
Tote Sprachen leben länger
«Heaven’s Vault» ist ein aussergewöhnliches Adventure-Game. Und es weckt Begehrlichkeiten der Lern-App-Industrie. Denn es vermittelt, wie man eine Sprache lernt – obwohl es diese gar nicht gibt.
Von Christof Zurschmitten, 01.07.2019
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Gamer haben offenkundig ein Faible für Archäologen. Lara Croft grabräubert sich seit Jahrzehnten mit Muskelmasse und Schiesspulver durch die Welt des Computerspiels. Die Indiana-Jones-Spiele der Neunzigerjahre sind geliebte Klassiker. Auch Aliya Elasra, die Protagonistin von «Heaven’s Vault», sucht nach den Überresten einer untergegangenen Kultur.
Man muss allerdings nicht lange graben, um zu sehen, dass hier so ziemlich alles anders ist als bei den Vorgängern. Die Archäologin ist keine Pulp-Heroin, Wissenschaft keine Allmachtsfantasie. Die Protagonistin leidet an einer Lungenkrankheit und muss auf Schüttelsieb und Notizblock setzen statt auf Akrobatik und Gewehre. Und der Heldenstatus bleibt Aliya schon deshalb verwehrt, weil sie das Altertum erforscht in einer Welt, in der der Glaube an die ewige Wiederkehr der Dinge herrscht. Wo aber das Zeitverstehen zyklisch ist und die dominante Religion alles, was es über den «grossen Kreislauf» zu wissen gibt, längst in Chroniken festgehalten hat, erscheint die Suche nach Spuren vergangener Kulturen zwangsläufig suspekt.
«Heaven’s Vault» spielt also nicht in historischen Grabstätten, die die Popkultur schon allzu oft geplündert hat. Das Setting ist historisch und futuristisch zugleich: Osmanische Architektur trifft auf Hochleistungstechnologie – die von den Menschen nur noch verehrt und verwendet, aber nicht mehr verstanden wird. Ein ewiges Imperium herrscht über eine Ansammlung besiedelter Monde und leitet seine Überlegenheit aus der Geschichte ab – einer Geschichte, die aber auch Gegenwart und Zukunft ist, weil sich alles wiederholt. Es ist ein ebenso fantastischer wie stimmiger Weltentwurf, der den literarischen Vorbildern von Gene Wolfe und Ursula K. Le Guin folgt – Autoren, die in ihren Werken ein oft simples «Was wäre wenn?» in all seinen Konsequenzen durchgespielt haben.
Aliya – und mit ihr die Spielerin – durchreist diese Welt anfangs auf der Suche nach einer verschollenen Person. Bald stellt sich heraus, dass diese selbst einem Geheimnis nachjagte: dem titelgebenden «Himmelsgewölbe», einem Ort aus einer mythischen Vorzeit, die jenseits des ewigen Kreislaufs liegen soll. Aus der Detektivgeschichte wird nun zusehends der Versuch, diese Zeit zu rekonstruieren. Der Spieler entscheidet, an welchen Orten Aliya nach Spuren der Vergangenheit suchen soll. Vor allem aber wählt er, mit wem Aliya spricht, wie sie dies tut und worüber – und mit wem besser nicht, denn die Antworten, zu denen Aliya gelangt, drohen die etablierte Ordnung zu stürzen.
Mit «Heaven’s Vault» setzt der Hersteller Inkle Studios erstmals auf statische Bilder, durch die einfach animierte Figuren wie flüchtige Schemen wandeln (einen guten Eindruck von dem Spiel gibt dieses Video). Wirklich lebendig wird die Welt aber erst in den Monologen, in den Dialogen und in Aliyas Beschreibungen – «Heaven’s Vault» ist ein Spiel aus Sprache. Damit bestätigt das Entwicklerstudio seine Rolle als wichtiger Akteur in der gegenwärtigen Wiederentdeckung der Interactive Fiction, eines Genres zwischen Literatur und Computerspiel, das letztmals in den 1980ern boomte, aber seit der Zusammenführung von Lese- und Spielgerät im Smartphone neue Erfolge feiert.
Zugleich ist «Heaven’s Vault» ein Spiel über Sprache. Denn der Schlüssel zur Vergangenheit ist Ancient: eine – fiktive, von den Gamedesignern erfundene – tote Sprache, die Aliya und mit ihr die Spielerin erlernen muss.
Wie erfindet man eine Sprache?
Und mit welchen Mitteln kann die Spielerin sie erlernen? Jon Ingold, Narrative Director und Autor für «Heaven’s Vault», berichtet, es seien zig Prototypen verworfen worden, bevor man zur finalen Form gefunden habe: Ancient, die fiktive Sprache von «Heaven’s Vault», kombiniert als reale Vorlagen unter anderem das chinesische Zeichensystem mit Elementen der deutschen Sprache. Im Spiel existiert die Sprache nur noch als Schrift.
Wie das Chinesische ist Ancient eine logografische Schrift, das heisst, ihre Zeichen stehen nicht für einzelne Laute, sondern für Sinneinheiten. Und wie im Chinesischen ist ein Teil der Zeichen piktografisch, das heisst, sie bilden in abstrahierter Form das ab, was sie bezeichnen. Aus der deutschen Sprache hat man für Ancient übernommen, was Jon Ingold «konzeptuelle Blöcke» nennt – die Möglichkeit, Wörter zu einer neuen Bedeutung zusammenzuführen. In dieser ist zwar der Sinn der ursprünglichen Bestandteile noch enthalten, die Bedeutung kann aber erst durch Querdenken richtig erfasst werden – man denke etwa an das für Fremdsprachler durchaus merkwürdige Wort Handschuh.
Das Erlernen von Ancient ist also ein bisschen wie das Legen eines Puzzles: Man tastet sich einerseits durch blosses Raten vor, andererseits wird aber auch korrektes Schlussfolgern belohnt. Bei der ersten Begegnung mit einem Satzfragment schlägt Aliya mögliche Bedeutungen vor, aus denen der Spieler auswählt. Dabei helfen ihm die Anschaulichkeit der Zeichen und eine künstliche Intelligenz, die nur Sätze vorführt, zu deren Entschlüsselung die Grundlagen schon erarbeitet worden sind. Könnte diese Wellenlinie etwa für «Wasser» stehen? Sie steht direkt vor drei Symbolen, von denen ich weiss, dass sie «Göttin» bedeuten. Und gleich darauf folgt eines, das ich schon als Bezeichnung für Häuser und Plätze kennengelernt habe. Zusammengenommen dürfte also der «Tempel der Wassergöttin» gemeint sein.
Solche Vermutungen werden im Spiel automatisch bestätigt, wenn man die Zeichenkette in anderen Artefakten erneut antrifft. Auf diese Weise entstehen in einem hoch motivierenden Prozess ein Wörterbuch und ein immer tieferes Verständnis der fiktionalen Welt.
Der Ernst des Lernens
Spielend lernen also: Das lässt jene Kreise aufhorchen, die seit rund zehn Jahren immer wieder die Forderung an das Computerspiel richten, doch bitte Ernst zu machen. Mit sogenannten serious games solle es seine bewährten Motivationsinstrumente einsetzen für einen höheren Zweck. Im Bereich der Pädagogik und der Lern-Apps etwa sollen «ernste Computerspiele» als süsse Ingredienz helfen, die bittere Pille des Lernstoffs zu schlucken.
«Heaven’s Vault» kommt dieser Forderung auf den ersten Blick geradezu mustergültig nach. Und tatsächlich sind Inkle Studios seit dem Erscheinen des Games immer wieder kontaktiert worden mit dem Vorschlag, aus «Heaven’s Vault» ein Programm für das Erlernen echter Sprachen zu machen. Das Studio hat immer abgelehnt mit derselben Begründung: Darum gehe es nicht. Ancient sei eine künstliche Plansprache, die logisch erschlossen werden solle – und damit etwas sehr anderes als natürlich entstandene Sprachen, in denen sich der Sprachgebrauch permanent wandelt.
Ernst genommen werden sollte «Heaven’s Vault» aber dennoch. Weil es Sprachenlernen nicht reduziert auf das Einpauken von Regeln und Vokabeln – eine Methode, die nicht besser wird, wenn ein Serious Game sie mit Punkten und Pixeln aufpeppt. Das Spiel steht für einen Ansatz, der zeitgemässer Didaktik viel eher entspricht: die Einsicht, dass der Schlüssel zum Verständnis einer Sprache die Freude an ihr ist. Und das Staunen über das Wunder Sprache. Kaum einem Spiel dürfte es gelingen, dies ansteckender und packender zu vermitteln als Aliya Elasras Suche nach der (sprachlichen) Vergangenheit.
Christof Zurschmitten ist aufgewachsen in Mörel, Wallis. Erfolgreich abgeschlossenes Studium der Germanistik, Geschichte und Medienwissenschaften. Erfolgreich abgebrochene Dissertation im Bereich Computerspiel und Intermedialität. Er lebt in Bern, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule und schreibt, wenn er dazu kommt, über Dinge von Interesse – unter anderem seit zehn Jahren über das Computerspiel.