Theaterspektakel

Tanzende Füsse und andere Footprints

Von Barbara Villiger Heilig, 16.08.2019

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Pünktlich zur Eröffnung platzt der Regen los. Boris Charmatz, hellroter Hoodie, Bluejeans, gelb gestreifte Sneakers, ruft vergnügt: «Ich habe nur darauf gewartet!» (Den charmanten französischen Akzent müssen Sie sich dazudenken.) Er lädt, Platzregen hin oder her, zum «Public Warm-up» ein.

Das Wetter ist beim Zürcher Theater Spektakel immer ein heimlicher Protagonist. Dieses Jahr besonders. Charmatz, der Tänzer und Choreograf aus Chambéry und längst eine internationale Berühmtheit, startet auf der Landiwiese sein neues Experiment. Titel: «Terrain», Umschreibung: «un essai à ciel ouvert», ein Versuch unter freiem Himmel.

Oder ein tänzerischer Essay in verschiedenen Kapiteln, unter Einbezug von Profis und Laien. Das Warm-up findet (fast) täglich statt, es ist für jedermann zugänglich und gratis. Der künstlerische Leiter des «Speki», Matthias von Hartz, trägt eine Plastik­pelerine mit ZKB-Logo (Sponsoren wollen sichtbar sein). «Regen­schirme sind auch gut», erklärt Charmatz.

Alles ist erlaubt. Hauptsache: mitmachen.

Der Regen hat aufgehört, die Sonne setzt Glanzpunkte auf nasse Haare und feuchte Haut. Frauen, Männer, Kinder rennen, hüpfen, turnen fröhlich über die Wiese. «Lauter!», heisst es, wenn ein kollektiver Schrei die Bewegungen begleiten soll. Charmatz macht Posen und Gesten vor und gibt jeweils einen Hinweis auf die Tanzgeschichte: klassisch wie seit Louis XIV, Hip-Hop-inspiriert wie in jüngerer Vergangenheit. Bei ihm sieht alles mühelos-natürlich aus. Er integriert die antrainierte Technik in den Alltag. Das entspricht seiner Philosophie: Den Tanz will er heraus aus den Ballett­studios und herab von den Theater­bühnen holen. Aufs Terrain, unter die ganz gewöhnlichen Leute, in den öffentlichen Raum. Ins Leben.

Dieses Projekt verfolgt er seit Jahren. Jetzt, beim Theater­spektakel, dreht er es weiter. Der Pavillon, in dem er nach der Aufwärm­phase zusammen mit dem Jazzmusiker Médéric Collignon eine sechzig­minütige «Improvisation» hinlegt, ist bloss ein Skelett: Metall­balken, zusammen­gehalten von Stahlseilen (denen Collignons Schlag­stöcke Klang und Rhythmus entlocken). Ein Tanzsaal ohne Wände und Dach, durchlässig für das Wetter und die Welt. Dass ich im herbstlichen Abend­wind fröstle, ist Teil des Programms.

Als Kulisse der knallblaue See mit munteren Segel­schiffchen, der Uferweg mit Joggerinnen, Fahrrädern, Hunden. Eine Familie beim Picknick – Statisten oder Publikum? Bei Charmatz weiss man das nie. Alles gehört ins Bild. Die Grenzen zwischen draussen und drinnen lösen sich auf.

Mit sofortiger Wirkung: Mein Blick wird inklusiver. Auf dem Weg übers Gelände fallen mir Schilder auf. «Zürcher Theater Spektakel CO2 NEUTRAL», verkünden sie stolz. Aber was bedeutet das genau? Drinnen/draussen: Wo beginnt, wo endet das Spektakel oder – besser – seine CO2-Neutralität?

Charmatz hatte, als er seine Stretching­übungen vorführte, einige davon als besonders passend «für den Flughafen» empfohlen, wo er sich damit die Wartezeit vertreibt. Weltweit gefragte Künstler wie er sind Vielflieger.

Auch die Truppe von Lia Rodrigues, die zu fortgeschrittener Stunde auf der Seebühne ihr neustes Tanzstück «Fúria» zeigt, ist von Brasilien wohl kaum mit einer Jacht über den Atlantik nach Europa gesegelt.

Zwischenfrage: Werden solche ökologischen Tournee-Footprints in der Nachhaltigkeits­bilanz des Theater­spektakels verrechnet? …

Die blutjunge «Fúria»-Truppe aus Maré, einer berüchtigten Favela von Rio de Janeiro, lernte ich letzten Juni bei den Wiener Festwochen im Rahmen eines Mitmach-Workshops kennen. Den Besuch des Stücks sparte ich mir für Zürich auf. «Wut»: ein wilder Hexen­sabbat, eine zuckende Schamanen­versammlung, bunt, laut, atemlos. Grosse Kostüme und krude Nacktheit. Schminke, die ganze Körper in blaue oder goldene Statuen verwandelt. Rituale der Gewalt, Szenen der Verrohung. Furiose Kämpfe.

Was für ein Gegensatz! Lia Rodrigues zeigt Albträume einer archaischen Realität, die sich in die Gegenwart verlängert (auch, aber nicht nur der Favela). «Fúria» ist eine einzige Überwältigung – vor der es kein Ausweichen gibt. Sie erschlägt mich. Charmatz dagegen verfolgt, so müsste man sagen, eine Unterwältigungs­strategie. Bei ihm versteckt sich das Tänzerische in der unmittelbaren Nähe des Normal­betriebs. Mir öffnet er damit die Augen.

Zu den erwähnten Aufführungen

Boris Charmatz: «Terrain». Alle Details und die weiteren Aufführungstermine finden Sie hier.

Lia Rodrigues: «Fúria». Alle Details und die weiteren Aufführungstermine finden Sie hier.

Alle Informationen zum Zürcher Theater Spektakel finden Sie hier.

Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese

Kultur­redaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 16. bis zum 30. August über das Zürcher Theater Spektakel. Ihre Kolumne erscheint an jedem Wochentag. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge – aus diesem Jahr und von 2018.

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