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Peter Jackson: «They Shall Not Grow Old»
Der Blockbuster-Regisseur zeigt den Ersten Weltkrieg mit bearbeitetem Archivmaterial als farbenfrohes Breitleinwand-Spektakel.
Von Simon Spiegel, 02.07.2019
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Der entscheidende Moment, der Punkt, an dem alles anders wird, kommt nach 25 Minuten. Bis dahin hat uns Peter Jacksons «They Shall Not Grow Old» viel historisches Filmmaterial gezeigt; Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg aus den Beständen des Imperial War Museum, unterlegt von Interviews mit Kriegsveteranen. Mit der Ausnahme von vereinzelten historischen Plakaten, Postkarten und Karikaturen präsentiert sich die Vergangenheit bis zu diesem Zeitpunkt so, wie wir es von Dokumentationen gewohnt sind, die mit rund hundertjährigem Filmmaterial arbeiten: schwarzweiss und stumm.
Doch nach einem Viertel der Laufzeit ist es so weit: Das Bild macht auf und wechselt vom fast quadratischen Format des historischen Materials auf Breitleinwand. Und vor allem: Mit dem Wechsel der Bildproportionen wird das Gezeigte plötzlich farbig und hörbar. Aus dem stummen, leicht geisterhaften Schwarzweissfilm ist auf einen Schlag ein moderner Farbfilm geworden.
Von Mittelerde in die Schützengräben
Es ist nicht wirklich überraschend, dass Peter Jackson, bekannt als Regisseur der beiden immens erfolgreichen Fantasy-Trilogien «The Lord of the Rings» und «The Hobbit», nicht den konventionellen Weg geht. Für den Dokumentarfilm, den er im Auftrag des Imperial War Museum zum hundertsten Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs produziert hat, liess er sein Team tief in die digitale Trickkiste greifen. Dieses hat das historische Bildmaterial nicht bloss aufgefrischt, Kratzer und andere Schäden entfernt, sondern auch eingefärbt und für die Kinofassung sogar in 3-D-Aufnahmen überführt.
Noch umfassender sind die Arbeiten an der Tonspur. Neben Geräuschen – von Fussgetrampel und unidentifizierbarem Geschrei bis zu Granatendonner – wurde mit der Hilfe von professionellen Lippenlesern auch rekonstruiert, was die bis anhin stummen Protagonisten gesprochen haben könnten, und dann nachsynchronisiert.
Das Ergebnis ist irritierend. Es sind seltsam pastellfarbene Bilder, die bei allem Bestreben, naturalistisch zu erscheinen, doch oft artifiziell und unwirklich wirken.
Fast noch irritierender als der Film selbst sind aber die Reaktionen darauf. Während die «New York Times» leise Bedenken zu Jacksons Umgang mit dem historischen Material anmeldet, diese Kritik aber mit dem Hinweis, dass dies wohl die Sorgen einer cinephilen Minderheit seien, sogleich einschränkt, überschlägt sich insbesondere die britische Filmkritik vor Begeisterung. Der allgemeine Tenor: So nah, so lebensecht und authentisch wurde uns der Erste Weltkrieg noch nie gezeigt.
Erster Weltkrieg à la Warhol
Obwohl Jackson im Zusammenhang mit seinem Film stets von Restauration spricht, muss man das, was er und sein Team gemacht haben, wohl eher als eine Art von kreativer Neu-Imagination bezeichnen, die historische Aufnahmen zur Ausgangslage hat. Mit dem Ursprungsmaterial hat der fertige Film ungefähr so viel gemein wie Andy Warhols Einfärbungen der Pop-Ikonen Marilyn Monroe oder Elvis Presley mit den diesen zugrunde liegenden Fotografien.
Man könnte mit Blick auf Jacksons Tolkien-Verfilmungen spöttisch von einer Fantasyversion der Geschichtsschreibung sprechen, wenn man damit nicht dem Fantasygenre Unrecht tun würde. Einem Genre, das sich wahrscheinlich mehr als jedes andere durch historisches Bewusstsein auszeichnet. Gerade das Werk Tolkiens ist von einem konstanten Gefühl des Verlusts durchzogen, von der elegischen Trauer darüber, dass das Vergangene für immer dahin ist. «They Shall Not Grow Old» tut das exakte Gegenteil: Die Vergangenheit soll uns so nahe wie möglich rücken.
Fliessende Übergänge
Mit seinem ausführlichen Schwarzweissauftakt markiert «They Shall Not Grow Old» zwar, wie gross der Sprung vom Archivmaterial zu den neu kadrierten und farblich durchkomponierten Bildern ist. Zugleich suggeriert der fliessende Übergang zwischen den beiden Bilderwelten aber auch eine weitgehend widerstandslose Aneignung der Vergangenheit. Die historische Distanz von hundert Jahren lässt sich gleichsam mit ein paar Mausklicks überwinden.
Diese Einebnung aller Differenzen geht einher mit der Dekontextualisierung, die der Film auf den übrigen Ebenen betreibt. Kein Wort zu den historischen Zusammenhängen, zu den Hintergründen des Krieges oder dessen Verlauf. Dasselbe gilt vom vielstimmigen Chor der Zeitzeugen, die auf der Tonspur hörbar werden. Wer hier mit welchem zeitlichem Abstand spricht, lässt sich bestenfalls erahnen.
Jackson, dessen Grossvater im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, will dessen Generation erklärtermassen ein Denkmal setzen und uns Zuschauern die Soldaten, die damals zu Hunderttausenden starben, als Menschen nahebringen. Das ist ein ehrbares Anliegen, doch führen der Fokus auf einzelne Stimmen und Gesichter, die massive Bearbeitung des Filmmaterials und das komplette Ausblenden des Kontextes zum Verlust jeder historischen Distanz. Geschichte wird in «They Shall Not Grow Old» zu einer beinahe beliebig knetbaren Masse. Und vor allem: zu etwas, das keine Übersetzungs- oder Interpretationsarbeit mehr braucht.
Ein Anti-Mockumentary
Vor fast einem Vierteljahrhundert, lange bevor er zum Blockbuster-Regisseur aufstieg, drehte Peter Jackson gemeinsam mit Costa Botes für einen neuseeländischen Fernsehsender «Forgotten Silver», ein Porträt des vergessenen neuseeländischen Filmpioniers Scott McKenzie. McKenzie soll nicht nur den ersten neuseeländischen Film gedreht, sondern im Alleingang auch Ton- und Farbfilm erfunden haben. Da er aber ein ausgesprochener Pechvogel war, scheiterte er mit all seinen Projekten.
Eine unglaubliche Geschichte, die nur einen Haken hat: Sie ist komplett erfunden. «Forgotten Silver» ist ein Mockumentary, ein Film, der wie ein Dokumentarfilm aussieht, in Wirklichkeit aber eine fiktive Geschichte erzählt. «Forgotten Silver» spielt mit den Konventionen dokumentarischen Erzählens und will dabei als Spiel erkannt werden. Entsprechend gibt es laufend Hinweise darauf, dass das, was wir sehen, nicht stimmen kann. Etwa die Geschichte, wie der jugendliche McKenzie Tausende Eier klaute, um damit im Do-it-yourself-Verfahren Filmemulsion herzustellen. Den meisten Zuschauern dürfte spätestens an dieser Stelle klarwerden, dass an dem Erzählten etwas nicht stimmen kann.
«Forgotten Silver» ist ein geistreicher Jux, der uns nicht zuletzt dazu auffordert, die vermeintliche Evidenz des filmischen Bildes und dessen Rolle bei der Konstruktion historischer Wahrheiten kritisch zu hinterfragen. Mit «They Shall Not Grow Old» hat Jackson nun im Grunde den Gegenfilm gedreht.