«Die Synergie von künstlicher Intelligenz und neoliberaler Ideologie ist extrem bedrohlich»

Paul Mason ist eine der führenden postmarxistischen Stimmen. In einem neuen Buch entwickelt er eine düstere Diagnose der Gegenwart – und er verteidigt die Perspektive einer strahlenden Zukunft.

Ein Interview von Daniel Binswanger, 03.08.2019

Synthetische Stimme
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Ein Marxist, der einen radikalen Humanismus verteidigt: Paul Mason. juergen-bauer.com

Er war Musiklehrer, Herausgeber einer Computer­zeitschrift, Fernseh­journalist, Universitäts­lehrer und ist ein viel rezipierter Buchautor. Paul Mason zählt zu den einfluss­reichen britischen Intellektuellen. Vor vier Jahren veröffentlichte er «Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie» und bekam für seine Analyse, wie die Netzwerk­ökonomie zu einer radikalen Transformation des Wirtschafts­systems führen würde, selbst von der «Financial Times» das höchste Lob.

Jetzt hat Mason «Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus» veröffentlicht. Das Buch entfaltet eine politische Analyse der Gegenwart und entwirft Szenarien für die kommende Entwicklung. Mason ist Marxist. Aber er verteidigt einen radikalen Humanismus: das Recht auf Handlungs­fähigkeit und Selbstbestimmung.

Es ist nicht so, als würde Masons Zukunfts­glaube von einem naiven Bild der Gegenwart getragen. «Wie in den USA wird sich nun das Gros der Tory-Parlamentarier der Regierung eines Clowns fügen», kommentierte er kürzlich die Wahl von Boris Johnson zum britischen Premier­minister. Und fügte hinzu: «Gescheiterte autoritäre Figuren und versteckte Rassisten wissen in diesem Moment um die Chance ihres Lebens.» Dennoch hat er im Republik-Gespräch dargelegt, weshalb die Dialektik der Geschichte zugunsten der Kräfte des Fortschritts ausschlagen werde.

Zum Buch

Paul Mason: «Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus». Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp 2019, 415 Seiten, ca. 39 Franken. Der Verlag stellt eine Leseprobe zur Verfügung.

Paul Mason, Sie haben einen politischen Essay geschrieben, der Manifest­charakter hat: Sie wollen die Leute zum Handeln ermutigen. Doch Ihre Gegenwarts­diagnose ist rabenschwarz – und nimmt ihren Ausgang bei Trump.
Die Wahl von Trump ins Präsidenten­amt war ein grosses historisches Ereignis, kein blosser Zwischenfall, wie viele amerikanische und englische Kommentatoren glaubten. Dieselben Leute waren auch überzeugt, dass das politische System Trump ohne Schwierigkeiten widerstehen würde, dass die Wunden, die er aufreisst, problemlos wieder geheilt werden können. Geschehen ist etwas ganz anderes: Trump ist zum Zentrum einer internationalen, ultrarechten Bewegung geworden. In meinem Buch versuche ich zu verstehen, was die Ursachen für diese Entwicklung sind.

Sie nennen Trump aber auch einen nur zufälligen Frontmann.
Die Unterstützer, die ihm zum Sieg verhalfen, haben zunächst nicht auf ihn, sondern auf andere republikanische Kandidaten gesetzt. Trump repräsentiert das Aufbrechen einer fundamentalen Spaltung innerhalb der amerikanischen Elite. Über die letzten dreissig, vierzig Jahre wurden die USA von einem System beherrscht, das ich «kapitalistischen Kommunismus» nenne: Alle Sektoren der amerikanischen Wirtschaft und alle Zweige der ökonomischen Elite lebten in relativer Harmonie, weil das Finanz­system dafür sorgte, dass alle zu zufrieden­stellenden Kapital­renditen kamen. Mit Trump hat ein Teil dieser Elite den Pakt aufgekündigt und nach der Macht gegriffen. Diese Elite gibt sich mit dem Status quo nicht mehr zufrieden.

Weshalb?
Sie will das Recht auf offene Korruption, sie will staatlichen Schutz für abgeschottete und zu ihren Gunsten verzerrte Märkte. Sie will verstärkte staatliche Garantien für das Finanz­system, und sie will eine Zerschlagung des ohnehin schon bescheidenen Sozialstaats.

Können Sie das konkretisieren?
Nehmen Sie die Koch-Brüder, die zu den reichsten Amerikanern gehören und ihr Geld in der Ölindustrie machten. Sie unterstützten ursprünglich nicht Trump, sondern die Republikanische Partei. Ihr Programm lautet: So wenig Staat wie möglich. Die Interessen der Mercer-Familie, die den Hedgefonds Renaissance Technologies beherrscht, liegen etwas anders. Sie wollen Turbulenzen, denn die sind gut für Finanz­spekulationen. Chaos wollen auch Steve Bannon und die Teilhaber von «Breitbart». Trump ist die Abrissbirne, die sie auf die internationale Ordnung loslassen. Der Wille, Chaos herbeizuführen, verbindet alle mächtigen Trump-Unterstützer. In dem für diese Leute sehr wichtigen Buch «The Fourth Turning» («Die vierte Wendezeit») von Neil Howe und William Strauss wird eine Theorie des notwendigen apokalyptischen Nieder­gangs und der darauf­folgenden Wieder­geburt geliefert. Das sind zwar nur ideologische Fantasien, aber sie stehen für ein reales Projekt.

Was soll der Nutzen von Chaos sein?
Es geht darum, einen grossen Reset-Knopf zu drücken und die Welt neu zu starten – ohne Sozialstaat, ohne Grundrechts­schutz, ohne Menschen­rechte. Die ganze Weltordnung, die seit 1945 gegolten hat, soll aufgehoben werden. Aussen­politisch verfolgt Trump das Projekt, den Multi­lateralismus zu zerstören und zu nackter Grossmachts­politik zurückzukehren. Innen­politisch bereitet er einer Renaissance der Misogynie, des Rassismus und der verschärften sozialen Härte den Boden.

Und das alles, so sagen Sie, rührt daher, dass der «kapitalistische Kommunismus» zusammen­gebrochen ist?
Es hat seine Wurzeln in der Finanzkrise im Jahr 2008. Bis zur Finanzkrise zeichnete sich in mehreren führenden Ländern das Wirtschafts­system durch eine hohe «Finanzialisierung» aus, und das bedeutete primär: Der Konsum beruhte nur noch auf Kredit, nicht mehr auf Lohnwachstum.

Warum wurde das zum Problem für den «kapitalistischen Kommunismus»?
Der finanzialisierte Kapitalismus ist durch immer heftigere Boom-Bust-Zyklen gegangen und immer instabiler geworden. Politisch und ideologisch wurde das umso problematischer, als es die dominierende Sicht war, dass Krisen nicht mehr vorkommen würden, weil gemäss der Theorie die Märkte sich selber korrigieren und die Finanzialisierung für eine optimale Zuweisung der Mittel hätte sorgen müssen. Die allgemeine Doxa, die unhinterfragte Grund­überzeugung, sagte: Alles ist in bester Ordnung, der Staat muss sich nur tunlichst aus allem heraushalten, egal, ob es 1997, 2000 und dann 2008 zu systemischen Krisen gekommen ist. Diese Position ist jedoch immer unhaltbarer geworden.

Ganz besonders mit der Finanzkrise von 2008.
Im Jahr 2008 sind wir dann so weit, dass jemand wie Peter Thiel – der Venture-Kapitalist, der unter anderem Paypal gegründet hat – zur Feststellung kommt, die Staats­interventionen, die notwendig sind, um das Finanz- und Wirtschafts­system zu stabilisieren und am Leben zu erhalten, seien so massiv geworden, dass die Zustimmung der Massen zu diesem System verschwinden werde. In einem Essay aus dem Jahr 2009 zieht er daraus den Schluss, dass Demokratie und Freiheit – gemeint ist ökonomische, unternehmerische Freiheit – nicht mehr länger kompatibel sind.

Für einen Teil der amerikanischen Elite ist Demokratie­feindlichkeit zur letzten markt­wirtschaftlichen Option geworden?
Mit dem Start der Krise von 2008 wurde klar, dass ein Teil der Elite sich nicht mehr damit begnügt, seine Privilegien zu verteidigen, sondern dass er die Demokratie selber angreifen würde – ganz einfach deshalb, weil die Demokratie den Menschen die Möglichkeit gibt, ein dysfunktionales Wirtschafts­system zurückzuweisen und zu sagen: Wir wollen das nicht mehr. Um das zu verhindern, war die Wieder­belebung eines aggressiven Rechts­populismus die einzig verbleibende Strategie.

Trump und der Rechts­populismus sind in Ihrer Analyse also letztlich die Antwort auf die Krise des Finanzsystems?
Die Antwort auf die Krise des Neoliberalismus. Nennen wir das Kind beim Namen. Die Apologeten des heutigen Systems lehnen diesen Begriff zwar reflexartig ab und akzeptieren nicht einmal, dass es so etwas wie «Neoliberalismus» überhaupt geben soll. Sie werden immer behaupten, dass der Neoliberalismus nicht existiert, dass gar nicht klar ist, wovon man redet, dass es sich um einen blossen linken Kampf­begriff handelt und dass die Brutalisierung der ökonomischen Verhältnisse, die sich über die letzten vierzig Jahre vollzogen hat, einfach von selber geschehen ist, als Folge einer natürlichen Entwicklung.

Wie definieren Sie Neoliberalismus?
Es ist die fortschreitende Durchsetzung von markt­konformen Verhaltens­normen in allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Es ist die Entwicklung, die 1979 mit der amerikanischen Zinswende und der darauf­folgenden Thatcher- und Reagan-Revolution eingesetzt hat. Aber der Neoliberalismus ist nicht eine blosse Ideologie, er ist ein wirtschaftliches System. Es war höchst effizient. In den Achtziger­jahren mit den Deregulierungs­gewinnen, in den Neunzigern mit der Globalisierung und der Erschliessung der postkommunistischen Länder. Nach 2001 beginnt der Neoliberalismus zu übersteuern und verrückt zu spielen, 2008 bricht er zusammen. Es ist eine normale Entwicklung – der Lebens­zyklus eines ökonomischen Modells.

Und dieser Zyklus ist nun abgeschlossen?
Nach dem Zusammenbruch von 2008 musste man nach etwas Neuem Ausschau halten, so viel ist klar. In den USA gab es innerhalb der Republikanischen Partei schon immer einen sehr radikalen Flügel. Er begriff, dass nun seine Stunde geschlagen hatte.

Welcher Flügel?
Ideologisch sind in den USA der libertäre Anarchismus und der Anti­etatismus – der Glaube, dass der Sozialstaat abgeschafft werden müsse und dass Steuern ein Anschlag auf das Eigentums­recht sind – traditionell viel stärker als in Europa. Wichtig ist aber auch, bei welchen Kreisen Trump konkrete Unterstützung gefunden hat. Für Trump optierten nur die Plutokraten, die am Rande des Establishments stehen, nicht die traditionellen Business­eliten. Genau dasselbe trifft übrigens auf die Unterstützer von Nigel Farage und des Brexit zu.

Was verbindet diese Kreise?
Wie gesagt: Es sind primär Geschäfts­interessen, die von Chaos profitieren. Das gilt von der Ölindustrie, die alles will, nur keine gut funktionierenden politischen Instanzen, die Umwelt­regulierungen durchsetzen können, und es gilt von Private-Equity-Firmen, die in volatilen Märkten grössere Gewinn­chancen haben. Worauf sie abzielen, ist eine Nationalisierung des Neoliberalismus.

Ist das nicht ein Widerspruch? Bisher gingen Neoliberalismus und Globalisierung Hand in Hand.
Ja, bisher haben wir geglaubt, der Neoliberalismus und die Globalisierung seien notwendig miteinander verbunden – was lange auch der Fall war. Die massiven Liberalisierungs­schübe in Europa beispiels­weise wären nicht möglich gewesen ohne die WTO und den Weltmarkt­eintritt Chinas. Im Jahr 2009 am Krisengipfel der G-20 in London hiess es noch: Der Freihandel wird aufrechterhalten, wir wollen keine Markt­verzerrungen durch Staaten. Geschehen ist das Gegenteil. Die Handels­politik wurde wieder protektionistisch, Zollschranken wurden erhöht, durch die Bail-outs wurde gemäss nationalen Interessen in die Märkte eingegriffen. Aber der definitive Epochen­wechsel kam mit Trump. Seine Botschaft lautet: Ich werde den amerikanischen Neoliberalismus am Leben erhalten, auch wenn das bedeutet, dass ich anderen Ländern den Wirtschafts­krieg erklären muss. Trump predigt eine Grossmachts­version des Neoliberalismus.

Das sind wirtschafts­politische Strategien. Was aber ist aus Ihrer Sicht der ideologische Kern der trumpschen Politik?
Die Wesensbeschreibung des Faschismus von Hannah Arendt – die temporäre Allianz der Elite und des Mobs – trifft es gut. Und man muss Trump zugestehen: Hier hat er ausser­ordentliche Fähigkeiten bewiesen. Er war die Figur, die es geschafft hat, diese Allianz zu stiften. Den Begriff «Mob» muss man metaphorisch verstehen, es sind nicht gewalttätige, marodierende Haufen gemeint, sondern ressentiment­geladene Massen vom eher unteren Rand der Gesellschaft. Trumps politisches Genie besteht darin, dass er sowohl den religiösen als auch den säkularen Mob an sich binden kann. Wenn Sie in Texas, wo die religiöse Wählerschaft sehr stark ist, über den Highway fahren, können sie Hunderte Kilometer zurücklegen und auf allen Plakat­wänden entlang der Strassen ist nur Werbung für Pornos zu sehen. Man unterschätzt die kulturelle Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Ted Cruz, der wichtigste Konkurrent von Trump unter den republikanischen Kandidaten, hatte es geschafft, viele religiöse Fundamentalisten hinter sich zu scharen. Trump jedoch brachte das Kunststück zustande, sowohl den Porno-Mob als auch den religiösen Mob für sich zu gewinnen.

Was verbindet diese beiden Wählergruppen?
Sie wollen beide in die Vergangenheit zurück. Die Evangelikalen wollen vor allem eines: ein absolutes Verbot des Schwangerschafts­abbruchs, eine Umdrehung der Recht­sprechung des Supreme Court. Seit Trumps Amts­antritt sind bedeutende Schritte unternommen worden, um Roe v. Wade, den Grundsatz­entscheid zur Fristen­lösung des Obersten Gerichtshofs, wieder umzudrehen. Die Säkularen finden mit den christlichen Fundamentalisten eine gemeinsame Basis in der Misogynie. Sie wird ja allgemein zu einem Kernelement für die neurechte Internationale. Das sind Affekte, die auch in der breiteren Gesellschaft eine gewisse Resonanz haben. Das zweite grosse Thema, das die Trump-Unterstützer föderiert, ist Rassismus. Es gibt ein relativ breites Segment der weissen Bevölkerung, das die multi­kulturelle Realität nie akzeptiert hat.

Wie erklären Sie sich, dass diese Affekte so plötzlich politisch virulent werden?
Es hat etwas zu tun mit der Kultur des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus interessiert sich ausschliesslich für die Performance, nicht für die wahren Überzeugungen der Menschen. Vielleicht arbeitet ein Trump-Unterstützer in einer Human-Resources-Abteilung und erfüllt da ganz genau die Vorgaben: keine Diskriminierung gegen Schwarze, Schwule, Transsexuelle. Aber im Grunde seiner Seele hat er keine dieser Minderheiten je akzeptiert. Und jetzt kommt ein Politiker daher, der plötzlich die Haltung wieder salonfähig macht, dass Abtreibungen, dass Gleichstellungs­politik, dass Migranten verachtenswert sind. Wenn Trump öffentlich sagt, Gang­mitglieder aus Südamerika seien Tiere, ist der Subtext sonnenklar. Eigentlich sagt er: Südamerikaner, Menschen mit brauner Haut sind Tiere. Trumps Allianz von Mob und Elite autorisiert die offizielle Wiederkehr des Rassismus.

Wie äussert sich diese Wiederkehr konkret?
Es gibt viele Bereiche in der amerikanischen Gesellschaft, in denen immer noch – nach der Formulierung des Soziologen W. E. Du Bois – ein «Lohn der Weissheit» existiert. Trump verteidigt diesen «Lohn».

In welchen Bereichen?
Nehmen Sie das sehr wichtige Thema der Polizei­gewalt. Die Chancen eines schwarzen Bürgers, bei einer Routine-Polizei­kontrolle erschossen zu werden, sind hoch. Im Gegenzug werden weisse Amok­läufer, die zahlreiche Menschen umgebracht haben, häufig nicht erschossen, sondern lebend festgenommen, sofern sie sich ergeben. Mit der «Black Lives Matter»-Bewegung ist in diesem Feld jedoch sehr viel politischer Druck entstanden. Getragen wird diese Initiative von häufig gut ausgebildeten, häufig weiblichen Aktivistinnen, die sehr genau wissen, was sie tun, und denen es gelingt, grossen rechtlichen Druck aufzusetzen. Die rassistischen Kräfte in den USA müssen begriffen haben: Wenn wir jetzt nicht zurück­schlagen, ist es vorbei mit dem «Lohn der Weissheit». Wir müssen das Rad der Geschichte zurück­drehen. So kommt es zur Allianz von Mob und Elite.

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um diese Allianz zu zerschlagen?
Die Linke braucht wieder eine Utopie. Das ist das Allerwichtigste. Die postmoderne Linke hat während dreissig Jahren gesagt: Utopien führen zu Faschismus. Das mag in gewissen Zusammen­hängen richtig sein, aber heute sind wir konfrontiert mit der konkreten Drohung einer faschistischen Utopie, und wenn die Linke keinen Gegen­entwurf präsentiert, hat sie ein Problem. Natürlich ist die Verabsolutierung von politischen Ideologien – sei es auf der linken, sei es auf der rechten Seite – eine Gefahr, natürlich nährten sich sowohl der Faschismus als auch der Stalinismus aus totalitären, utopischen Konzepten. Aber der geschwächte neoliberale Basis­konsens unserer Zeit liefert ganz einfach nicht die Tools, um die reaktionären Bewegungen zu bekämpfen. Herr Schäuble und Herr Macron meinen es auf ihre Weise ja vielleicht gut. Aber sie haben nicht die Mittel, um den Status quo zu verteidigen.

Das ist ein Punkt, der auch in Ihrem Buch wichtig ist. Sie sagen: Die heutigen wirtschaftlichen Eliten haben dem aufkommenden Rechts­populismus erstaunlich wenig entgegenzusetzen.
Die in der Business­elite dominierende Weltsicht besagte, dass die Politik vorbei ist, dass alle Fragen nur noch nach wirtschaftlicher Massgabe beantwortet werden können. Alles ist ökonomisch, so glaubt man. Die ökonomischen Eliten haben deshalb gar keinen politischen Plan mehr, sie kennen nur noch das technokratische Management.

Aber es gibt den Typus des kämpferischen Liberalen.
Zweifelsohne, es gibt Politiker wie Guy Verhofstadt im europäischen Parlament, der einen Schalter umgelegt zu haben scheint und sehr offensiv den moralischen Widerstand gegen die neue Rechte predigt. Aber wenn Sie beobachten, was zum Beispiel in der britischen Geschäfts­welt geschieht, können Sie nur noch staunen: Man hat plötzlich einen Teil der Business­eliten – ein relativ opakes Milieu, häufig mit guten Verbindungen nach Russland –, der alle Regeln bricht, der den herrschenden Konsens vollkommen aufgekündigt hat. Und dem steht ein traditionelles Establishment gegenüber, das verblüffend passiv bleibt. Der Mainstream der Unternehmens­welt und die klassische Bourgeoisie sind schlicht und einfach überfordert. Sie hassen den Brexit, der ein Desaster für ihre Interessen ist. Aber sie haben keine Ahnung, wie sie umgehen sollen mit der neuen Spaltung.

Aber mindestens in Teilen Europas findet die liberale Gegen­mobilisierung statt. Emmanuel Macron hat seine ganze Strategie darauf gegründet, gegen die reaktionäre Marine Le Pen eine progressive Front zu bilden.
Das stimmt. Macrons Problem liegt eher darin, dass der Widerstand gegen den Neoliberalismus in Frankreich nicht nur rechts­populistisch ist, sondern auch eine starke linke Strömung hat. Bei den gilets jaunes gibt es Antisemiten und Rechtsradikale, aber eben auch Gewerkschafter und Linke. Macrons Strategie gegenüber den gilets jaunes besteht darin, sie insgesamt so zu behandeln, als seien sie alle Faschisten. Das ist gefährlich: Er riskiert, die ganze Unterschicht in die rechte Ecke abzudrängen. Das eigentliche Haupt­problem von Macron ist aber viel grundsätzlicher: Er hat keine Erklärung dafür, wie die Welt besser werden soll. Welches Angebot kann er der französischen Unter­schicht machen? Die neoliberale Doxa hat nichts mehr zu bieten.

Und das betrifft nicht nur die französische Politik?
Nehmen Sie Merkel. Was ist ihr politischer Vorschlag? Die schwarze Null. Die deutsche Gesellschaft steckt mitten in einer schweren politischen Krise, die AfD gewinnt massiv an Terrain, und die deutsche Regierung hat nichts zu bieten ausser Budget­disziplin. Die Bahn­infrastruktur ist mangelhaft im Land der Ingenieure, die Leute sind wütend. In weiten Teilen Ostdeutschlands bräuchte es dringend öffentliche Investitionen. Aber es geschieht nichts. Da ist Trump politisch sehr viel intelligenter. Er finanziert sich seine Wiederwahl mit deficit spending im ganz grossen Stil. Irgendwann müssen die bürgerlichen und die linken Kräfte in Europa begreifen, dass sie verhältnis­mässig liberalisierte und offene Märkte nur dann erhalten können, wenn sie mit entsprechender Geld-, Fiskal- und Industrie­politik die Konjunktur stimulieren und Jobs schaffen. Sonst wird uns alles um die Ohren fliegen.

Das klingt, als würden Sie eine sozial­demokratische Renaissance fordern.
Es bedeutet jedenfalls, dass sich auch die Sozial­demokraten radikal reformieren müssen. Nehmen Sie die SPD: Die Partei ist schlicht am Sterben. Die Grosse Koalition ist ein Lehrbuch­beispiel dafür, was man nicht tun darf, wenn man politisch unter Druck gerät. Aber Sie haben recht: Dringender als alles andere brauchen wir eine Sozial­demokratie, die auf der Höhe ist.

Sie selber sind Postmarxist. Stehen Sie nicht links der Sozialdemokraten?
Nein. Es überrascht zwar immer wieder gewisse Leute, aber ich betrachte mich selber als einen radikalen Sozial­demokraten. Wir brauchen den Staat. Er muss nicht radikal transformiert, aber so organisiert werden, dass er ökonomische Veränderungen herbei­führen und ein vernünftiges gesamt­gesellschaftliches Gleich­gewicht herstellen kann. Wenn uns das nicht gelingt, wird die radikale Rechte die weisse Unter- und Mittelschicht in den westlichen Demokratien erobern. So wie es gerade in Ostdeutschland geschieht.

In Ihrem Buch sprechen Sie viel von Trump und dem Neoliberalismus. Dann schlagen Sie eine Brücke zur artificial intelligence. Wie bringen Sie die beiden Phänomene zusammen?
Es gibt heute drei Haupt­bedrohungen der politischen Ordnung: die Tatsache, dass das Wirtschafts­system für eine Mehrheit der Leute nicht mehr befriedigend ist; die schwindende Unterstützung für Demokratie, Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte und die Bedrohung durch algorithmische Kontrolle. Alle drei Entwicklungen haben eines gemeinsam: die Zerstörung der menschlichen Handlungs­fähigkeit. Die neoliberale Ideologie hat uns darauf konditioniert, alles als das Ergebnis von markt­wirtschaftlichen Anreiz­strukturen zu betrachten. Wir haben unser Leben in die Hände einer Maschine namens «Markt» gelegt. Derweil haben die Kommunistische Partei Chinas und die westlichen Tech-Giganten – also Facebook, Amazon, Google – ihrerseits gigantische Kontroll­maschinen gebaut. Die menschliche Handlungs­fähigkeit wird von allen Seiten bedroht. Und das Verrückte ist: Viele Menschen haben das akzeptiert. Es hat sich eine Art von fatalistischer Massen­religion durchgesetzt. Was auch immer ich tue: Ich kann meinem Schicksal nicht entgehen.

Und gegen diese «Massen­religion» rufen Sie zum Widerstand auf?
Wir steuern auf eine neue Dystopie zu: Alles wird bestimmt durch ökonomische Kräfte – und kontrolliert durch intelligente Algorithmen. Die Synergie von künstlicher Intelligenz und neoliberaler Ideologie ist extrem bedrohlich. Sie ist der Grund, weshalb ich mein Buch geschrieben habe. Der Neoliberalismus ist wie die Einstiegs­droge für den Verlust von Handlungs­fähigkeit und Freiheit, den die künstliche Intelligenz vollenden könnte. Heute beobachten wir den Zusammen­bruch des Glaubens in Demokratie und Freiheit, und morgen werden wir es mit riesigen Wissens- und Macht­asymmetrien zu tun bekommen. Was letztlich auf dem Spiel steht, ist die freie Handlungs­fähigkeit der Menschen. Es liegt so offenkundig zutage, dass die meisten Menschen es nicht mehr sehen können.

Sie schreiben aber auch, dass neue Formen des Protestes entstehen.
Das eklatanteste Beispiel sind die «Fridays for Future». Zumindest in Grossbritannien reagiert die Linke allerdings relativ hilflos auf diese neuen Phänomene. Sie betrachtet Konflikt­felder wie die Ökologie letztlich immer noch als Neben­schauplätze zu den ökonomischen Auseinander­setzungen, wie sie auch etwa die Rechte der Schwulen oder die Gleich­stellung, die seit den Sechziger­jahren Schritt um Schritt erstritten wurden, als Neben­schauplatz betrachtet hat. Heute sind zum Beispiel Schwule sehr weitgehend akzeptiert und vor allem auch als Konsumenten­gruppe in die Wirtschaft integriert. Die entscheidende Frage lautet immer: Was kann nicht so problemlos integriert werden ins bestehende System?

Ist das bei den «Fridays for Future» anders?
Ich vermute es. Zunächst fordert die Bewegung ja einfach die Macht­strukturen der CO2-Wirtschaft heraus. Aber in einem fundamentaleren Sinn stellt diese Ökologie­bewegung auch die Tugend­frage: Was soll ich tun? Wie will ich leben, um als Bürger einer guten und CO2-freien Gesellschaft existieren zu können? Es geht letztlich um eine Basis­bewegung der Selbst­bestimmung. Und das sind genau die Formen des Protestes, die das System herausfordern und die es nicht integrieren kann. Die klassische Politik glaubt, das seien einfach Kids, die sich einen freien Tag machen, und jetzt müsse man halt ein paar Gesetze ändern. Aber es geht nicht darum, ein paar Gesetze zu ändern. Es geht darum, die Gesellschaft zu ändern.

Sie sind also optimistisch?
Ich habe meinem Buch eine Formulierung von Trotzki zum Titel gegeben: clear bright future. Ich glaube zumindest, dass wir eine konsistente Theorie darüber haben können, wie wir uns auf eine solche Zukunft zubewegen, auf eine Menschheit, die handlungs­fähig ist und selbst­bestimmt. Wir sind eine technologie­begabte Spezies, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir diese Fähigkeiten weiterhin nutzen werden, um unseren Lebens­standard zu erhöhen. Die Frage ist lediglich, ob die wirtschaftlichen Transformationen, die damit einhergehen, Klassen­strukturen generieren, die neue Hierarchien und noch massivere Unterdrückungs­formen erzeugen werden. Es ist die ewige Dialektik der Geschichte: Wird der Impuls für Fortschritt stärker sein als der Impuls für gesellschaftliche Repression und Selbstzerstörung?

Eine Prognose?
Ich glaube, dass es eine logische Herleitung für das Szenario gibt, dass die menschliche Spezies von materieller Not, von gesellschaftlicher Repression und von existenziellen Ängsten zunehmend befreit werden wird. Ich glaube an die «klare, lichte Zukunft». Wir sollten daran glauben. Aber natürlich gibt es keine Garantie, dass das nicht eine blosse Illusion ist.

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