Ein Haus, das niemand betreten kann
Ist das nun Kunst oder Architektur? Das Werk «Haus» des Künstlerduos Fischli und Weiss lädt zum Nachdenken ein. Jetzt steht es am perfekten Ort dafür.
Von Philip Ursprung, 13.08.2019
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Kürzlich besuchte ich mit einigen Kollegen das «Haus» von Peter Fischli und David Weiss. Seit einem guten Jahr steht es auf einem Betonfundament vor der offenen Rennbahn in Zürich-Oerlikon. 2016 war es ohne Sockel vor dem Guggenheim Museum New York zu sehen gewesen, anlässlich der Retrospektive von Fischli und Weiss. Es besteht aus Aluminium, wurde in der Kunstgiesserei St. Gallen und in Shanghai hergestellt und von Fischli bemalt. Die Luma-Stiftung, Peter Fischli und die Erben von David Weiss haben es der Stadt geschenkt.
Grau, etwa fünf Meter lang und etwas über drei Meter hoch, fällt «Haus» nicht gleich auf. Beim Näherkommen sahen wir, dass es ein vierstöckiges Gebäude darstellt mit Flachdach, Fensterbändern, zwei Anbauten, Treppenhaus, Lift und einer Laderampe. Wir entdeckten Details wie Türdrücker, Regenrinnen, Lüftungsschächte und Dachgesimse. Hingegen gibt es keine Hausnummer und keine Briefkästen. Die Fenster bestehen aus Glas, allerdings sind die Scheibchen direkt auf der Wand angebracht, man kann nicht hineinsehen. Die Fassade ist quasi blind. Es gibt kein Innen.
Ist es Architektur oder Kunst? Wir einigten uns, dass es keine Architektur sei, weil man es nicht betreten könne. Für ein Architekturmodell ist es zudem zu gross. Man kann zum Beispiel nicht auf das Dach blicken. Es ist, so kamen wir zum Schluss, eine Skulptur. Als solche war «Haus» ja auch intendiert. Das Werk war ein Beitrag für «Skulptur Projekte» in Münster 1987, die zweite Ausstellung der im zehnjährigen Zyklus stattfindenden Veranstaltung für «Skulptur im Freien». Peter Fischli und David Weiss machten damals eine Baueingabe – wie es für Architektur nötig ist –, die inzwischen im Archiv von «Skulptur Projekte» liegt. Sie erläutern darin, dass es darum gehe, «über einem hölzernen Kern eine Architektur zu simulieren, das Aussehen einer standardisierten Bauweise zu imitieren, um so mit den Mitteln der Karikatur auf plastische Weise ein Bild heutiger Städte zu geben. Das ‹Verwaltungsgebäude› soll in der Nähe des Bahnhofs seinen temporären Standort finden.» Die Künstler schlugen vor, so heisst es im Ausstellungskatalog, die Holzkiste nach Zeichnungen zu errichten, bevor sie von ihnen selbst «in ca. zweiwöchiger Arbeit mit einer Fassade und allen Details versehen würde».
Die Herstellung war somit ein Hybrid aus Kunst und Architektur. Im Atelier in Zürich entstanden das Modell und die Werkzeichnungen, wie es für Architekten üblich ist. In Münster legten dann die Künstler – was kein Architekt machen würde – selbst Hand an. Nach der Ausstellung wurde das Artefakt entsorgt – was wiederum dagegenspricht, dass es eine Skulptur war. Die Wirkung, die «Haus» seit 1987 entfaltet, hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die Gattung nicht eindeutig definieren lässt und die Grenzen zwischen den Gattungen verhandelt werden.
«Haus» stellt ein Büro- und Fabrikgebäude im Stil des International Style dar. Die Vorderseite ist durch grosse Fenster markiert, die Rückseite durch eine Laderampe für die Anlieferung. Somit evoziert «Haus» eine alltägliche Arbeitssituation, wie sie Menschen in mittelgrossen Betrieben in Münster oder anderswo in den Achtzigerjahren noch bestens kannten. Die eigentliche Arbeit im Innern bleibt unsichtbar. Aber die Organisationsstrukturen und die soziale Hierarchie – Verwaltung gegen die Strasse, Klimaanlagen im obersten Stockwerk, Haupt- und Seiteneingang, Hintereingang für Waren – sind für alle modellhaft ablesbar.
«Haus» steht weder für eine spektakuläre Autorenarchitektur, die sich mit der Kunst misst, noch für eine anonyme Durchschnittsarchitektur, die der Homogenisierung der Umgebung Vorschub leistet. Es steht vielmehr für eine Form von Arbeitsökonomie, die in den Achtzigerjahren ihre Selbstverständlichkeit verlor und allmählich verdrängt wurde von immaterieller Arbeit einerseits, Automatisierung andrerseits. «Haus» steht für eine Einheit von Produktion, Lagerung und Vertrieb, für einen Zusammenhang, wie er schon damals fast nur noch in den Büros von Architekten und den Ateliers von Künstlern zu finden war. Ein «Selbstporträt unseres Ateliers» nannte es Weiss einmal in einem Interview.
In Münster stand die Skulptur auf einer Baubrache, vielleicht eine Lücke aus der Kriegszeit. Sie war ein Indiz für die rasche Transformation der Städte nach der Rezession der Siebzigerjahre und für das allmähliche Verschwinden von kleinen Betrieben, in denen Produktion und Verwaltung unter einem Dach existierten. Als ob man nicht ganz scharf stellen könnte auf den Prozess der Veränderung, war es gleichzeitig zu gross und zu klein, gleichzeitig naturalistisch und stilisiert, sowohl spezifisch als generisch. Und dadurch, dass es ganz aus Oberfläche besteht und keine Tiefe besitzt, nähert es sich der Fotografie an. Also jenem Medium, um dessen Funktion das Œuvre von Fischli und Weiss immer wieder kreist. Wie in einer Blackbox spielen sich darin Prozesse ab, die sich den Begriffen entziehen. Es ist ein schöner Zufall, dass just zur selben Zeit in Laufen ein Bau entstand, dessen Inneres ebenfalls unsichtbar bleibt und der dennoch den Lauf der Architektur so verändern wird wie «Haus» den Lauf der Kunst: das Lagerhaus Ricola in Laufen von Herzog & de Meuron.
Fischli wählte den richtigen Standort für «Haus». Die Gegend um die offene Rennbahn ist in der Tat einer der wenigen Orte in Zürich, die einer Brache, einem terrain vague, einem nicht definierten Ort entsprechen. Von diesem Ort aus ist die Transformation der Stadt sichtbar. Hier kollidieren unterschiedliche Zeiten, findet Veränderung statt. Freizeit, Wohnen und Arbeiten sind verwoben. In der monumentalen Ödnis der Europaallee würde die Skulptur von der Monotonie der Umgebung absorbiert. Auf dem inzwischen erstarrten Heimplatz wäre sie ein Fremdkörper. Am Ufer des Sees würde sie zur Dekoration. Vor der Rennbahn ist «Haus» ein Spiegel, der die Veränderung der Stadt verdeutlicht. Zugleich, und das ist vielleicht das noch grössere Verdienst, hält es eine der letzten Brachen der Stadt offen und verhindert, dass sie besetzt wird.
Illustration: Michela Buttignol