Aus der Arena

Morphing-Journalismus beim «Tages-Anzeiger»

Von Daniel Binswanger und Christof Moser, 03.07.2019

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Die Recherche zu den Geschehnissen rund um die Generalversammlung des Zürcher Kino-, Buch-, Gastro- und Veranstaltungsorts «Kosmos» hat grossen Wirbel ausgelöst, zu vielen Telefonaten, E-Mails und Social-Media-Postings geführt, zu Einfluss­versuchen – und einem Nachzug im «Tages-Anzeiger».

Am Samstag­nachmittag um 17.58 Uhr publizierte «Tages-Anzeiger online» einen Artikel zu den Streitigkeiten im «Kosmos». Unter dem Titel «Zürcher Kosmos-Freunde kämpfen um ihr Kulturhaus» lieferte der «Tages-Anzeiger» eine Zusammen­fassung des Dramas, basierend auf den gleichen­tags erschienenen Republik-Recherchen. Zusätzlich nahm «Kosmos»-Aktionär Steff Fischer ausführlich Stellung, und die Lancierung einer Unterschriften­aktion zur «Rettung des Kosmos» wurde thematisiert. So weit, so korrekt.

Umso erstaunlicher war dann das Morphing, das diesem Artikel widerfuhr.

Gerne rufen wir an dieser Stelle drei fundamentale Grundregeln des journalistischen Handwerks in Erinnerung:

  • Erstens muss immer gekennzeichnet werden, wenn an einem publizierten Artikel nachträglich substanzielle Änderungen vorgenommen werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Darstellung von Sachverhalten plötzlich fundamental verändert wird. Alle Online-Medien, die einen Anspruch auf Seriosität erheben, handhaben dies so. Unsere Regeln dazu finden Sie hier.

  • Zweitens ist es immer nützlich, mit allen Seiten und möglichst vielen Involvierten zu sprechen, aber man sollte nicht alles für bare Münze nehmen, was einem von der einen oder anderen Seite erzählt wird. Vor allem sollten Behauptungen nicht nachträglich und unbesehen als Fakten in bereits publizierte Artikel hineingeschmuggelt werden.

  • Drittens ist es nicht empfehlenswert, Behauptungen zu machen, die anhand bereits publizierter Dokumente offensichtlich fragwürdig sind. Hier hätte es geholfen, die Schlüssel­dokumente zu lesen, die wir in unserer Recherche öffentlich zugänglich gemacht haben.

Über alle drei dieser journalistischen Grundregeln hat sich der «Tages-Anzeiger» hinweggesetzt. Was sind die mysteriösen Gründe dafür, dass so etwas überhaupt möglich ist?

Zum ersten Grundsatz: Die Bericht­erstattung des «Tages-Anzeigers» vom Samstag hat mit der Bericht­erstattung vom Montag kaum mehr etwas zu tun. Natürlich ist es legitim, seine Beurteilung zu ändern, vielleicht hat man ja weiterrecherchiert, vielleicht sind neue Aspekte aufgetaucht. Doch wie erwähnt: Dann muss man es kenntlich machen. Oder einen neuen Artikel publizieren. Der «Tages-Anzeiger» machte nichts von alledem: Bis heute wird als Publikationszeitpunkt immer noch Samstag, der 29. Juni um 17.58 Uhr angegeben. Die Änderungen sind nicht markiert. Es wird noch nicht einmal vermerkt, dass ein «Update» erfolgte.

Der Einführungssatz vom Samstag lautet: «Das hippe Kosmos-Kulturhaus in Zürich scheint von bürgerlichen Kreisen übernommen worden zu sein.» Der Einführungs­satz vom Montag lautet: «Das hippe Kosmos-Kulturhaus in Zürich wurde zum Zankapfel zwischen seinen Gründern Bruno Deckert und Samir.» Am Samstag lesen wir: «Der neue starke Mann ist gemäss verschiedenen Quellen aber nicht etwa Kosmos-Mitgründer Bruno Deckert, der als einziger Bisheriger im Verwaltungs­rat verblieb. Es ist Edwin van der Geest von der Beratungsfirma Dynamics Group, der unter anderem der rechtsbürgerlichen Interessens­gemeinschaft ‹Freunde der NZZ› vorsteht.» Am Montag heisst es nur noch: «Wobei bei letzterem [van der Geest] – er gehört der Interessens­gemeinschaft ‹Freunde der NZZ› an – verschiedene Medien davon ausgehen, er habe im Hintergrund die Fäden gezogen und wolle das Kosmos in eine rechtsbürgerliche Ecke führen.» Am Samstag hiess es noch: «gegen diese Machtübernahme», am Montag: «gegen diese vermeintliche Machtübernahme». Die ganze Geschichte wird neu geframed – ohne dass dies im Geringsten transparent gemacht würde.

Zum zweiten Grundsatz: Offenbar hat der Autor des «Tages-Anzeiger»-Artikels am Sonntag weitere Gespräche geführt – was lobenswert ist. Ungeprüft alles glauben sollte man trotzdem nicht. So heisst es in der neuen Montagsversion: «Klar scheint einzig, dass die Krise zwischen Deckert und Samir im Vorfeld beigelegt werden sollte, indem Edwin van der Geest von der Beratungsfirma Dynamics Group als Mediator beigezogen wurde.»

Edwin van der Geest als Mediator? Das ist ein erstaunlicher Scoop! Auch im heutigen Interview mit dem «Tages-Anzeiger» bezeichnet Bruno Deckert den Gründer der Lobbyingfirma Dynamics Group als «Mediator». Auf der Website der Dynamics Group weist sich van der Geest unter anderem als Spezialist für «öffentliche Übernahmen und Proxy Fights» aus, von Mediation ist nichts zu lesen. Mehrere Quellen bestätigen, dass es tatsächlich eine Mediation gab (wie die Republik geschrieben hat), aber nicht von Edwin van der Geest, sondern von einer bekannten und qualifizierten Mediatorin. Und Edwin van der Geest hat an dem Gespräch teilgenommen, aber nicht als Mediator, sondern als Vertrauens­person von Bruno Deckert. Deckert hat darauf insistiert, die Mediation in Begleitung von van der Geest zu bestreiten.

Zum dritten Grundsatz: Am Samstag ist davon noch überhaupt nicht die Rede, aber am Montag heisst es plötzlich im «Tages-Anzeiger»-Artikel: «Gemeinsam einigte man sich vor der GV auf ein Viererticket im Verwaltungsrat mit Deckert, Samir, Monika Binkert und Simone Müller-Staubli. Nur einen Tag vor der Versammlung wurde dieser Kompromiss jedoch vom Samir-Lager torpediert, indem plötzlich ein Sechserticket vorgeschlagen wurde.» Hier wird mit einer Verkürzung hart an der Grenze zur Irreführung gearbeitet: Auch das Samir-Lager unterstützte das Viererticket (wie eben jenem Brief vom Tag vor der General­versammlung zu entnehmen ist). Das Deckert-Lager wollte fünf Verwaltungsräte, neben dem Viererticket noch einen fünften, der erst nach der GV ermittelt werden sollte. Das Samir-Lager wollte sechs Verwaltungsräte, wobei sie zusätzlich zum Viererticket Balthasar Wicki und Ruedi Gerber vorgeschlagen haben. Offenbar ist dies der entscheidende Punkt im «Kosmos»-Drama: Wer hat wem den Krieg erklärt, wer genau sprengte den mühsam erarbeiteten Kompromiss? Man kann die Vorgänge und ihre fatale Wirkung unterschiedlich beurteilen. Doch bei den Tatsachen sollte die Bericht­erstattung bleiben.

Konfrontiert mit diesen Beobachtungen sagt der Autor des «Tages-Anzeiger»-Artikels: «Wenn sich eine Geschichte weiterentwickelt, kann man bei uns einen Onlinetext ergänzen. Druck hat es in diesem Fall keinen gegeben.»

Wir hingegen können uns gut vorstellen, wie es zum mysteriösen Morphing gekommen ist. Auch bei der Republik versuchten verschiedene Kräfte, Einfluss auf die bereits publizierte Recherche zu nehmen. Das gehört zum journalistischen Alltag. Die Frage ist nur, wie man als Medium damit umgeht.

Edwin van der Geest schrieb uns zum Beispiel, er sei kein «rechtsbürgerlicher Agitator», sondern ein «liberaler Kosmopolit». Wir sollten das eine im publizierten Artikel doch bitte durch das andere ersetzen. Bereits während der Recherche versuchte er, sich mit Hinweis auf ein Schreiben der «Freunde der NZZ» während der Wirren um die Besetzung der NZZ-Chefredaktion mit Markus Somm von ganz rechts abzugrenzen. Allerdings gibt es Hinweise aus Recherchen rund um den 2014 erfolgten Versuch der «Freunde», das NZZ-Aktionariat politischen Kräften ausserhalb der FDP zu öffnen, die das als nachträgliche Geschichtsklitterung erscheinen lassen.

Die mächtigen Player in der Schweizer PR-Szene – nicht nur Edwin van der Geest – scheinen mittlerweile selbstverständlich davon auszugehen, dass publizierte Online-Artikel nichts anderes sind als Knetmasse zu ihrer Verfügung. Die PR-Vertreterin von SVP-Nationalrat Thomas Matter schrieb uns, Herr Matter kenne zwar Edwin van der Geest und weitere Vertreter aus dem Kreis der «NZZ-Freunde», habe aber mit dem «Kosmos» nichts zu tun. Ob man den Satz zu Thomas Matter nicht einfach streichen könne?

In beiden Fällen haben wir freundlich abgelehnt.

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