«Sei wie Wasser» – die Anatomie der Proteste in Hongkong

Flashmobs, Menschenketten, ein blockierter Flughafen: Die Stadt erlebt eine der grössten sozialen Bewegungen ihrer Geschichte. Was wollen die Demonstrantinnen, wie organisieren sie sich – und was haben sie aus gescheiterten Protesten gelernt?

Von William Yang (Text) und Andreas Bredenfeld (Übersetzung), 28.08.2019

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Eine von Millionen: Die Proteste in Hongkong dauern seit Monaten an, ein Ende ist nicht in Sicht. Aidan Marzo/SOPA Images/LightRocket/Getty Images

Für den internationalen Finanzplatz in Südostasien sind Massen­proteste kein Novum. 2014 legten prodemokratische Demonstranten den Verkehr lahm, belagerten den Finanz­distrikt und forderten transparentere Wahlen. Damals endeten die Proteste der sogenannten Regenschirm-Bewegung nach 79 Tagen erfolglos: Die Regierung machte keinerlei Zugeständnisse. Stattdessen nahm sie das Aufbegehren zum Anlass, die akademische Freiheit und die Bürger­rechte in dem Stadtstaat weiter auszuhöhlen.

Fünf Jahre danach gehen die Hongkongerinnen erneut auf die Strasse. Diesmal richtet sich ihr Protest gegen einen umstrittenen Gesetzes­entwurf, der es Hongkong erlauben würde, von den chinesischen Behörden gesuchte Personen an die Volks­republik und damit an einen undurchsichtigen Justiz­apparat auszuliefern, in dem die Rechts­staatlichkeit nicht gesichert ist. Seit 9. Juni fordern Millionen mit ihren Protesten, dass der umstrittene Entwurf vollständig zurückgezogen wird. Dabei kommt es immer wieder zu gewaltsamen Zusammen­stössen zwischen Demonstranten und Polizei.

Statt die Forderung der Protest­bewegung zu erfüllen, hat die Hongkonger Regierung den umstrittenen Gesetzes­entwurf bisher lediglich für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Damit befeuert sie das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber den Regierenden. Sie vermittelt den Eindruck, dem Willen der Pekinger Zentral­regierung stärker verpflichtet zu sein als den Interessen der eigenen Bevölkerung. Nach Meinung vieler Demonstranten hat die eigene Regierung mit ihrer Weigerung, angemessen auf die Forderungen der Protest­bewegung einzugehen, die schwerste politische Krise heraufbeschworen, die sie seit der Rückgabe des Stadt­staates an China im Jahr 1997 erlebt hat.

«Die Fehlentscheidungen der Hongkonger Regierung haben die Bevölkerung zusammen­geschweisst und sie erst recht bestärkt, entschlossen für ihre Sache einzutreten», sagt Kong Tsung-gan, einer der Aktivisten. Er hat ein Buch über die Regenschirm-Bewegung von 2014 geschrieben («Umbrella: A Political Tale from Hong Kong»). «Diese Fehl­entscheidungen zeigen, wie unendlich weit die Hongkonger Regierung und Chinas Kommunistische Partei von der Stimmungs­lage der Menschen in Hongkong entfernt sind. Zudem haben beide seit der Regenschirm-Bewegung eine enorme Arroganz entwickelt und einen harten Kurs gegen Hongkongs Zivilgesellschaft eingeschlagen.»

Warum die Bewegung bis jetzt durchgehalten hat

Ein baldiges Ende des zivilen Massen­ungehorsams ist nicht in Sicht. Regierung und Polizei gehen immer härter gegen die Demonstranten vor. Woche für Woche kommen Gummi­geschosse und Schlagstöcke zum Einsatz und ziehen Tränengas­schwaden durch die Strassen. Blutige Szenen an der Konfrontations­linie zwischen Protestierenden und Polizisten sind für die jungen Hongkonger – viele von ihnen studieren und haben gerade Semesterferien – zur neuen Realität geworden.

Vorhandsmash: Mit Tennisschlägern werden die Tränengas­petarden der Polizei abgewehrt. Chris McGrath/Getty Images

«In den vergangenen Wochen habe ich miterlebt, wie immer mehr junge Leute von der Polizei verhaftet wurden», berichtet ein Demonstrant, der sich Bus nennt. «Obendrein nimmt bei den Demonstranten die Erschöpfung zu, nachdem sie fast den ganzen Sommer lang jeden Freitag, Samstag und Sonntag auf der Strasse waren. Ich für meinen Teil demonstriere lieber friedlich. Aber ich kann nachvollziehen, warum manche Jugendliche bei den Protesten auf Konfrontation gehen. Ich habe ja gesehen, wie sie von Polizisten geschlagen wurden, und der Tränengas­geruch dringt bis in meinen Laden.»

Die Stimmung auf Hongkongs Strassen wird von Woche zu Woche angespannter. Mittlerweile haben die Demonstrantinnen allerhand Methoden entwickelt, um dafür zu sorgen, dass die Polizei sie nicht identifizieren oder verfolgen kann. Um ihre Identität nicht preiszugeben, demonstrieren fast alle vermummt. Sobald jemand, der ihnen verdächtig vorkommt, eine Kamera auf Protestierende richtet oder sie mit dem Smartphone aufnimmt, schrecken sie auf und sind alarmiert. Auch ich als Presse­vertreter wurde mehrfach von besorgten Demonstranten angesprochen, nachdem ich Fotos gemacht hatte. Viele wollten die betreffende Aufnahme sehen und baten mich meistens, sie zu löschen, wenn darauf ihre Gesichter zu sehen waren.

Doppelte Abwehr: Die Masken dienen dem Schutz vor Tränengas und der Anonymisierung. Billy H.C. Kwok/Getty Images

Damit die Polizei nicht nachverfolgen kann, wo sie sich gerade aufhalten, verzichten immer mehr Demonstranten darauf, ihre aufladbaren U-Bahn-Dauerkarten zu benutzen, sie kaufen sich stattdessen lieber einfache Tageskarten. In der Vergangenheit nutzten die Hongkonger Ermittlungs­behörden die auf den Dauer­tickets gespeicherten Daten, um Verdächtigen auf die Spur zu kommen. Nun geht bei den Protestierenden die Sorge um, die Polizei könnte sich des gleichen Tricks bedienen, um ihren Aufenthalts­ort zu ermitteln und Beweise dafür zu sammeln, dass sie an den Demonstrationen teilgenommen haben.

Während die Medien sich vor allem für die gewaltsamen Zusammen­stösse zwischen Demonstranten und Polizei interessieren, findet Kong Tsung-gan wichtig, dass die Welt­öffentlichkeit die Proteste als eine breite Basis­bewegung begreift, die Menschen aus allen Bevölkerungs­schichten vereint. «Es muss deutlich werden, dass diese Bewegung von weiten Teilen der Gesellschaft getragen wird», sagt Kong. «Das ist meiner Meinung nach auch einer der Gründe, warum die Bewegung so lange durchhält.»

Was die Bewegung aus der Vergangenheit gelernt hat

Dass die Proteste gegen das geplante Auslieferungs­gesetz ohne Leader­figuren und klar definierte Ziele auskommen, sich stattdessen als fliessende Bewegung formieren, ist für die meisten Aktivisten einer der wichtigsten Fortschritte gegenüber der Regenschirm-Bewegung. 2014 hatten sich die Demonstrantinnen vor allem darauf konzentriert, möglichst lange ein bestimmtes Gebiet im Hongkonger Finanz­distrikt zu okkupieren. Entsprechend leicht konnte die Polizei gegen die Protestierenden vorgehen und sie in Gewahrsam nehmen. Diesmal lassen die Demonstranten sich von der Maxime «Sei wie Wasser» leiten, die Kampfsport­legende Bruce Lee einst als Prinzip empfahl: Jede Protest­kundgebung ist eine fluktuierende Menschen­ansammlung, die sich blitzschnell zusammen­finden und im nächsten Augenblick wieder auflösen kann.

«Durch die Regenschirm-Bewegung haben wir gelernt, wie man eine soziale Bewegung am Leben erhält», sagt Bus. «Wir verzichten auf länger anhaltende Blockaden bestimmter Bereiche und achten darauf, dass wir uns jederzeit mühelos sammeln und wieder zerstreuen können. Damit behält die Bewegung immer ihre Dynamik.»

Für Kong Tsung-gan haben die Proteste gegen das Auslieferungs­gesetz noch eine weitere wichtige Dimension: Sie stärken das Identitäts­gefühl der Hongkonger Bevölkerung. Als die Regierung im Februar 2019 den Gesetzes­entwurf zum ersten Mal durchdrücken wollte, empfanden die Hongkonger dies als unmittelbaren Angriff auf ihre Lebensweise – und nachdem die Regierung im Juni nach zwei Protest­märschen mit einer oder zwei Millionen Teilnehmern keine Reaktion zeigte, erkannte die Bevölkerung, dass es höchste Zeit war, sich für ihre Stadt starkzumachen.

«Irgendwann stellten sich immer mehr Leute die Frage, ob die Bewegung nicht längst mehr ist als ein Protest gegen das Auslieferungs­gesetz. So weitete sie sich mehr und mehr zum grundsätzlichen Protest gegen die Regierung aus», so Kong. «Den Menschen in Hongkong wurde bewusst, dass ihr Stadtstaat im Dauerkrisen­modus regiert wird und sie die Dinge nicht einfach in Ewigkeit so weiterlaufen lassen können.»

Welche Rolle die moderne Technik spielt

Eine weitere Besonderheit der Anti­auslieferungs­bewegung ist der effektive und innovative Technologie­einsatz. Kong erinnert sich, dass die Regenschirm-Bewegung von 2014 vor allem ein Online­forum und Whatsapp-Gruppen nutzte, um ihre Kundgebungen zu organisieren und Strategien abzusprechen. In den fünf Jahren seither hat sich auch das technologische Handwerks­zeug der Hongkonger Demonstrantinnen weiterentwickelt.

Kamerascheu: Die Objektive der Überwachungs­kameras werden zugeklebt und abgeschirmt. Ivan Abreu/SOPA Images/LightRocket/Getty Images

«Telegram und das beliebte Onlineforum LIHKG erweisen sich bei den Protesten gegen das Auslieferungs­gesetz als enorm hilfreich», sagt Kong Tsung-gan. «Die Plattformen sind nicht das Neueste vom Neuesten, aber sie werden sehr effizient eingesetzt. Telegram ist besonders für die Leute sehr nützlich, die Aktionen organisieren und möglichst viele Leute darüber informieren wollen.»

Die cloudbasierte Messaging-App Telegram wurde 2013 von Nikolai und Pawel Durow gegründet. Sie bietet eine Funktion namens «Geheimer Chat», bei der alle Nachrichten zuverlässig verschlüsselt werden. Die geheimen Chats werden nicht über die Telegram-Cloud übertragen und sind nur auf den beiden beteiligten Endgeräten abrufbar. Vor Beginn eines geheimen Chats müssen die beiden Endgeräte ein «Schlüsselpaar» austauschen, das gewährleistet, dass der Chat geschützt wird. Dank dieser Funktion erfreut sich Telegram bei Mitstreitern verschiedenster sozialer Bewegungen inzwischen grosser Beliebtheit.

Bus gehörte zu den Haupt­organisatoren der friedlichen Aktion «Hong Kong Way», bei der Demonstranten am 23. August 2019 eine Menschenkette durch die Stadt bildeten. Vorbild für die Aktion war der «baltische Weg», mit dem 1989 Menschen im Baltikum ihren Protest gegen die Sowjetunion zum Ausdruck brachten.

Die Idee zum «Hongkonger Weg» entstand im Online-Forum LIHKG und fand innerhalb kürzester Zeit Zuspruch von Tausenden Protest­willigen. «Wenige Stunden nachdem jemand auf LIHKG den Vorschlag gepostet hatte, bildeten Aktivisten aus verschiedenen Stadtteilen eigene Telegram-Gruppen und riefen die Leute zum Mitmachen auf», sagt Bus. «Manche Gruppen animierten innerhalb von 24 Stunden 10’000 Nutzer zur Teilnahme an der Menschen­kette.»

Wie sich die Demonstrantinnen organisieren

Für die dezentrale und anführerlose Bewegung in Hongkong bedeuten Instrumente wie Telegram und LIHKG einen grossen Effizienz­gewinn. Deshalb werden die Mitglieder der Protest­bewegung diese Technologien wohl auch künftig nutzen, um Ideen zu sammeln und spontane Demonstrationen auf die Beine zu stellen, die immer im Fluss bleiben und es den Behörden entsprechend schwer machen, sich auf sie einzustellen.

Sehr eifrig nutzen die Protestierenden in Hongkong – neben dem Online-Forum und Telegram – auch die iPhone-Funktion Airdrop, um per Bluetooth oder WLAN Fotos und Videos zu teilen oder Informationen zu geplanten Protest­aktionen und Verhaltens­tipps für Konflikte mit der Polizei zu verbreiten. Bei einer Protest­kundgebung im Juli verschickten sie im Hongkonger Shopping- und Ausgehviertel Tsim Sha Tsui digitale Flugblätter in vereinfachten chinesischen Schrift­zeichen an Touristen aus Festlandchina.

Dass Airdrop in der Protest­bewegung gegen das Auslieferungs­gesetz so intensiv zum Einsatz kommt, liegt an der Sharing­funktion, mit der man Informationen zu geplanten Protest­aktionen massenhaft an alle Geräte in einem bestimmten Radius übermitteln kann. Wer derzeit in einer Hongkonger U-Bahn sitzt, bekommt unterwegs nicht selten Flugblätter und Infos zu Protest­aktionen oder Demos aufs Handy geschickt.

Für die meisten Mitstreiter der Protest­bewegung ist der effektive Technologie­einsatz nicht nur eine Möglichkeit, um zeitnah relevante Informationen zu bekommen. Er macht es auch viel leichter, potenzielle Demonstrantinnen zum Mitmachen zu motivieren. «Vor fünf Jahren mussten wir einen Riesen­aufwand treiben, wenn wir in der Protest­bewegung ein Meinungs­bild erstellen wollten. Mit den technischen Hilfs­mitteln, die wir jetzt haben, können wir interaktiv Ideen austauschen und uns auf eine gemeinsame Linie verständigen», sagt ein Demonstrant mit dem Decknamen Chang, und die Freude ist ihm anzumerken. «Das stärkt auch den Zusammen­halt der Bewegung insgesamt.»

Wie lange die Proteste andauern werden, weiss niemand. Die Demonstranten wollen so lange auf die Strasse gehen und für ihr Anliegen kämpfen, bis die Regierung angemessen auf ihre Forderungen eingeht. «Im Augenblick planen die meisten Demonstranten ihre Aktionen nur tage- oder wochenweise voraus», sagt Chang. Lohnt sich der Einsatz überhaupt, wenn der Sonder­status Hongkongs ohnehin 2047 endet? «Niemand weiss, ob das Versprechen ‹Ein Land, zwei Systeme› in den kommenden 28 Jahren eingelöst wird oder nicht. Solange wir die Möglichkeit haben, werden wir also für Hongkong weiterkämpfen.»

Zum Autor

Der Journalist William Yang lebt in Taipeh (Taiwan), er schreibt als Ostasien-Korrespondent vor allem für die «Deutsche Welle».

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