, begangen durch den Staat. (Ob Recht erst rückblickend zu Unrecht geworden ist, dieser Frage widmet sich die Experten­kommission eingehend, dazu mehr weiter unten.)

Manchmal reichte es übrigens, wenn sich Jugendliche gegen die herrschende Gesellschafts­ordnung auflehnten und – wie es in Band 8 der Reihe heisst – «neue Lebens­entwürfe ausprobierten». Derlei Eingriffe in die Leben junger Menschen nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich zu.

Wer sich angesichts des Umfangs der Ergebnisse nicht in die Materie stürzen mag, kann sich stattdessen auf der Kommissions-Website auch eine kurze Videodokumentation anschauen.

Es waren mehr als erwartet

Nun wird sich die Kommission auflösen und damit selber ein Stück der Geschichte werden, die sie aufgearbeitet hat. Es ist zu hoffen, dass ihr Schluss­bericht nicht das Ende der Diskussion bedeutet.

Gemäss Schätzungen der Kommission waren in den Jahren von 1930 bis 1981 zwischen 20’000 und 60’000 Personen administrativ versorgt, fürs gesamte 20. Jahrhundert muss man von mehr als 60’000 ausgehen.

Um es noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen: Diese Menschen wurden nicht strafrechtlich verurteilt. Keine Gerichte hatten sich mit ihren Fällen befasst. Keine unabhängigen Stellen ihre Beschwerden überprüft. Keine Anti-Folter-Kommissionen die Zustände in den Gefängnissen, Arbeits­lagern und Heimen untersucht. Dafür wurden die Briefe der Insassen beschlag­nahmt, wenn sie die herrschenden Zustände kritisierten.

Auch wenn administrativ Versorgte nie gerichtlich verurteilt worden waren – im Ergebnis war ihre Internierung vielerorts dieselbe wie bei Diebinnen, Gewalt­tätern, Mördern. Administrativ Versorgte landeten in Strafanstalten und Straf­kolonien und wurden wie andere Häftlinge behandelt – mit dem Unterschied, dass sie sich anstelle einer endlichen Strafe mit einer nicht klar begrenzten Einweisung konfrontiert sahen. Unter dem Argument der «Nach­erziehung» wurden lange Internierungs­zeiten verfügt, die meist problemlos verlängert werden konnten. Eine Ausnahme bildeten gelegentlich Jugendliche, die so lange hinter Gittern waren, bis sie volljährig waren und dann auf die Strasse gestellt wurden.

Ein Diebstahl der Lebenszeit

Vielen dieser Betroffenen wurde die Jugend, wurde wertvolle Lebenszeit gestohlen. Sie wurden schikaniert, missbraucht, misshandelt. Ihnen wurde die Freiheit entzogen, und diese tiefen Einschnitte ins Leben hinter­liessen Wunden, die zu Narben wurden. Eingeliefert war meist gleich­bedeutend mit ausgeliefert.

Einige der Betroffenen sind an ihren Erfahrungen zerbrochen. Andere, Männer, sind später als Fremden­legionäre irgendwo in Konflikten gestorben, mit denen sie nichts zu tun hatten. Doch: Viele aus den letzten vierzig Jahren der Versorgungs­praxis leben noch heute unter uns.

Sie haben oft jahrzehnte­lang geschwiegen, zum Teil selbst engsten Angehörigen gegenüber. Denn auf eine Wieder­gutmachung haben administrativ Versorgte lange gewartet. Zwar gab es Entschuldigungen, etwa durch die Bundes­rätinnen Eveline Widmer-Schlumpf 2010 in Hindelbank und Simonetta Sommaruga 2013 in Bern. Und 2014 beschloss das Bundes­parlament ein Rehabilitierungs­gesetz, das ebenfalls den Auftrag zur Aufarbeitung durch die Unabhängige Experten­kommission enthielt.

Doch es blieb eben dieses Gschmäckle, es haftete der Argwohn an den Betroffenen: So ganz ohne Schuld kommt «bei uns» schliesslich niemand ins Gefängnis oder in eine Erziehungs­anstalt. Irgendwas muss da ja gewesen sein. Dieser Stigmatisierung entging nur mit Sicherheit, wer schwieg, ertrug und seine Erinnerungen in sich vergrub.

Es braucht eine Erinnerungskultur

Diese Stigmatisierung kann nur dann verschwinden, wenn das Thema es nicht tut. Wenn die Geschichte der administrativen Versorgung nicht bloss eine Episode unter «ferner liefen» im ereignis­reichen 20. Jahrhundert wird. Sondern indem wir uns auch in Zukunft bewusst schämen für die Taten früherer Generationen.

Denn auch das hat die Experten­kommission aufgezeigt: Die jahrzehnte­lange Weg­sperrerei konnte nur deshalb gelingen, weil die Bevölkerung damit kein grösseres Problem hatte. Kritik, etwa von Sozial­pionierinnen und Juristen, prallte stets am System ab.

«Der Öffentlichkeit waren die mächtigen Instrumente der Behörden, mit denen Menschen administrativ versorgt wurden, bekannt», sagt Beat Gnädinger, Mitglied der Experten­kommission. Als Zürcher Staats­archivar hatte er in den vergangenen Jahren Kontakt zu vielen Betroffenen, die ihre eigenen Geschichten aufzuarbeiten suchten. «Dass sie so lange Zeit in deren Händen blieben, war nur möglich, weil dies gesellschaftlich geduldet oder sogar gewollt war.»

Damit die Erinnerung gelingt, muss die Whataboutism-Falle künftig gross­räumig umgangen werden: Nein, natürlich waren nicht alle Anstalten und Heime immer zu allen Menschen schlecht. Selbst­verständlich gab es Pflege­familien, die sich liebevoll um Kinder kümmerten. Und natürlich haben da und dort Vormundschafts­behörden auch zum Wohl ihrer Klientinnen agiert – oder es zumindest versucht. Aber die nun vorliegenden wissenschaftlichen Tatsachen zeichnen ein Gesamtbild, in dem diese Ausflüchte bloss als Ausnahmen wirken, die die Regel bestätigen.

Es bleiben die zentralen Punkte:

  • Das der Praxis zugrunde liegende Recht war eher schwammig und führte zu willkürlichen Entscheiden. Schon aus damaliger Sicht wurden rechts­staatliche Prinzipien umgangen. Das heisst, nicht Recht wurde zu Unrecht, sondern Unrecht blieb Unrecht.

  • Oft waren es nicht Fachleute, sondern Laien, die Weg­sperrungen verhängten. Und nicht selten auch einzelne Akteure, ohne Kontroll­mechanismen unterworfen gewesen zu sein. Auch die Anstalten wurden zu wenig beaufsichtigt. Über die Entlassung konnte meist der Direktor einer Einrichtung entscheiden.

  • Bekämpft wurde nicht selten die Armut, indem die Armen selber zur Zielscheibe wurden.

  • Der Kantönli­geist sorgte wohl dafür, dass es in gewissen Kantonen etwas geordneter zu- und herging. Aber im Grunde sorgte das föderalistische Wirrwarr an Systemen eher dafür, die Praxis am Leben zu erhalten.

Die sorgfältige Auseinander­setzung mit administrativer Versorgung und den Opfern behördlicher Fehl­einschätzungen und Willkür hat aufgezeigt, dass das harte Vorgehen der Behörden tiefe Einschnitte hinterlassen hat.

Wiedergutmachung ist gut, reicht aber nicht

Das Bundesparlament beschloss 2016, dass von Zwangs­massnahmen Betroffene einen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken erhalten sollen. Im Frühling 2019 wurde bekannt, dass bis dato 9000 Personen ein Betrag zugesprochen worden war. Für Verwunderung sorgte, dass in gewissen Fällen nach Auszahlung der Beiträge die Ergänzungsleistungen zur AHV gekürzt wurden. Das, so hiess es, sei allerdings nicht die Idee der Wieder­gutmachungs­zahlungen gewesen. Aber ein im Text eingestreutes «grundsätzlich» hatte dafür gesorgt, dass eben nur «grundsätzlich» gilt, dass der Wieder­gutmachungs­beitrag keine ander­weitigen Kürzungen zur Folge hat.

Vermutlich wäre man in Bern ganz froh darum, wenn das Thema nun abgehakt wäre. Deckel drauf, Kapitel geschlossen. Aber das wäre falsch. Nicht nur der Betroffenen wegen, die noch immer mit ihren persönlichen Geschichten weiterleben.

Sondern auch um der Gesamt­gesellschaft willen. Erinnerung ist Arbeit an der Vergangenheit. Sie braucht Zeit. Sie braucht Energie. Sie kostet Geld. Und sie tut oft weh. Aber sie verhindert, dass ähnliche Fehler ein zweites Mal geschehen. Das sollten wir uns in Erinnerung rufen: Jedes Mal, wenn der Populismus am Rechtsstaat kratzt, wenn der Ruf nach härteren Strafen ertönt oder Verwahrungen noch seltener aufgehoben werden, wenn der Durst nach Exempeln da ist, die statuiert werden sollen, Zeichen, die gesetzt werden müssten. Wenn Stimmen nach einem Ende des Individualismus rufen und wieder lautstark von Anpassung und Disziplin schwärmen.

Welche Empfehlungen die Kommission anlässlich ihrer heutigen Schluss­veranstaltung auch abgibt: Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht verpuffen oder im medialen Geplänkel um die kommenden Parlaments­wahlen untergehen werden.

Denn ja, wir sollten uns für das schämen, was die Schweiz Zehn­tausenden ihrer Bürger angetan hat.

Ja, wir dürfen wütend sein auf eine Gesellschaft, die so etwas zugelassen hat.

Wut konserviert. Wer wütend ist, vergisst weniger schnell.

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