Aus der Arena

Der vordergründige Migrations­hintergrund

Von Michael Rüegg, 15.07.2019

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Neulich lasen wir mit gemischten Gefühlen einen Artikel über den Niedergang der «Mehrheits­gesellschaft» in deutschen Städten. Sprich: Menschen deutschen Blutes würden etwa in Frankfurt am Main zwar noch die grösste Bevölkerungs­gruppe bilden, aber nicht mehr die Mehrheit der Bewohnerinnen ausmachen.

Das klingt natürlich bitter, zumal jede Mehrheit den Verlust ihrer Mehrheit beweint. Angesichts derartiger Nachrichten beginnt im Kopf bereits die Diashow mit Bildern von Burka­trägerinnen und bärtigen Männern in Pluderhosen, wie sie die Eingänge von Aldi und Rewe verstopfen.

Doch bevor wir das Klagelied über den Untergang des Abendlandes anstimmen, sollten wir vielleicht einen Blick auf die verwendeten Zahlen werfen. Der Artikel geht von folgender Definition des Begriffes «Migrations­hintergrund» aus:

«Eine Person hat laut dem Statistischen Bundesamt dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist.»

Quelle: NZZ/Bamf

Das ist doch eine wertvolle Information. Sprich, die Tochter des CDU-Stadtrats, der mit einer dänischen Informatikerin verheiratet ist, ist gemäss dieser Definition nicht Teil der Mehrheits­gesellschaft. Ebenso wenig wie der Gymnasiast, dessen Vater als Russland­deutscher geboren, in den Neunzigerjahren eingewandert ist und eine schwäbische Immobilien­maklerin geheiratet hat. Keine echten Deutschen, ha!

Zur «Mehrheits­gesellschaft» gehören nach der Betrachtung der deutschen Statistiker also nur diejenigen Germanen und Alemannen auf deutschem Staatsgebiet (Stand 1955), deren beide Eltern einen imaginären Bundesadler auf ihrem Babypopo trugen – oder Hammer und Zirkel im Fall der neuen Bundesländer.

Wagen wir den Vergleich mit der Schweiz. Was sagen die Statistiker hier?

«Zur vom Bundesamt für Statistik definierten Gruppe der ‹Bevölkerung mit Migrations­hintergrund› gehören Personen ausländischer Staats­angehörigkeit und eingebürgerte Schweizerinnen und Schweizer – mit Ausnahme der in der Schweiz Geborenen mit Eltern, die beide in der Schweiz geboren wurden – sowie die gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer mit Eltern, die beide im Ausland geboren wurden.»

Quelle: BFS

Das muss man unter Umständen mehr als einmal lesen, aber zur Vereinfachung: Wer als Schweizerin mit mindestens einem Schweizer Elternteil geboren ist, hat hierzulande keinen Migrationshintergrund.

2013 hat das Statistische Amt des Kantons Zürich errechnet, dass 40 Prozent der Zürcher Bevölkerung einen Migrations­hintergrund (und zwar nach Schweizer Definition) besitzen. Und: Nur die Hälfte der kantonal­zürcherischen Bevölkerung hat Eltern, die beide in der Schweiz geboren sind. Legt man quasi beide Statistiken übereinander, darf man in etwa davon ausgehen, dass bestimmt die Hälfte aller Menschen im Kanton Zürich nach deutscher Definition einen Migrations­hintergrund haben.

Abstrahieren wir diese Erkenntnisse nun auf die Stadt Zürich. Sie ist per se multikultureller als der Rest des Kantons – und hat einen höheren Anteil an ausländischer Wohn­bevölkerung. Zwar fehlen genaue Zahlen, aber wir dürfen getrost davon ausgehen, dass in Zürich die «Mehrheits­gesellschaft» nach teutscher Tefinition längst passé ist. Sprich, es müssen in der Stadt Zürich mindestens so besorgnis­erregende statistische Zustände herrschen wie in Frankfurt am Main.

Eine solche Verkleinerung des Anteils der Mehrheits­bevölkerung führe zu mehr Diversität, steht im genannten Artikel, und ein niederländischer Forscher sagt dort, dass dies zu «kultureller Verunsicherung in der Mehrheits­gesellschaft führen könne».

Da wundert man sich als Zürcherin oder Zürcher etwas und sucht vergeblich nach der eigenen kulturellen Verunsicherung. Es scheint ja dieser Stadt alles in allem doch nicht ganz so schlecht zu gehen. Das Bildungs­niveau steigt stetig an, der Anteil an Sozialhilfe­beziehenden stagniert.

Sollte also die Bevölkerung in Frankfurt am Main von statistischen Ängsten geplagt sein, könnte ein Besuch in Zürich womöglich das passende Beruhigungs­mittel für die Frankfurterinnen bilden.

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