Den Nerv der Zeit getroffen: Liv Strömquist, «Der Ursprung der Liebe».Avant-Verlag

Warum feministische Comics einen Nerv treffen

Graphic Novels galten lange als Männerdomäne. Mittlerweile sind sie eine ideale Plattform für junge Frauen, um persönliche Geschichten zu erzählen.

Von Karin Cerny, 21.08.2019

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1972 schickte die Nasa die Raumsonde Pioneer mit Informationen über menschliches Leben ins All, eine Art Flaschen­post an etwaige Ausser­irdische. Auf eine Aluminium­plakette war die Zeichnung eines nackten Mannes und einer nackten Frau graviert. Das männliche Geschlechts­organ war abgebildet, das weibliche nicht. In der ursprünglichen Version hatte ein Strich die Vulva angedeutet. Er wurde entfernt – es gab Bedenken, die Leitung könnte Einspruch erheben.

Die Ängste der Aliens

War die Nasa tatsächlich der Auffassung, dass Aliens auf einem fernen Planeten das Bild von abstrahierten Scham­lippen anstössig finden würden? Das fragt die schwedische Zeichnerin und Radio­moderation Liv Strömquist in ihrer 2014 erschienenen Graphic Novel «Kunskapens frukt» («Der Ursprung der Welt», 2017). Der Titel nimmt Bezug auf Gustave Courbets gleichnamiges Gemälde). Strömquist macht sich lustig über diese männlichen Ängste, zeichnet Aliens, die beim Anblick der Vulva angewidert sagen: «IGITT!! Darauf antworten wir NICHT! Wenn sie eines Tages fragen, sagen wir einfach, wir haben nichts bekommen!!»

Strömquist, 1978 geboren, findet den richtigen Tonfall, um feministische Anliegen für eine breite Öffentlich­keit verständlich und unterhaltsam aufzubereiten. Das Resultat macht Spass, obwohl es sich um ernsthafte Aufklärung handelt: um eine eigentliche Kultur­geschichte der weiblichen Sexualität – und ihrer Unter­drückung. Indem Strömquist historische Briefwechsel, philosophische Abhandlungen und medizinische Theorien aufbereitet und in satirische Comic­form verpackt, verarbeitet sie Wissens­inhalte in ein ansprechendes Popformat.

Ihre profunden Kenntnisse verwendet die Autorin dabei, um unser Verständnis von Liebe und Sexualität, das gern als Natur verkauft wird, als gesell­schaftliches Konstrukt offenzulegen. Wann hat es begonnen, dass weibliche Sexual­organe nicht dargestellt werden dürfen? Strömquist bringt in ihrer Graphic Novel zahlreiche Beispiele. Sie dokumentiert Abbildungen und Statuen von Frauen aus dem Mittel­alter, die ihre Vulva zeigen. Oder von Frauen, die im 19. Jahr­hundert in Fabeln sogar dem Teufel ihr Geschlecht präsentieren – und ihn auf diese Weise besiegen.

Ernsthafte Aufklärung, ... Avant-Verlag
... die Spass macht: «Der Ursprung der Welt» von Liv Strömquist. Avant-Verlag

Unter den neuen feministischen Zeichnerinnen ist Strömquist ein Star. Gezeichnete Bücher boomen, das Genre ist beliebt und eignet sich hervor­ragend für satirisch-kritische Sachbücher. Auch sie zählen zum Genre der Graphic Novels, obwohl es sich dabei der Definition nach um illustrierte Romane handelt – eine aus den USA über­nommene Bezeichnung, gebräuchlich seit den 1980er-Jahren. Ob Roman oder Sachbuch: Beides geht.

In der Tat erscheinen inzwischen zahlreiche Graphic Novels, die es vom Umfang und der erzählerischen Komplexität her durchaus mit klassischen Romanen aufnehmen können. Von dieser Aufwertung scheint die Verlags­welt nun generell profitieren zu wollen und verwendet das Label «Graphic Novel» auch dort, wo früher «Comic» stand: Viele amerikanische Titel erschienen ursprünglich als Comic­heft, bevor sie als Graphic Novel erneut auf den Markt kamen. Vermutlich ist da auch Marketing im Spiel. Graphic Novels sprechen erwachsene Konsumenten an, während sich herkömmliche Comics eher an Kinder richten.

Männerfantasien, Frauenpower

Comics galten lange als Männer­domäne. Die Gattung wurde von Gewalt und Action bestimmt. Die Zeichner von grossen Comic­reihen aus den Häusern Marvel oder Disney waren jahrzehnte­lang vorwiegend männlich, und entsprechend klischee­haft dargestellt erschienen in solchen Comics die Frauen­figuren. Auch die Helden waren im Marvel-Universum meist männlich, es mangelte an coolen Super­heldinnen und glaub­haften Identifikations­figuren für Frauen. Trotzdem war der Comic stets beides, Kommerz und Subkultur, Punkrock und Mickey Mouse.

Wie verklemmt wir noch immer sind und wie aktuell Strömquists Recherchen zur Vulva und unserem Konstrukt von romantischem Begehren, das sie bereits 2010 in «Prins Charles Känsla» («Der Ursprung der Liebe», 2018) behandelte, nach wie vor bleiben, beweist ein kürzlich erschienener Essay von Slavoj Žižek. Der slowenische Philosoph fordert, das Geschlechts­organ der Frau möge doch bitte um der männlichen Erotik willen ein Mysterium bleiben. Dass Frauen die Vulva zurückerobern wollen, findet er unsexy. In den Kommentaren zu Žižeks Text fiel auf: Das weibliche Geschlecht ist in der Tat für viele noch immer ein Rätsel – sie werfen die Begriffe Vulva (der sichtbare, äussere Teil des Geschlechts) und Vagina (die Körperöffnung, die den äusseren und inneren Teil miteinander verbindet) unwissend durcheinander.

Seltsam auch, wie sehr der weibliche Körper noch immer irritiert. Wie er stigmatisiert wird. Junge Feministinnen machen sich vermehrt stark, ihn von den vielen falschen Zuschreibungen und Tabus zu befreien. Die Wiener Soziologin Laura Wiesböck etwa fragt, warum der weibliche Körper nach wie vor als «Areal der Beschämung» herhalten muss.

Graphic Novel als ideales Medium, die eigene Geschichte zu erzählen: Alison Bechdel, «Fun Home». Carlsen-Verlag, Hamburg

In solchen feministischen Debatten sind Graphic Novels am Puls der Zeit. Sie reagieren auf aktuelle Streit­fragen, sind ein adäquates Medium, um persönliche Erfahrungen öffentlich zu machen, die zugleich davon erzählen, was in der Gesellschaft falsch läuft. Bestes Beispiel dafür sind die queer-feministischen Alltags­geschichten der Amerikanerin Alison Bechdel, die mit schwarzem Humor punktet. Ihr bekanntestes Buch «Fun Home» (2006) erzählt von der geheim gehaltenen Homo­sexualität des eigenen Vaters. In sieben auto­biografischen Kurz­geschichten beschreibt Bechdel ihre Kindheit und Jugend in den 1960er-Jahren, ihr eigenes Coming-out ist dabei zentral.

Girlsplaining

Aber auch im deutschsprachigen Raum herrscht seit einiger Zeit Aufbruch­stimmung. Zentren der neuen Szene sind Berlin, Hamburg und Leipzig. Katja Klengel (Jahrgang 1988), die von Jena nach Berlin zog, übersetzte sexistische Erfahrungen in eine Comic-Kolumne auf dem Online­magazin «Broadly». Letztes Jahr sind diese Kolumnen gesammelt als Buch erschienen: «Girlsplaining» vermischt Popkultur mit Feminismus. Dadurch, dass die Geschichten sehr persönlich sind, ist das Identifikations­potenzial der Leserinnen gross. Gerade bei jungen Autorinnen liegen autobiografische Themen im Trend.

Pointierter Blick und der Wille zu Unterhaltung: Katja Klengel, «Girlsplaining».Reprodukt

Ulli Lust, 1967 in Wien geboren, auch sie unterdessen in Berlin lebend, gilt als Vertreterin des sogenannten «dokumentarischen Comics», das der journalistischen Reportage ähnlich ist. Lust behandelt aber auch auto­biografische Themen. 2009 erschien ihre 450-Seiten-Graphic-Novel «Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens», in dem zwei Punk-Freundinnen nach Italien reisen, um aus ihrem Alltag auszubrechen. Sie lernen auf dieser Reise aber auch Mafia­mitglieder, Junkies und aufdringliche Männer kennen. Eine von ihnen wird vergewaltigt.

Lusts gezeichneter Jugend­roman erzählt von einem Selbstfindungs­prozess unter schwierigen Bedingungen – und wurde in den Medien als «Sensation» und «feministisches State­ment» gefeiert.

Abseits von persönlichen Erfahrungen geht die Leipziger Illustratorin Julia Zejn (Jahrgang 1985) das Thema an. Ihre Graphic Novel «Drei Wege», letztes Jahr erschienen, ist literarischer: Im Zentrum stehen drei Frauen­schicksale, die ein Jahr­hundert abdecken, vom Dienst­mädchen über eine Arbeiterin in den 1968er-Jahren bis zur zeit­genössischen Studentin, die in Berlin lebt. Alle drei sind gefangen in Strukturen, die ihnen nicht erlauben, ihr Leben so zu führen, wie sie es gerne führen würden.

Frauenschicksale, die ein Jahrhundert abdecken: Julia Zejn, «Drei Wege».Avant-Verlag

Was viele dieser Graphic Novels verbindet, ist ihr pointierter Blick und der Wille zur Unter­haltung. Sie lassen vergessen, dass es komplexe und theorie­beladene Themen sind, die aufbereitet werden: Gender­diskurs für Anfänger. Feministische Comics wollen Augen­öffner dafür sein, was in Geschlechter­rollen falsch läuft. Sie treffen damit einen Nerv der Zeit.

Die Nasa könnte sich davon eine Scheibe abschneiden. Man lernt in den Comics nämlich mehr über Frauen als in jenen Botschaften, die ins All geschickt werden. Den Aliens ist die Darstellung einer Vulva durchaus zumutbar.

Zu den erwähnten Comics

Liv Strömquist: «Der Ursprung der Welt». Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag 2017, 140 Seiten, ca. 30 Franken.

Liv Strömquist: «Der Ursprung der Liebe». Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag 2018, 136 Seiten, ca. 30 Franken.

Alison Bechdel: «Fun Home». Carlsen 2006, 240 Seiten, ca. 16 Franken.

Katja Klengel: «Girlsplaining». Reprodukt 2018, 160 Seiten, ca. 27 Franken.

Ulli Lust: «Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens». Avant-Verlag 2009, 464 Seiten, ca. 43 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.

Julia Zejn: «Drei Wege». Avant-Verlag 2018, 184 Seiten, ca. 37 Franken.

Zur Autorin

Karin Cerny lebt in Wien. Sie schreibt regelmässig über Theater, Literatur und Kultur­politik im Wochen­magazin «Profil» sowie Reise- und Mode­geschichten für «Rondo», die Beilage der Tages­zeitung «Der Standard». Für die Republik schrieb sie zuletzt über die Wiener Festwochen.

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