Jetzt bloss nicht zurückkrebsen
Aussenminister Ignazio Cassis befreit die Schweiz vom Käse-und Schokoladeimage. Und leistet einen Beitrag zur Lösung des Migrationsproblems.
Von der Republik-Jury, 25.07.2019
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:
Sehr geehrter Preisträger
Verehrte Verlegerinnen und Verleger
Geschätzte Anwesende
Kokain «ist ein weit kräftigeres und unschädlicheres Stimulans als der Alkohol und [seiner] Anwendung in grossem Massstab steht derzeit nur [sein] hoher Preis im Wege». Das ist kein Zitat von Ihnen, Herr Bundesrat, sondern von Ihrem Berufskollegen Sigmund Freud, der wie Sie Medizin studiert hat.
Aber es könnte von Ihnen stammen.
Als Sie damals, kurz vor der Wahl zum Bundesrat, die Legalisierung von Kokain empfahlen, hielten das einige für einen Fauxpas. Aber das war es nicht. Es war im Gegenteil Ihr erstes Bekenntnis zu einer abenteuerlichen Schweiz.
Nichts gegen Uhren, Hartkäse und Milchschokolade. Aber aufregende Produkte sind das nicht. Das sind die Güter einer geordneten, satten Welt, einer Welt von gestern. Wenn unser Land im 21. Jahrhundert an der Spitze bleiben will, muss es sich auf seine lange Tradition gefährlicher Produkte besinnen. Als Aussenminister leisten Sie, Herr Cassis, einen ausserordentlichen Beitrag dazu.
Die Zeit der Reisläufer ist längst vorbei, Nestlé empfiehlt Müttern in Entwicklungsländern nicht mehr Pulver- statt Muttermilch, auch das Bankkundengeheimnis ist leider Geschichte. Aber das schöne Handwerk der Zigarettenherstellung lebt noch. 1957 wurde die erste Marlboro ausserhalb der USA produziert, und zwar in Neuenburg. Und dort entstehen noch heute Marlboros.
Die Fabrik des Tabakkonzerns Philip Morris liegt direkt am See und stellt jährlich 20 Milliarden Zigaretten her. Und die Tabakwaren «made in Switzerland» sind auf der ganzen Welt beliebt: Sie gehen zu drei Vierteln ins Ausland. Sie wissen es, Herr Aussenminister: Die Schweiz ist mindestens so sehr Tabak- wie Käsenation. Mit Tabakwaren verdient unser Land im Ausland jährlich über eine halbe Milliarde Franken. Fast gleich viel wie mit Käse.
Eine solche Branche hat einen Auftritt auf einer Schweizer Bühne verdient. Zumal sie dafür sogar zahlt. Mit dem Preis der Republik möchten wir Sie und Ihr Departement, geehrter Preisträger, für den Mut auszeichnen, Philip Morris als Sponsor anzubinden. Mit 45’000 Franken hat der Konzern die Eröffnungsparty der Schweizer Botschaft in Moskau unterstützt. 1,8 Millionen Franken sollen es für den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 2020 in Dubai werden.
Es war abzusehen, dass dieser Plan die notorischen Nörgler aufrütteln würde. Die Schweiz verhelfe einem Hersteller von krebserzeugenden Produkten zu einem schönen Auftritt, jammerte man im In- und natürlich auch im Ausland. Von einem Reputationsschaden für das Land war die Rede.
Wir hoffen, dass Sie, Herr Cassis, unter diesem Druck nicht einknicken. Und zwar nicht, weil Philip Morris an den Schweizer Anlässen nur die rauchfreien und laut Werbung weniger schädlichen Dampfzigaretten anpreist. Sondern im Gegenteil: Weil wir alle stolz sein sollten auf die Schweizer Zigaretten, ein echtes Terroirprodukt, dessen ungestümer Charakter von seinen eidgenössischen Wurzeln zeugt.
Denn es ist mit den Schweizer Raucherwaren offenbar wie angeblich mit dem Käse: Die beste Ware geht ins Ausland. Die von Philip Morris und anderen Konzernen für den Export bestimmten Zigaretten sind so stark, dass sie in der Schweiz und der EU glatt verboten wären und in der EU nicht einmal produziert werden dürfen.
Als Aussenminister wissen Sie, dass es zu den guten Diensten der Schweiz für die Weltgemeinschaft gehört, halbherzige EU-Regulierungen zu unterlaufen. Auch wenn solche Zigaretten Abhängigkeit und Tod mit sich bringen. Denn für einen liberalen Kopf wie Ihren ist klar, dass uns Verbote auch hier nicht weiterbringen.
Wenn die Freiheit mit der Sicherheit in Konflikt gerät, schlagen Sie, Herr Cassis, sich zuverlässig auf die Seite der Freiheit. Sie haben das mit Ihrem Einsatz für andere gefährliche Schweizer Güter und Unternehmen schon mehrmals bewiesen. Etwa als Sie im Bundesrat die Mehrheitsverhältnisse zum Kippen brachten und die Regeln für die Ausfuhr von Schweizer Waffen lockern wollten. Oder als Sie eine sambische Kupfermine besichtigten und auf Twitter lobten, die dem Rohstoffkonzern Glencore mit Sitz in der Schweiz gehört.
Zu Recht verloren Sie damals kein Wort über die Schwefelabgase, die in der Nachbarschaft der Mine Krankheit und Tod brachten. Sie gehören zu den standhaften Liberalen, die auch angesichts bedauerlicher Einzelschicksale das Vertrauen in die ordnende Kraft der unsichtbaren Hand nicht verlieren. Denn diese Hand sorgt gerade beim globalen Handel mit gefährlichen Schweizer Gütern für eine erfreulich klare Ordnung: Hier in der Schweiz die Gewinne, dort in den Entwicklungs- und Kriegsländern die Toten.
Nein, das ist nicht ungerecht. Dahinter verbirgt sich eine übergeordnete Weisheit, die nur erkennt, wer gleichzeitig eines der grössten Probleme unserer Zeit bedenkt: die Migration. Denn wer schon zu Hause stirbt, macht sich gar nicht erst auf den Weg.
Mit Ihrem Einsatz für eine abenteuerliche Schweiz befreien Sie, Herr Aussenminister, unser Land nicht nur vom Image der Biederkeit. Sie leisten damit auch einen Beitrag zur Eindämmung der Migration. Und der ist besonders wertvoll, weil er bei den Ursachen ansetzt.
Ihnen gelingt damit das scheinbar Unmögliche: Sie überwinden den ewigen Widerspruch von Freiheit und Sicherheit und machen die Welt freier und sicherer zugleich. Dieser Preis der Republik, sehr geehrter Herr Bundesrat, war überfällig.
Der Preis der Republik – vorgelesen
«Der Preis der Republik»-Beiträge stehen Ihnen auch als Audioversion zur Verfügung. Abonnieren Sie den Podcast in Ihrer bevorzugten App: Anchor, Apple Podcasts, Google Podcasts, Spotify, Breaker, Overcast, Pocket Casts, PodBean und RadioPublic sowie als RSS-Feed.
Illustration: Doug Chayka