Poesie & Prosa

Hallo Biene! Hallo Ziege! – Hallo Lektorat?!

Karen Köhler: «Miroloi»

Ihr erster Erzählband war ein Sensationserfolg, nun hat Karen Köhler ihr Romandebüt vorgelegt. Damit steht sie nicht nur auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis – sondern auch in einem Sturm der Kritik.

Von Eva Behrendt, 26.08.2019

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«Mein Miroloi», sagt die Erzählerin, «muss ich mir selber singen, damit kann ich nicht warten, bis ich gestorben bin, sonst wird es mich nicht gegeben haben.» Ein Miroloi ist ein Klagelied, mit dem griechisch-orthodoxe Frauen ihre Toten ehren. Und «Miroloi» heisst auch der Debüt­roman von Karen Köhler, mit dem sie auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht.

Kaum erschienen, hat er bereits eine Feuilleton­debatte darüber entfacht, ob die Kriterien von Verlag, Literatur­betrieb und Publikum nun komplett auf den Hund gekommen sind: «Wenn das aber Literatur ist, und so siehts ja wohl aus, dann hat sich der Literatur­begriff in den letzten Jahren radikal gewandelt, und wir brauchen neue Massstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks», fordert der Germanist Moritz Bassler in der TAZ. Ein anderer Kritiker unterstellt einigen seiner Kollegen, sich vor allem aufgrund des «Trend-Themas Feminismus» für den Roman zu interessieren. Also eine «Kriterienkrise» ausrufen wie die Wochen­zeitung «Der Freitag»? Oder würde es reichen, unvor­eingenommen zu lesen und zu prüfen, ob der Roman die Regeln auch einhält, die er sich gibt?

Die 15-Jährige, die in «Miroloi» schon in der ersten von 128 «Strophen» an das eigene Ende denkt, kann weder lesen noch schreiben. Sie ist ein Underdog in jeder Hinsicht: jung, fremd, sozial ausgegrenzt und ausgebeutet. Seit einer sinnlos grausamen Straf­aktion am Dorf­pranger, kurz «Pfahl» genannt, hinkt sie obendrein. Elternlos ist sie beim «Bethaus-Vater» aufgewachsen, ihrem Finder und wohl auch Beschützer in der archaisch patriarchalen Dorf­gemeinschaft; nicht einmal einen Namen hat er ihr gegeben. Zugleich ist sie angetrieben von unbändiger Lebenslust, Wissbegierde und der Sehnsucht nach einer eigenen Geschichte, einer Identität: «Ich möchte auch nur mir selbst gehören. Wenn du dir nicht selbst gehörst, bist du nicht frei.»

Dass Karen Köhler, die mit ihrem Erzählband «Wir haben Raketen geangelt» vor fünf Jahren einen Sensations­erfolg landete, nun eine Totenklage nachlegt, die vom prallen Leben erzählt, ist konsequent. Die letzte Short Story aus dem «Raketen»-Band liest sich im Rückblick geradezu als Skizze des Roman­projekts: «Findling» war eine Art Testament (oder Miroloi) einer bettlägerigen Tatarin in der russischen Taiga, die für etwaige Entdecker ihrer Leiche das eigene Leben Revue passieren lässt.

Und auch die anderen, in der westlichen Gegenwart angesiedelten Erzählungen riefen intensive Gefühle auf: existenzielle Krisen, etwa den Verlust eines Partners, Krankheit, Selbstmord oder Traumatisierung durch Missbrauch. Köhler konzentrierte sich damals auf fast filmisch geschnittene Moment­aufnahmen, etwa ein 27 Tage umfassendes Journal, das den Hungertod seiner Verfasserin auf einem Jäger­hochsitz protokolliert («Wild ist scheu»): clevere, aber auch ziemlich wirkungs­bewusste Konstruktionen.

Mit «Miroloi» hat Karen Köhler nun mehr im Sinn, als Schlag­lichter auf Durchschnitts­seelen zu werfen, die plötzlich in Aufruhr geraten. Ihre Roman­konstruktion zielt aufs Überzeitliche und Parabel­hafte. Und da liegt schon der Hase im Pfeffer.

So überzogen man den Ton mancher Kritiker­polemik gegen den Roman halten kann: Es gibt ziemlich gute Gründe, «Miroloi» misslungen zu finden.

Zunächst: Der Roman kann sich nicht zwischen Realismus und Fantasy entscheiden.

Einerseits könnte sich die «Schöne Insel» mit dem «Schönen Dorf» tatsächlich in der Ägäis befinden, wo nicht nur das Miroloi historisch verortet ist, sondern Karen Köhler laut Danksagung recherchiert und geschrieben hat. Auch die von der Ich-Erzählerin fast betulich geschilderten Abläufe bei der Getreide- und Olivenernte, beim Kochen und Backen von «Dakosbrot», bei Dorffesten und Hochzeiten scheinen auf mediterrane Praktiken zurückzugehen.

Andererseits folgen die Insulaner dem strengen Regelwerk eines von Koran, Thora und Bibel inspirierten Schrift­werks namens «Khorabel», über dessen Einhaltung ein männlicher Ältestenrat wacht. Sie feiern Messen, die nach der hinduistischen Chhat Puja «Pujachatt» heissen, und ahnden Regel­verstösse mit fundamentalistischer Grausamkeit. Vor allem aber haben sie der modernen Welt mit ihren Geld­kreisläufen, Stromkabeln und Kommunikations­netzen entschieden den Rücken gekehrt. Zwar besucht ab und zu ein Händler die Insel, um läppische Kiwis und Feuerzeuge gegen prächtige Natur­produkte einzutauschen; seltener kommt noch ein Arzt, der sich mit sexuellen Gefälligkeiten lokaler Schön­heiten bezahlen lässt. Doch für die frommen Insulaner selbst sind Reisen oder gar Flucht undenkbar und praktisch unmöglich.

Das Setting also: ein patriarchales Atlantis, entfernt verwandt mit Sekten­gemeinden wie denjenigen der Amish oder der Mennoniten.

Hat man diese gesampelte Welt als kompositorische Setzung akzeptiert, schieben sich andere Ungereimtheiten ins Bild. So darf die Ich-Erzählerin plötzlich lesen und schreiben lernen, obwohl das den Inselfrauen verboten ist. Als ihre grossmütterliche Freundin Mariah – wie sich später herausstellt, die Hüterin des verdrängten matriarchalen Erbes der Insel – ihr Zeitungs­ausschnitte, Heft und Stifte schenkt, beschliesst der Bethaus-Vater, die Heranwachsende selbst zu unterrichten. Ein überraschender Sinnes­wandel, wo er doch eigentlich das System stützt und «sein Mädchen» bislang nicht als Schülerin zum pädophilen Lehrer geschickt hat, sondern als unbezahlte Hilfskraft bei der Wäsche und Schlimmerem.

Zeitgleich und ebenso schlagartig vollzieht sich ihr sexuelles Erwachen. Vom Betschüler Yael, in den sie sich Hals über Kopf verliebt, bekommt sie nicht nur ihren ersten Kuss, sondern bald auch den ersehnten Namen, Alina. Dass aber zwei so repressiv erzogene Jugendliche wie die Bethaus-Magd und der künftige Priester nun leidenschaftlich übereinander herfallen könnten, muss auch Karen Köhler etwas abwegig vorgekommen sein. Deshalb lässt sie unmittelbar nach dem Kuss Sofia, eine heimliche Freundin Alinas, die Jüngere über die Funktion ihrer «Knospe» aufklären, samt ausführlicher Anleitung zur Selbst­befriedigung und unverklemmter Kuss­erprobung von Frau zu Frau.

Diese feministisch gemeinte Feier des weiblichen Körpers im Hinter­zimmer des Patriarchats wirkt allerdings eher unglaub­würdig – zumal Sofia von ihrem trinkfreudigen Gatten regelmässig grün und blau geschlagen wird. Yael aber bringt Alina schon beim zweiten oder dritten Vollmond­treffen oral zum Orgasmus, und das, obwohl er gar nicht bei Sofia war.

Nun könnte man die logischen Lücken in «Miroloi» damit verteidigen, dass hier schliesslich eine junge Frau ohne Privilegien, Bildung und Überblick erzählt.

Ihre anfängliche Naivität schwindet zwar mit zunehmender Lese­kompetenz (sie entdeckt später sogar, dass die Khorabel erst zensiert, dann umgeschrieben wurde). Dennoch bleibt Alina, der strikt im Präsens gehaltenen Erzähl­weise nach, auf ihr unmittelbares Erleben zurück­geworfen. Karen Köhler inszeniert Alinas unschuldige Welt­aneignung durch Sprache mit einer solchen Fülle von Wort­spielereien und kreativen Kniffen, dass dieser Prozess seine Glaubwürdigkeit gleich wieder verliert. Alina spricht in zahllosen neuen Wort­bildungen («Schimpfwort­krone», «Oktopus­herz», «zickzacke ich durch die Gassen») und nervigen Anaphern:

Ich bin leseerschöpft, ich bin erntemüde, ich bin glücklich.

Das grosse Blaublau. Unermesslich schön. Unermesslich weit. Unermesslich tief.

Meine Wangen so heiss. Mein Bauch so kribbelig.

Das klingt dann insbesondere in puncto Sex und Liebe unfreiwillig komisch: «Schon bin ich oben auf dem Berg, hallo Biene, ich fliege auch wie du. Hallo Mühle, ich habe Flügel, genau wie du. Hallo Eidechse. Hallo Ziege. Hallo Bucht.» – Hallo Lektorat?!

Lange hält die Weltverschmelzungs­lust nicht an. Während Alinas Horizont sich immer mehr weitet, verunglückt Mariah und stirbt der Bethaus-Vater; ein strengerer Glaubens­bruder tritt an seine Stelle. Überdies richtet der Händler aus, dass die Landes­regierung die Zwangs­elektrifizierung der Insel plant, was bei den schwer arbeitenden Insulanerinnen mehr Neugier als Abwehr auslöst: Grund genug für die herrschenden Männer, weiteren Modernisierungs­folgen vorzubauen.

Es folgt eine krude Schleuder­fahrt zwischen «Nebel von Avalon»-Erotik, «Report der Magd»-Dystopie und «Dogville»-Sadismus: Die ohnehin schon radikale Gemeinde radikalisiert sich weiter. Bis sie schliesslich zu einer Art schrillen IS-Zelle geworden ist, mit Nachrichten­sperre, Verschleierungs­gebot, Alkohol­verbot und Steinigungs­pflicht.

Obwohl Karen Köhler Alinas Emanzipation und die Radikalisierung der Gemeinde in keinen ursächlichen Zusammen­hang bringt, bleibt ein letzter schwerwiegender Widerspruch. Denn so kämpferisch sich die Autorin mit Alinas Stimme über das drastische Unrecht ihrer patriarchalen Fiktion empört, so ungebrochen lässt sie ihre Heldin auch das Loblied des einfachen Lebens singen und die heile Schönheit der Inselnatur preisen. Landlust auf Griechisch, Melinzanes-Rezept inklusive.

Aber ist Emanzipation ohne die Errungenschaften der Moderne überhaupt denkbar? Der Feminismus jedenfalls ist nicht schuld daran, dass Alinas Lese- und Schreib­kompetenz hier bloss in die Regression führt.

Zum Buch

Karen Köhler: «Miroloi». Roman. Carl-Hanser-Verlag, München 2019. 463 Seiten, ca. 35 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.

Zur Rezensentin

Eva Behrendt ist Redaktorin der Zeitschrift «Theater heute». Als freie Kritikerin schreibt sie unter anderem für die TAZ und die Zeitschrift «Merkur».

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