Die vier Gangarten von lechts nach Rinck

Die Essays und Gedichte von Monika Rinck sind das originellste Denkabenteuer, das die deutschsprachige Literatur derzeit zu bieten hat.

Von Daniel Graf, 29.06.2019

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«Ich habe immer ein gewisses Misstrauen, wenn es gedanklich vom Kleinen ins ganz Grosse geht»: Monika Rinck. Gene Glover/Agentur Focus

Wenn man Monika Rinck als «Lyrikerin und Essayistin» bezeichnet, dann muss man sich die Relation in etwa so vorstellen wie in «Maler und Lackierer» oder «Hals-Nasen-Ohren-Arzt». Die Rollen sind gar nicht zu trennen. Das «und» ist ein verkappter Binde­strich.

Seit Jahren schon ist Monika Rinck eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Lyrik, und ihre Gedichte enthalten mehr gedanken­scharfe Gegenwarts­durchdringung als ganze Stapel von Debatten­büchern und Zeit­diagnosen. Spätestens mit dem Band «Risiko und Idiotie» (2015) ist sie zur virtuosesten Essayistin deutscher Sprache avanciert, doch der Stil ihrer Denkstücke lässt überall auch die Dichterin erkennen.

Es ist also nur konsequent, dass in diesem Frühjahr gleich beide ein neues Buch vorgelegt haben: die theoretisch versierte Lyrikerin Rinck einen neuen Gedicht­band und die mit lyrischen Mitteln arbeitende Theoretikerin Rinck ein umfang­reiches Lesebuch, das neben älteren Gedichten vor allem ihre poetisch inspirierten Essays versammelt.

«Alle Türen» heisst das erste, «Champagner für die Pferde» das zweite Buch, und vielleicht hilft beides, die Türen und die Pferde, um zu verstehen, was das Faszinierende an den Text­gebäuden von Monika Rinck ist. Denn ständig tun sich darin Türen zu neuen Denk­räumen auf. Und bei deren Erkundung wird man in mindestens vier verschiedene Gang­arten versetzt. Aber davon später.

Monika Rinck: «Die reine Affirmation» (alle Audios gelesen von der Autorin)

Orts­termin mit Monika Rinck in Berlin. Als Treff­punkt hat sie ein kleines, belebtes Café im Stadt­teil Moabit vorgeschlagen, wo sie wohnt. Und wo man längst auch schon die Berliner Gentrifizierung galoppieren sieht. «Poesie als Lebensform» war vor einigen Jahren das Motto ihres Haus­verlags Kookbooks, der nach wie vor ersten Adresse für deutsche Gegenwarts­dichtung, und das war als durchaus euphorisch-kämpferische Alternativ­losung zu bürgerlichen Lebens­konzepten gedacht. Und heute? «Ich weiss nicht, ob das noch reicht», sagt Monika Rinck mitten hinein in die Euphorie um den aktuellen Lyrik­boom, den die Feuilletons und die Germanistik ausgemacht haben. «Die Zeiten sind härter geworden.»

Wer sich mit Monika Rinck unterhält, wird eine ähnliche Erfahrung machen wie beim Lesen ihrer Texte: Die Bewegung geht immer von der Poesie zu den virulenten Fragen der Gegenwart. Ihre Essays handeln vom Schlafen, Schwimmen, Sammeln und eigentlich immer zuerst von Fragen der Literatur – aber sie führen mit stupender Belesenheit auch zuverlässig in die Konflikt­felder unserer Zeit: die identitäts­politischen Kämpfe; die populistische Heraus­forderung; den neuen Autoritarismus und fundamenta­listischen Furor.

Der Essay­band «Risiko und Idiotie» trug deshalb das Wort «Streit­schriften» im Untertitel. Aber Streit­lust, das gilt bei Monika Rinck vor allem für ihre schonungs­lose Zurück­weisung der schnellen, der einfachen Antworten, nicht für den Ton. «Kein Anders­denkender», sagt sie, «hat jemals aufgrund einer Polemik seine Meinung geändert.»

Und während Monika Rinck spricht, kann man ihr hin und wieder ganz direkt beim gedanklichen Fein­tuning zusehen. Dann wölben sich die Augen­brauen vor und sie verengt die Augen zu kleinen Schlitzen, wie um den äusseren Blick ab- und den inneren scharf zu stellen. Der Kopf dreht sich leicht zur Seite und verharrt noch einen Moment lang so, wenn der Blick sich längst wieder geweitet hat. Als gelte es, schon rein physiologisch eine Tunnel­perspektive zu vermeiden.

Vielleicht fällt einem das auch nur auf, wenn man zuvor Rinck gelesen hat. Denn von dieser Haltung steckt sehr viel in ihren Essays, in den Denk­bewegungen ihrer Gedichte. Es ist die erste, die am wenigsten spektakuläre, die Grund­gangart ihrer Texte: geradeaus, aber mit Seiten­blick. Bereit, ihre poetischen Korrekturen fortlaufend auch aufs eigene Denken anzuwenden.

(Alle kursiven Stellen sind Text­zitate von Monika Rinck.)

Die zweite Gangart: im Sprung

Es gibt aber auch die rasanten, die abrupten Wechsel. Die Fall­türen im Text. Die Luken, durch die man unversehens in einem anderen Bild­feld landet, weil die konkrete Wort­bedeutung unvermittelt in die übertragene kippt, weil Gedanken springen, nicht mit Vorwarnung, aber Vorsatz. Oho. Ob das der Leser mitmacht?

«Davonziehende Türen, Hochrasanz­trauma» heisst eines der neuen Gedichte und beginnt so: «Grillen­gesumm. Morgen­licht. Eine Tür verschwindet von hier. / Die Tür versickert im Jenseits. Die Summe geht nicht mehr auf.»

Zwei Zeilen, ein Sprung in die Metapher – und schon gehen neben einigen «windows of opportunity» auch die Rechnungen nicht mehr auf. Nur die Tür, durch die die Assoziationen einströmen, kriegt keiner mehr zu! Hochrasanz halt. Diese Sprünge!

Den Leser schubsend ins Denken versetzen: Diesen Trick der Lyrik hat Rinck in einem ihrer Theorie­texte längst selber beschrieben. Beim Rinck-Lesen merkt man, er funktioniert auch in Essays.

Überhaupt ist das die vielleicht grundlegendste Lese­erfahrung bei dieser Autorin: darauf gefasst sein zu müssen, dass sie in jedem Moment die Gangart wechseln könnte.

Zum Beispiel wäre da:

Drittens: der Gang mit der Gang

Denken bei Monika Rinck ist immer mehrstimmig. Keins ihrer Bücher der letzten Zeit, in dem sie nicht dem eigenen Text-Ich mehrere Rollen erfunden hätte. Die Diva. Den Idioten. Den Nörgler, der sich anschickt, das soeben errichtete Gedanken­gebäude wieder zum Einsturz zu bringen.

Vor allem aber sind Rinck-Texte ein Reservoir an Verweisen und Zitaten, ein Rummel­platz von einschlägigen und entlegensten Referenzen. Die Bewegung durchs Thema verläuft im Gespann, mit einer ganzen Gang von Denkern. Jeder Text ist ein Ort, an dem die Autorin die eigenen Gedanken an jenen der anderen schärft. Und die anderen, das sind die Big Names der Geistes­geschichte ebenso wie die Autoren abseitiger Fanzines und nerdiger Independents. Rinck lesen heisst deshalb immer auch Text­funde machen. Kanon­korrektur.

Entsprechend ist der häufigste Satz­anfang in Gesprächen mit ihr: «Es gibt da diese Stelle bei ...» Und wenn ihr ausnahms­weise mal die Quelle nicht einfällt, zückt sie ihren E-Reader und sucht durch die vielen Dateien, die da parallel geöffnet sind. Ein Glücksfall, meint sie, diese Dinger. Weil in einer kleinen Wohnung für all diese Bücher gedruckt gar kein Platz wär.

«Es gibt da diese Stelle bei Lorenz Wilkens», sagt sie auf die Frage nach der Angst als einem Leit­motiv in ihren neuen Gedichten und dem Witz als Gegengift. «‹Zu jeder Lust gehört die Angst, deren Überwindung zu ihr führte.›» Das muss man mal kurz sacken lassen. Doch man kapiert dann schon, wie sie von diesem Satz zur Unterscheidung von angst- und lust­gesteuerten Entscheidungen kommt. Und zu dem Fazit, dass Freiheit bedeute, so oft wie möglich Lust­entscheidungen zu treffen.

Also zur vierten und letzten Gang­art.

Denn jetzt kommt die Kür: Stolpern!

Wer das Denken besonders eifrig betreibt, kennt auch dessen Tücken, die Fehler­anfälligkeit menschlicher Erkenntnis­suche. Vollkommene Hybris zu glauben, man selbst würde dem souverän entgehen. «Ich habe immer ein gewisses Misstrauen, wenn es gedanklich vom Kleinen ins ganz Grosse geht.»

Also heisst «poetische Korrektur» auch, die Fehl­leistungen des Denkens, die Ausrutscher der Sprache auf die Bühne zu bringen. Nur muss, wer die Ausrutscher vorführt, ausgesprochen zielsicher stolpern. Und das ist womöglich Monika Rincks Lieblings­disziplin: ein allzu routiniertes Denken aus dem Tritt bringen; indem man, in grotesker Zuspitzung, seine Stör­anfälligkeit inszeniert.

Der Literatur­wissenschaftler Christian Metz, von dem die bisher umfassendste Studie zu Monika Rincks «poetischem Denken» kommt, hat diese Technik zu Recht mit dem Slap­stick verglichen – also der Kunst, ausgesprochen versiert danebenzutreten.

Rinck-Texte sind sprachlicher Slapstick.

Da erschafft die Stimme des Gedichts schon mal «Frau und Marp». Und dann liest sich die Kultur­geschichte der Geschlechter inklusive Gendering-Debatte eben so: «Die Frau verwaltete die Welt, der Marp verzierte sie. / Man litt ihn wohl, leitete ihn an, gab ihm ein Portfolio / Pronomen. Das leider, wie sich zeigt, nicht ganz / vollständig war. Doch war er immer mitgemeint. Ja. / So kam er vor.» Auch das ist, was wir anderswo rinckschen «Intelligenzhumor» genannt haben: Verfremdung, die das Groteske nicht in der skurrilen Abweichung situiert (die macht es ja nur sichtbar) – sondern in der bestehenden Norm.

Monika Rinck: «Wie es weiterging»

Genauso gut können aber auch schmerzen mittels Verschreiber zu scherzmen werden. Als hiesse so eine Gang, die Rincks Slapstick-Nummern aufführt.

Die Losung lautet: Alle Türen auf, Putzi! Auch die von einer Sprache zur anderen. «Pain is just a french word for bread»? Wieder so ein Zitat. Rinck kontert mit ihrem Anfängerinnen-Türkisch: tabak ist das Wort für «Teller». Und übersetzt man «Birne» auf Türkisch, landen Germanophone doch wieder in der Debatte um armut.

Und am Ende? Kommt der Tod

Weil die Wirklichkeit manchmal Pointen bringt, die sich kein ernst zu nehmender Schrift­steller je durchgehen liesse, hat an jenem Vormittag in Moabit auch noch Freund Hein seinen Auftritt. Monika Rinck erzählt gerade von einer Buch­premiere, die Ann Cotten, eine poetische Wahl­verwandte, mit den Science-Fiction-Autoren Angela und Karlheinz Steinmüller bestritten hatte, da zeigt sie auf einmal mit dem Finger nach draussen. Und dort kommt, wie die Karikatur eines Fiaker­fahrers, ein bleich­gesichtiger Herr auf einer schwarzen, pseudo­historischen Kutsche an der Ampel zum Stehen.

Da redet man also von Science-Fiction, «und plötzlich», sagt Monika Rinck, «fährt der Tod in der Kutsche vorbei!» Genauer gesagt: in einem Fake-Fiaker, einer Kutschen­attrappe, ganz ohne Pferde. Zu den poetischen Gang­arten der Monika Rinck passt das auch viel besser.

Monika Rinck: «Die Toten»

Monika Rinck: «Offen lassen»

Monika Rinck: Anfang des Essays «Poetische Korrekturen»

Zu den Audiodateien

Der Essay «Poetische Korrekturen» ist enthalten in «Champagner für die Pferde», die Gedichte «Die reine Affirmation», «Wie es weiterging», «Die Toten» und «Offen lassen» entstammen dem Band «Alle Türen». Ausführliche Quellen­angaben unten in der Infobox. Alle Audios gelesen von Monika Rinck.

Die Bücher

Monika Rinck: «Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch». Hrsg. von Monika Rinck und Daniela Seel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 528 Seiten, ca. 37 Franken. Hier finden Sie die Leseprobe.
Monika Rinck: «Alle Türen. Gedichte». Kookbooks Verlag, Berlin 2019. 104 Seiten, ca. 30 Franken.
Monika Rinck: «Risiko und Idiotie. Streitschriften». Kookbooks Verlag, Berlin 2015. 268 Seiten, ca. 30 Franken.
Monika Rinck: «Honigprotokolle. Gedichte». Kookbooks Verlag, Berlin 2012. 80 Seiten, ca. 30 Franken.

Zum Weiterlesen

Der Literaturwissenschaftler Christian Metz hat in seinem Buch «Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart» Monika Rinck ein umfangreiches Kapitel gewidmet.

Zu Monika Rinck

Monika Rinck, 1969 in Zweibrücken geboren, ist nicht «nur» Lyrikerin und Essayistin. Sie kooperiert mit Musikern und Komponistinnen und übersetzt; gemeinsam mit Orsolya Kalász aus dem Ungarischen, zusammen mit Uljana Wolf aus dem Englischen. Sie hat Religions­wissenschaft, Geschichte und Vergleichende Literatur­wissenschaft studiert in Bochum, Berlin und an der Yale-University in New Haven. Sie hat etliche Preise gewonnen, 2013 etwa den Peter-Huchel-Preis für ihren Gedichtband «Honigprotokolle», 2015 den Kleist-Preis und 2017 den Ernst-Jandl-Preis. Im Frühjahr 2018 erschien «Kritik der Motorkraft» bei Brueterich Press. Seit Mitte der 90er-Jahre betreibt Monika Rinck ihr Projekt «Begriffsstudio», ein fortlaufendes Fund­wörter­buch der Gegenwart.

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