Theorie & Praxis

Jagt sie fort!

Concetto Vecchio: «Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi»

In Italien herrscht offener Rassismus gegen Menschen, die Hilfe im Land suchen. Einst waren es die Italiener selbst, die aus purer Not ihr Land verliessen und auch in die Schweiz kamen. Ein neues Buch ermöglicht tiefe Einblicke in diese Geschichte.

Von Barbara Villiger Heilig, 26.07.2019

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Warten auf den Zug in die Heimat: «Gastarbeiter» aus Italien am Bahnhof Bern vor Beginn der Ferien (1965). Peter Studer/Keystone

Am Telefon schärft ihm die Mutter ein: «Schreib nichts Schlechtes über die Schweiz.» Er: «Nein, tu ich nicht.» Sie: «Sicher?» Worauf er wissen will, warum ihr das so am Herzen liege.

Darum: Jetzt, da sie alt sei, erinnere sie sich gern an die Schweiz: «Mi ha emancipato.» Was aus ihr geworden sei, das habe sie dort gelernt. «Wäre ich hier geblieben, hätte ich jetzt eine lausige Pension, das ist dir klar, oder?»

Der Sohn befragt seine Eltern über ihre Vergangenheit, als sie, von Armut und Arbeits­losigkeit getrieben, in Sizilien dünn bekleidet den Zug bestiegen und aufbrachen ins Unbekannte. Nebst wenigen Habseligkeiten brachten sie ein paar Namen mit, von Ortschaften und von Verwandten oder Bekannten. Die Ankunft in der Schweiz war dann in mancher Hinsicht ein Kälteschock.

Natürlich erinnert sich die Mutter an die Strapazen. Doch: «Wir haben nicht nur gearbeitet, sondern auch gelebt. Schau dir das heutige Sizilien an: Es ist wie damals, die Jungen wandern aus. Und wer bleibt, arbeitet schwarz wie zu meiner Zeit. Toller Fortschritt.» Der Vater, ebenfalls per Telefon, doppelt nach: «Uns ist es gut ergangen.» Was allerdings impliziert, dass es auch andere gab, denen es schlechter erging.

Keine Willkommenskultur

Concetto Vecchio heisst der heute 48-jährige Sohn. Er hat ein Buch geschrieben, das die Sechziger- und Siebziger­jahre aufrollt, als zahllose Italiener in die Schweiz kamen: «Gastarbeiter» oder «Fremdarbeiter», die man heute Arbeits­migranten nennen würde. Oft handelte es sich um Saisonniers: Neun Monate durften sie arbeiten, drei mussten sie in der Heimat verbringen, damit sie erneut einreisen konnten. Dass sie hier Arbeit fanden, ist das eine. Wie sie behandelt wurden, das andere. Kein Ruhmes­blatt für die Schweiz.

Karge Unterkunft: Saisonniers aus Italien sitzen vor ihrer Wohnbaracke (Adliswil, 1972). Ruedi Rohr/Keystone

«Cacciateli!» (jagt sie fort) ist der Titel des Buchs, der Untertitel: «Quando i migranti eravamo noi» (als wir die Migranten waren). Schon da zeigt sich die zweifache Perspektive des Unter­fangens. Einerseits beschreibt Concetto Vecchio die Feindlichkeit, die den Fremden, seinen Landsleuten, in der Schweiz entgegen­schlug. Anderseits ruft er ebendiesen italienischen Landsleuten ein gern vergessenes Kapitel ihrer Geschichte ins Bewusstsein. Seine Message: Auch uns ging es schlecht, auch wir suchten Hilfe – so, wie es heute andere bei uns tun. Weshalb behandeln wir sie nicht besser, als wir einst behandelt wurden? Haben wir nichts gelernt?

Zum Buch

Concetto Vecchio: «Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi». Feltrinelli 2019, 192 Seiten, ca. 18 Euro. Auf Deutsch soll das Buch im Lauf des Jahres 2020 bei Orell Füssli, Zürich, erscheinen.

Am 27. September stellt Concetto Vecchio sein Buch auf Einladung des «Corriere degli Italiani» in Zürich vor. Die Missione Cattolica in Lenzburg organisiert eine Ausstellung rund um das Buch, dort wird der Autor am 28. September auftreten.

Die Willkommens­kultur hat im modernen Italien kaum Tradition. Anfang der Neunziger­jahre, als ich in Rom lebte, wurde eine Asylanten­unterkunft in Brand gesteckt. Kein Einzelfall. Übergriffe auf Afrikaner, manche mit tödlichem Ausgang, sorgen seither immer wieder für Schlag­zeilen. Die rumänischen Immigranten, unter ihnen viele Roma, fristen ihr Dasein am gesellschaftlichen Rand. Und offener Rassismus gilt in gewissen Kreisen längst als salonfähig.

Denn unter Innen­minister Matteo Salvini hat sich die Lage verschärft und mit ihr die xenophobe Stimmung. Was tun? Im Epilog seines Buchs weist Concetto Vecchio ein letztes Mal auf Alexander J. Seilers Dokumentarfilm «Siamo italiani» hin, der für ihn eine Art Leitfaden bildet. «Man sollte den Film in den Schulen unseres emotional vergifteten Italiens zeigen», schreibt er. Insbesondere folgende Szene geht ihm unter die Haut: Sonntag­abend, eine Mutter muss Abschied nehmen von ihrem kleinen Buben. In die Schweiz mitnehmen darf sie ihn nicht, deshalb wurde er im grenznahen Kinder­heim untergebracht. Der Bub weint. Seiner bodenlosen Verzweiflung kann die Mutter nichts entgegen­halten, in ihr Lächeln mischt sich Betretenheit. Für Concetto Vecchio ist der Schmerz dieses Kindes eine Ermahnung zur Menschlichkeit. Ein Appell.

Ein Überraschungserfolg

Innerhalb weniger Wochen ist sein im Mailänder Feltrinelli-Verlag erschienenes Buch viermal nachgedruckt worden. Ein Überraschungs­erfolg. Den Autor überwältigen insbesondere die persönlichen Reaktionen bei Lesungen, auf Facebook oder in Briefen. Oft von Betroffenen, denen selbst widerfahren ist, was er beschreibt. Auch aus der Schweiz erreichen ihn viele Echos: von denen, die hier geblieben sind, den Eltern der Secondos. Das Buch wühlt sie auf.

Concetto Vecchios Eltern blieben nicht. Sie verliessen die Schweiz freiwillig und kehrten ins sizilianische Städtchen Linguaglossa heim, als der Sohn 14-jährig war. Nun wurde er zum Emigranten. Sich selbst blendet er im Buch aus. Aber in unserem langen Gespräch erzählt er davon, wie schwierig es für ihn gewesen sei am Herkunftsort der Eltern, dieser fremden Heimat ganz ohne Freunde und Bezugs­punkte, abgeschnitten von seiner bisherigen Alltags­welt. Es gab noch kein Internet, die Distanzen waren enorm. Doch er schaffte es, Wurzeln zu schlagen. Später studierte er in Trient und wurde Journalist bei «La Repubblica» in Rom.

Fremd in der Heimat: Concetto Vecchio mit seinen Eltern in Ravenna, auf der Fahrt in die Ferien nach Sizilien. zvg

Es war ein journalistischer Impuls, der ihn zur Aufarbeitung der jüngeren italienischen Migrations­geschichte trieb. Er spricht von «Dringlichkeit» und meint damit die innen­politischen Verhältnisse Italiens. Trotzdem stellt er am Schluss seines Buchs fast verwundert fest, letztlich sei es die Geschichte seiner Eltern gewesen, die ihm den Anstoss zum Schreiben gab – als er realisierte, wie wenig er selbst über sie wusste. Nun ist ihre Geschichte Teil des big picture. Concetto Vecchios Eltern sind ein Beispiel unter vielen.

Ein spezielles jedoch: Fast märchenhaft wirkt die Schilderung, wie sich das zukünftige Paar, sie Schneiderin, er Möbel­schreiner, zufällig in der Schweiz kennenlernte und wie aus dem einmaligen Treffen auf unwahrscheinlich anmutenden Umwegen eine glückliche Ehe wurde.

Arme Leute im reichen Ausland

Diese bewegende familien­biografische Storyline ist das geheime Rückgrat des Buchs. Der Autor ergänzt sie durch reichhaltig dokumentierte weitere Schicksale: lauter individuelle Auswanderer­geschichten, zusammen­gesucht in Archiven, Büchern, Zeitungs­artikeln, Statistiken, Fernseh­beiträgen, Interviews (eine lange Bibliografie beschliesst das Buch).

Das Puzzle von nachrecherchierten Episoden aus der italienischen Emigration ergibt ein beschämendes Schweizbild. Zum Beispiel die Baracken: Zu Wucher­preisen hausten die Arbeiter da auf engstem Raum, ohne Privat­sphäre, unter unbeschreiblichen sanitären Bedingungen, frierend, sich das Brot vom Mund absparend, um das Salär in die Heimat schicken zu können. Vom dortigen boom economico profitierte hauptsächlich der Norden. In den Süden drang der Wohlstand nicht vor.

Baracken zu Wucherpreisen: Am Stadtrand von Zürich, 1965. Ernst Baumann/Photopressarchiv/Keystone

In der Schweiz hingegen herrschte Hochkonjunktur. Bei null Prozent Arbeits­losigkeit und einer wachsenden Wirtschaft war man auf die Ausländer angewiesen, ja, man bemühte sich aktiv um sie. (Vecchio erwähnt Leonardo Sciascias Band «Il mare colore del vino»; die dort enthaltene Erzählung «L’esame» beschreibt das Verfahren der Rekrutierung eines Zürcher Firmen­angestellten in Sizilien.) Wobei die Einwanderung kontrolliert verlief. 1948 legte ein Abkommen zwischen den Nachbar­ländern das sogenannte Rotations­prinzip fest: Je nach ökonomischem Bedarf holte man die Leute und schickte sie wieder nach Hause.

Natürlich erhält auch Max Frisch das Wort: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeits­kräfte gerufen, und es kommen Menschen.» (Er schrieb diesen Satz im Vorwort des Buchs zum Film von Alexander J. Seiler.) Von diesen Menschen wollten die Schweizer nichts wissen. Sie blieben unter sich, beim Feierabend­bier, am Familien­tisch (auf dem das Abend­essen bereits um halb sieben bereitstand, wie ein Zeitzeuge erstaunt vermerkt).

Die Erschwerung des Familien­nachzugs führte bei den Einwanderern zur Entfremdung von ihren Kindern, die – siehe oben – in Heimen an der Grenze warteten oder zu Hause bei den Grosseltern. War der Trennungs­schmerz zu gross, nahm man die Kinder als blinde Passagiere mit und versteckte sie in Hinter­zimmern oder Schränken vor der Fremden­polizei. (Wie dramatisch ein solches Aufwachsen war, erzählt Vincenzo Todisco in «Das Eidechsenkind».)

Wer sich nach Jahren der unsicheren, da befristeten Arbeits­bewilligung endlich dauerhaft und samt der Familie niederlassen konnte, dem ging es auf der menschlichen Ebene nicht automatisch besser. Auch ich habe aus der Kindheit das Schimpfwort «Tschingg» noch im Ohr. Und obwohl wir uns während der Primar­schule um Giorgio und Morena bemühten, war die Präsenz der beiden Italiener­kinder mit dem fremdländischen Akzent in der Klasse nicht einfach selbst­verständlich. Lud ich sie nach Hause ein, kam ich mir grossmütig vor.

So war das damals, als sich langsam der Fremdenhass auch politisch zu manifestieren begann. Der Ausdruck «Überfremdung» machte die Runde.

James Schwarzenbach

Last, but not least zeichnet Concetto Vecchio die politische Karriere des James Schwarzenbach nach, dieses gut betuchten und gebildeten Aussen­seiters, der es 1967 als Kopf der fremden­feindlichen Nationalen Aktion in den Nationalrat schaffte und die «Überfremdungsinitiative» startete. Sie sah eine Kontingentierung des Ausländer­anteils vor: Auf 10 Prozent der Bevölkerung sollte er beschränkt werden – was für 300’000 Italiener die Ausschaffung bedeutet hätte. Bei der Abstimmung am 7. Juni 1970 scheiterte die «Schwarzenbach-Initiative» – so der Volksmund – zwar knapp an der Urne, und bei den folgenden zwei Versuchen schnitt sie noch schlechter ab. Doch der Samen war gesät.

Und auch wenn Concetto Vecchio seinen Schluss­strich vor den weiteren hiesigen Entwicklungen zieht, ist klar: Die Saat des demagogischen Agitators James Schwarzenbach ging schliesslich auf mit dem Erfolg der SVP und ihrer Masseneinwanderungs­initiative, die 2014 angenommen wurde.

Agitator mit Wirkung: James Schwarzenbach spricht am 1. August 1970 auf der historischen Schlachtwiese in Sempach. Photopressarchiv/Keystone

Nicht alles von dem, was «Cacciateli!» aufarbeitet, ist neu, zumindest hierzulande (ein Teil der Quellen stammt aus hiesigen Recherchen). Aber der italienische Blick verleiht den geschilderten Vorgängen eine eigene Schärfe. Concetto Vecchio zitiert als erzkonservativ berüchtigte Kollegen des «Corriere della Sera», die sich alarmiert zeigten ob der im Nachbar­land herrschenden Einwanderungspraxis.

Dann jedoch dreht er den Spiess um und hält dem heutigen Italien den Spiegel vor: Vor fünfzig Jahren, als noch keine Flüchtlings­boote an den heimischen Küsten landeten, war es leicht, sich über die bösen Schweizer zu empören und mit dem Skandal­finger auf James Schwarzenbach zu zeigen. Der Autor braucht den Vergleich mit dem jetzigen Zustand seines Heimat­lands nicht auszubuchstabieren. Was er meint, versteht man auch so.

Wie kommt es, fragt mich Concetto Vecchio, dass keine offizielle Biografie von James Schwarzenbach existiert, den er in seinem Buch als «den ersten populistischen Popstar» und im Gespräch mit mir als «Drop-out» bezeichnet? Eine so schillernde wie gefährliche Figur: Gegen seine Familie, schwerreiche Textil­unternehmer, lehnt sich Schwarzenbach auf, gegen das Unternehmer­tum ganz allgemein, aber auch gegen die Kommunisten – und gegen «Bern». Er konvertiert zum Katholizismus. Der Arbeit zieht er eklektische Lektüren und das Verfassen von Büchern vor, darunter zwei Autobiografien. Er gibt im Eigen­verlag die Zeitschrift «Der Republikaner» heraus, dank der er seine Ideen verbreiten kann. Im Privaten schreibt er akribisch Tagebuch. Auf Italien angesprochen, betont er stets, er liebe das Land, die Kultur, die Menschen (ihren Familiensinn!) – überhaupt: Seine besten Freunde würden dort leben. Und «wenn man ihn fragt, ob er Rassist sei, antwortet er wie alle Populisten mit Nein», schreibt Concetto Vecchio.

Im nächsten Sommer jährt sich die Schwarzenbach-Initiative zum 50. Mal. Wenn alles planmässig klappt, wird «Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi» bis dann in deutscher Übersetzung vorliegen. Doch das Buch ist mehr als eine Jubiläums­lektüre. Während «Italianità» längst zum Lifestyle-Label avanciert ist, wird der Migrations­hintergrund der Schweiz immer diverser. (Und auch derjenige der übrigen Welt, obwohl global die Grenzen dichtgemacht werden). Im Hinblick auf unsere neuen Fremden hat Concetto Vecchios Buch das Zeug zum idealen Begleiter in die Zukunft.

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