33 Fragen

Was wäre ein liberaler Umgang mit Flüchtlingen in Seenot – ist Kapitänin Rackete eine Heldin?

Von Andrea Arežina und Urs Bruderer, 30.07.2019

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9 – Wer trägt die Verantwortung für die Toten im Mittelmeer?
Die Prohibitions­politik. Das sind unsere Toten.

10 – Ein moralisches Urteil, kein juristisches, oder?
Ja. Es ist moralisch, ökonomisch und soziologisch klar, dass wir in einer Welt der wechsel­seitigen Abhängigkeiten leben. Die Menschen in Afrika und im Mittleren Osten sind auf unzählige Arten betroffen von der europäischen Politik, und darum gibt es keine Möglichkeit, uns vor der Verantwortung für das Schicksal dieser Menschen zu drücken.

33 Fragen

Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer bewegen auch diesen Sommer die Gemüter. Was könnten Lösungen sein? Stefan Schlegel (36) forschte am Max-Planck-Institut zu Migrations­recht und arbeitet heute als Oberassistent für öffentliches Recht an der Universität Bern. Er ist Mitgründer der Operation Libero und Nationalrats­kandidat für die Grünliberale Partei (GLP).

11Wie sähe denn der liberale Umgang mit Seenot­rettungen aus?
Das Schöne wäre, dass es solche Situationen gar nicht mehr gäbe. Die vielen Toten an den Grenzen Europas wären Geschichte. Niemand mehr müsste mit einem seeuntüchtigen Gummiboot nach Europa kommen. Das geschieht ja nur, weil es anders derzeit nicht geht. Es ist ein klassisches Prohibitions­phänomen, wie der Alkohol­schmuggel und der Aufstieg der Mafia in den USA in den 1930er-Jahren.

12 – Wieso ist die These vom lockenden Faktor falsch, dass Migrantinnen und Migranten sich auf den Weg machen, weil sie wissen, dass Seenotrettende sie aus dem Wasser ziehen?
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Anzahl Ausschiffungen an der libyschen Küste zunimmt, wenn die Präsenz von Rettungs­booten steigt. Studien der Universitäten London und Oxford von 2017 widerlegen diese These. Nehmen wir mal an, das wäre so, dann müsste auch die Todesrate ungefähr stabil bleiben. Wenn es weniger Boote hätte, die retteten, würden auch weniger Boote ablegen, also müsste es zu weniger Toten kommen. Tatsache ist aber, dass sich die Tödlichkeit der Überfahrten drastisch erhöht hat seit der Einstellung von staatlichen Rettungs­programmen.

13 – Ist Kapitänin Carola Rackete, die in Italien mit ihrem Rettungs­schiff und 40 Flüchtlingen die Einfahrt in einen Hafen erzwang, Heldin oder Verbrecherin? Was sagen die Gesetze?
Schwierige Frage. Wir haben nationale Strafgesetze, die Unterschiedliches sagen. Die internationale Empfehlung lautet, die Erleichterung einer illegalen Einreise dann unter Strafe zu stellen, wenn sie mit Gewinn­absicht geschieht. Auf Frau Rackete trifft das nicht zu. Und dann gibt es diese merkwürdige Asymmetrie im Seerecht, dass es zwar eine Pflicht vorsieht, Menschen in Not zu retten, aber keine Pflicht, die nächst­gelegenen sicheren Häfen zu öffnen. Rein seerechtlich hat sich Italien also nicht rechtswidrig verhalten. Diese Asymmetrie gibt es auch im Flüchtlings­recht, das eine Pflicht kennt, Menschen nicht in Gefahr zurück­zuschicken, aber keine Pflicht, Menschen, die in Gefahr sind, die Tür zu öffnen.

14 – Und das Völkerrecht schützt zwar Flüchtlinge. Aber Flüchtlinge können den Schutz nicht in Anspruch nehmen, weil die Staaten sich hinter Zäune zurück­ziehen und verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt einen Asylantrag stellen können. Ist es völker­rechtlich in Ordnung, was die europäischen Staaten da tun?
Das Völkerrecht macht dazu zwei Punkte. Erstens sagt es, dass Flüchtlinge nicht in Verfolger­staaten zurück­geführt werden dürfen und dass überhaupt kein Mensch in Staaten, die ihn foltern würden, zurück­geschickt werden darf. Daran hält das Völkerrecht fest, obwohl dieses Prinzip derzeit unter Druck ist. Etwa durch punktuelle Zivilisations­brüche wie die Motion von CVP-Nationalrat Fabio Regazzi, die verlangt, dass Jihadisten ausgeschafft werden sollen, auch wenn ihnen in ihrem Heimatland Folter droht. Die Motion wird von beiden Räten im Schweizer Parlament unterstützt, so weit ist es inzwischen. Aber das Völkerrecht hält diesem Druck bis jetzt stand und macht da keine Ausnahmen.

15 – Der zweite Punkt?
Wenn der Staat mit einem Schutz­suchenden in Kontakt kommt, hat er die Pflicht zu prüfen, ob der Schutz­suchende bei einer Rückführung gefährdet wäre. Seit 2012 wissen wir, dass diese Pflicht auch auf hoher See gilt. Das hielt so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Hirsi fest, ein sehr wichtiger Entscheid. Die Pflicht gilt auch, wenn man Leute von einem Zaun herunterholt, egal ob dieser Zaun schon auf spanischem oder noch auf marokkanischem Boden steht. Die Kehrseite dieser juristischen Entwicklung ist, dass die Staaten sich immer weiter zurückziehen. Zum Beispiel keine Seenot­rettungen mehr selber machen oder mit Marokko, der Türkei oder Libyen Deals abschliessen und sagen: «Haltet ihr uns die vom Leib.»

16 – Was halten Sie vom Vorschlag, den man in der EU immer wieder hört, für einige Flüchtlinge legale Flucht­korridore zu schaffen? Zum Beispiel, indem sie auf den Botschaften in ihren Heimat­ländern oder deren Nachbar­ländern Asyl beantragen könnten?
Das wäre offensichtlich ein guter und wahrscheinlich alternativ­loser Lösungs­ansatz. Aber ich würde unbedingt ergänzen: Es braucht nicht nur legale Fluchtwege, sondern auch legale Migrations­wege. Die meisten Leute migrieren aus vielen verschiedenen Motiven. Die Obsession, die richtigen von den falschen Flüchtlingen zu unterscheiden, verursacht viel Leid.

17Die EU-Kommission möchte Flüchtlinge unter den Mitglieds­ländern verteilen. Was halten Sie davon?
Das ist problematisch. Es ist für Migrierende nicht egal, ob sie in einem ungarischen Kaff landen oder im Ruhrgebiet. Physische Sicherheit bekommen sie zwar an beiden Orten. Aber man reduziert sie so auf ihre Eigenschaft als Flüchtling und sagt: «Ihr dürft nicht auch noch wirtschaftliche Migranten sein.» Auch hier wäre es besser, den Menschen eine gewisse Autonomie zu geben und sie wählen zu lassen, wohin sie in Europa wollen. Vielleicht kann nicht jeder genau dorthin, wo er gern hinmöchte. Aber seine Wahl sollte eine gewisse Rolle spielen.

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