Theaterspektakel

Die Liebe zur Puppe

Von Barbara Villiger Heilig, 19.08.2019

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Ein kleiner Bub, etwa fünf, und ein Grossvater. «Nimmst du ihn mit?» Der Bub nickt, während er versucht, seinen Dino auf dem Trottoir in Bewegung zu setzen. Der Grossvater schliesst das Auto ab, der Bub hebt den Dino behutsam hoch, liebkost ihn und trägt ihn davon. Ein weisser Plastik­roboter, der mehr an medizinisches Gerät erinnert als an ein Kuscheltier.

Die Szene kam mir in den Sinn, als ich gestern Nachmittag in der Shedhalle der Roten Fabrik sass. Klinisches Ambiente, alles weiss ausgeleuchtet, das Publikum auf Roll­schemeln platziert. An den Wänden stehen Reha-Maschinen bereit. Woher kommt ihre furcht­einflössende Wirkung? Es sind ja keine Folterinstrumente, das weiss ich. Und doch: Wer auf solche Maschinen angewiesen ist, hat ein Problem. Sie/er muss lernen, die eigenen Glieder wieder zu gebrauchen, weil sie aus irgendeinem Grund den Dienst verweigern. Ein ungemütlicher Gedanke.

Am Samstag war Volksfest auf dem gesamten Areal des Theater­spektakels, das sein 40-Jahr-Jubiläum feierte. Boris Charmatz hatte «20 danseurs pour le XXe siècle» unter die Menge verteilt; stundenlang tanzten sie ihre Solos: humane Muskelpakete. Der Social Muscle Club hingegen lud ein, an einem 100 Meter langen Tisch im gegenseitigen Gespräch die soziale Muskulatur zu aktivieren. Körper und Seele, beides will trainiert sein. Umso mehr, wenn eine Behinderung ihren Normal­gebrauch verunmöglicht.

«Rehab Training» heisst die Performance in der Shedhalle. Die Süd­koreanerin Geumhyung Jeong macht sich unterdessen zu schaffen an der Puppe auf der Liege: ein lebensgrosser Dummy mit männlichen Zügen, starr lächelndem Ausdruck, beweglichen Gelenken. Konzentriert, sorgfältig und geduldig führt die Performerin ein Programm durch, wie es angehende Pflegerinnen und Pfleger in ihrer Ausbildung einüben. Arme, Hände, Beine, Füsse, Nacken: Sachte wird getestet, was noch funktioniert. Erst danach wird die Puppe, gesichert durch Klebe­bandagen, an einem Bügel in die Vertikale gehoben. Tastende Schritte, ferngesteuert.

Und schon fühle ich mit: ein Schwerverletzter, ein Querschnitt­gelähmter, ein Komapatient?

Zweieinhalb Stunden kein Wort: Geumhyung Jeong, «Rehab Training». Mingu Jeong

«D’Hose sind immer nonig aagleit», bemerkt gut vernehmbar und leicht pikiert eine Zuschauerin in Anbetracht der an der mageren Kunststoff­hüfte herunter­rutschenden Hose des Puppen­manns. Soll er sich dafür schämen? Ach, wie viele intime Blössen erwarten uns, wenn wir uns, früher oder später, in die Betreuung von Reha-Personal werden begeben müssen!

Geumhyung Jeong spricht kein einziges Wort in den zweieinhalb Stunden ihrer Vorstellung. Während sie all die diffizilen Übungen mit Prothesen und Objekten durcharbeitet, werden sie und ihr Partner zum Paar. Er ist komplett abhängig von ihr. Und wir? Dürfen, können, müssen uns in seine Lage versetzen. Ich bin nachgerade dankbar, dass er eine derart fach­kundige Behandlung erfährt. Physisch und menschlich dankbar.

Doch wo ist hier die Kunst zu finden? Erst denke ich an Samuel Beckett und seine aufs Minimum reduzierten Theater­plots, in denen es stets um die Grenze zwischen Gerade-noch und Nicht-mehr geht: um das Leben am Null­punkt, quasi. Ein Leben, das sich bis zuletzt nach Liebe sehnt.

Liebe? Plötzlich kippt das Verhältnis zwischen der koreanischen Künstlerin und ihrem Objekt. Dirigiert von der Frau, öffnet der Dummy in mühseligen Zitter­bewegungen den Reiss­verschluss ihrer Jacke, zieht ihren BH hoch. Sie schiebt ihm eine Gummi­zunge in den Mund. Und schon hat er sich in ihre Sexpuppe verwandelt. Sie begehrt ihn. Jetzt ist sie ihm ausgeliefert.

Ein uraltes Motiv. Pygmalion, der Bild­hauer aus der antiken Mythologie, erschafft eine weibliche Elfenbein­statue und verliebt sich in sie. Mithilfe der Göttin Venus beginnt sie schliesslich zu leben – so berichtet Ovid in den «Metamorphosen». George Bernhard Shaw nimmt das Motiv in seinem «Pygmalion» auf. Auch in volks­tümlichen Sagen ist es verbreitet: Aus dem Alpenraum lässt das Sennen­tuntschi grüssen.

Zu den zahllosen Variationen dieser Geschichte gehört auch «Rehab Training». Nur lässt Geumhyung Jeong, indem sie die Geschlechter umdreht, Gender­gerechtigkeit walten. Und ausser dem Pygmalion-Mythos – den man nicht zu kennen braucht, um ihre unglaublich starke Performance zu verstehen – erzählt sie von unserer Zeit, in der sogar Plastik­dinos lebendig werden.

Zu den erwähnten Aufführungen

Geumhyung Jeong: «Rehab Training» (bereits abgespielt)

Social Muscle Club: Tischgesellschaft zum 40. Zürcher Theaterspektakel (bereits abgespielt)

Alle Informationen zum Zürcher Theaterspektakel finden Sie hier.

Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese

Kultur­redaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 16. bis zum 30. August über das Zürcher Theaterspektakel. Ihre Kolumne erscheint an jedem Wochentag. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge – aus diesem Jahr und von 2018.

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