Theaterspektakel

Alle Tassen im Schrank?

Von Barbara Villiger Heilig, 20.08.2019

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Das Theaterspektakel beginnt Abend für Abend auf extraterritorialem Gebiet: im Spezialbus, der vom Bürkliplatz zur Landiwiese rausfährt. Hier kann man den plaudernden Passagieren zuhören und erfährt, was die Menschen so interessiert. Auch dank der Handys, die immer akustischen Einblick ins Privatleben gewähren. Ob man ihn will oder nicht.

«Hoi du, ich bin jetzt im Bus, also ich gehe dann gleich zum Chinesen, was soll ich dir bestellen?»

Gemeint ist natürlich das beliebte Lokal «Tao Yuan» am Seeufer. Dort sehe ich die oben zitierte Handybesitzerin wenig später in der bereits beträchtlich langen Warteschlange stehen. (Nein, es regnet noch nicht.) Erst ab 18 Uhr wird Essen ausgegeben: in ein paar Minuten. Der Geruch von verbranntem Öl hängt beissend in der Luft. Ein Lockruf für hungrige Mägen.

Das «Tao Yuan» existiert seit 1987. Mit seinem «gehobenen Fast Food» asiatischer Inspiration zählt es zu den Veteranen der Speki-Gastroszene. (Was denken sich wohl die vorbeiwatschelnden Enten, wenn sie ihre Artgenossen, knusprig gebraten, auf den Tellern sehen?)

Wer mehr über die Restaurantbetriebe erfahren will, lese die doppelseitige «Kleine Geschichte der Gastronomie am Zürcher Theater Spektakel» von Silvano Speranza im Programmheft (das neben der Festivalkasse aufliegt). Speranza selbst betreibt heute das «Mama Put», doch ist er laut Fussnote schon seit der Gründung des Theaterspektakels «in verschiedensten Funktionen aktiv». Im «Mama Put» gibt es afrikanische Spezialitäten, insbesondere Suya-Spiesse (aber auch Häppchen für Vegetarier und Veganerinnen).

Ein offenes Geheimnis: Das Spektakel gilt für die Zürcherinnen und Zürcher als beliebter Ort, um auswärts essen zu gehen. Am Eröffnungsabend traf ich einen Kollegen, der nicht etwa unterwegs war zu einer Aufführung, sondern zu einem Geschäftsessen in «L’Andis».

Es soll übrigens, so erzählte mir Matthias von Hartz (der künstlerische Leiter des Festivals), Leute geben, die gar nicht wissen, dass hier ausser Strassentheater auch reguläres Theater stattfindet. Solches, zu dem man Tickets braucht. Kein Wunder, wenn so viel geboten wird auf der Wiese!

Ich hingegen versuche, beides zu kombinieren. Gestern wartete ich in der Schlange vor dem «Süd». Auch da diskutierte man vor und hinter mir Verpflegungsfragen: Wohin nach der Vorstellung? Die Qual der Wahl …

Allerdings wurden wir in «Something in This Universe» kulinarisch so gut bedient, dass einem darob beinahe der Appetit verging. Denn die schottische Künstlerin Genevieve Murphy betätigte sich auf der Bühne als Küchenfee der Hardcore-Klasse. Als Küchenhexe sozusagen oder als Hexenmeisterin, der die Küche nach und nach über den Kopf wächst.

Küchenhexe oder Hexenmeisterin? Genevieve Murphy, «Something in This Universe». Christian Altorfer

Zu Beginn ist alles blitzblank: eine gelbe Küchenzeile mit Wasserkocher, Herdplatte, Einbauschränken. Die Küchenfee profiliert sich vorerst als Putzteufel. Nachdem sie mit penibler Genauigkeit Zutaten abgemessen und aufgesetzt hat, greift sie zum Schwamm und scheuert die Arbeitsfläche.

Aber bald artet die Sache aus. Das Gebräu wird über den vorgängig mit Butter eingefetteten Esstisch geleert. Eine braune, klebrige Masse tropft an den Rändern runter und erstarrt zu Karamell-Stalaktiten.

Alice in der Wunderküche: Öffnet sie eine Schranktüre, verbergen sich dahinter nicht etwa Tassen, sondern einzeln aufgehängte Teebeutel. Oder Blumenstöcke. Oder aber es ergiesst sich eine Lawine von Grissini-Krümeln über die Chefin, deren adrettes Outfit (dunkelblau) in der überhandnehmenden Wüstenei wie ein ironischer Witz wirkt.

Genevieve Murphy ist Komponistin und Musikerin. «Something in This Universe» verbindet Performance mit Musik: Knirschgeräusche (die Grissini unter den Schuhsohlen) mischen sich mit zeitgenössischer Klassik, die dem Kühlschrank oder der Waschmaschine entströmt, oder mit Pop aus dem Radio. Text gibt es auch, nur ging er gestern komplett unter im Getrommel der Regentropfen auf dem «Süd»-Dach.

Auch ohne Text wurde klar, dass das Stück den vergeblichen Versuch zeigt, die Kontrolle zu behalten – über eine freche, erfolgreich ihr Recht auf Subversion verteidigende Dingwelt. Sieg des Chaos. Ich kenne das aus der heimischen Küche. In Anbetracht der Gefahren, die mir dort drohen würden, entschied ich mich für eine Pizza im «Lido».

Zur erwähnten Aufführung

Genevieve Murphy: «Something in This Universe». Alle Details und die weiteren Aufführungstermine finden Sie hier.

Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese

Kultur­redaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 16. bis zum 30. August über das Zürcher Theater Spektakel. Ihre Kolumne erscheint an jedem Wochentag. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge – aus diesem Jahr und von 2018.

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