«Die ETH-Leitung hat Fehler gemacht»

Martina Hirayama, Staatssekretärin für Bildung, Forschung und Innovation und damit oberste Bildungsverantwortliche der Schweiz, äussert sich erstmals zum Fall ETH – und erklärt, was für einen höheren Frauenanteil an den Hochschulen und mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem getan werden muss.

Von Dennis Bühler und Christof Moser, 25.06.2019

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«Machtmissbrauch darf unter keinen Umständen toleriert werden, an der ETH genauso wenig wie an jeder anderen Universität»: Staatssekretärin Martina Hirayama vor dem Bundeshaus. Raffael Waldner

Die Adresse ist eindrücklich, das Gebäude unprätentiös: Martina Hirayama empfängt in einem funktionalen Sitzungs­zimmer des Staats­sekretariats für Bildung, Forschung und Innovation an der Berner Einstein­strasse. Es ist ihr erstes grosses Gespräch, seit sie ihren Posten Anfang Jahr angetreten hat.

Erstmals äussert sich die oberste Bildungs­verantwortliche der Schweiz unter SVP-Bundesrat Guy Parmelin im Interview mit der Republik zur ETH-Krise. «Auch an Hochschulen muss die Unschulds­vermutung uneingeschränkt gelten», betont sie – und kündigt Massnahmen an, sollten an der ETH Frauen systematisch benachteiligt werden: «Sexismus dulde ich nicht.» Gespannt wartet Hirayama auf die Ergebnisse der Unter­suchung der Eidgenössischen Finanz­kontrolle zur Mittel­vergabe an der Hochschule. Die Anspannung beim Thema ETH ist deutlich zu spüren. Die Atmo­sphäre entspannt sich wieder, als sich das Gespräch um das zweite grosse Sorgen­kind der Staats­sekretärin dreht: die bedrohte Forschungs­zusammenarbeit mit der EU.

Frau Hirayama, wann sind Sie zuletzt gescheitert?
(leicht irritiert) Allzu lange wird das nicht her sein. Wie jeder Mensch scheitere auch ich regelmässig. Wieso fragen Sie?

Weil Scheitern zur Wissenschaft gehört. Und offenbar führte einst ein schief­gelaufenes Experiment zu Ihrem Durchbruch als Forscherin.
Das stimmt. Als Doktorandin der Chemie untersuchte ich, warum Klebstoffe kleben. Ein Experiment missriet gründlich – und führte doch zum Erfolg: Zufällig und völlig unerwartet entdeckte ich eine neue, revolutionäre Methode zur Beschichtung von Ober­flächen. Wer lernbereit ist, profitiert in der Regel zumindest mittel- bis langfristig vom eigenen Scheitern.

Gilt das auch für die Politik, die Bundesverwaltung?
Scheitern ist vielleicht ein zu grosses Wort. Doch Fehler zu machen, gehört auch in der Verwaltung und in der Politik dazu. Wichtig ist, gut damit umzugehen. Fehler gehören nicht unter den Teppich gekehrt.

Der Schweizer Wissenschaftsrat hat kürzlich einmal mehr auf ein Thema hingewiesen, bei dem die Schweizer Bildungs­politik seit Jahrzehnten scheitert: Sie schafft es nicht, für Chancen­gerechtigkeit zu sorgen.
Diesen Befund, der auch vom letztjährigen Bildungs­bericht gestützt wird, müssen wir ernst nehmen.

Konkret haben es Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten, vor allem jene mit Migrations­hintergrund, unabhängig von ihrem Leistungs- und Intelligenz­niveau schwerer, eine höhere Bildung zu erreichen, als Jugendliche aus privilegierten Schichten. Was unternehmen Sie dagegen?
Zahlreiche Studien unterstreichen, dass die ersten Lebens­jahre den Verlauf der individuellen Bildungs­biografien vorspuren. Deshalb müssen wir primär die Frühförderung stärken. Im Rahmen ihrer Bildungs­hoheit stehen da vor allem die Kantone in der Verantwortung.

Bildung ist in der Schweiz überwiegend Sache der Kantone. Verfluchen Sie manchmal das föderale System, das Ihren Einfluss beschränkt?
Nein, denn die Vorteile überwiegen klar. Wir brauchen in der Schweiz zwar manchmal etwas länger, bis wir uns zu einer Entscheidung durch­gerungen haben. Doch wenn die kantonalen Erziehungs­direktorinnen und -direktoren einmal zu einer gemeinsamen Position gelangt sind, ziehen sie alle am selben Strang. Dieses Vorgehen verspricht nachhaltigen Erfolg.

Wo sehen Sie die grössten Heraus­forderungen für die – wie es so schön heisst – Bildungs­nation Schweiz?
Zunächst einmal ist wichtig zu betonen, dass die Schweiz eine hervor­ragende Ausgangs­lage hat. Unser grösstes Plus ist das duale Bildungs­system, das in der Gesellschaft bestens verankert ist und von der Wirtschaft gestützt wird. Bei meinen ersten Reisen als Staats­sekretärin habe ich auch festgestellt, wie sehr wir im Ausland beneidet werden, weil rund zwei Drittel unserer Ausgaben für Forschung und Entwicklung von den Unter­nehmen getragen werden. Das entlastet nicht nur den Staats­haushalt enorm, sondern ist gut investiertes Geld in neue Produkte und Dienst­leistungen und damit in Arbeits­plätze und Wohlstand.

Das klingt gefährlich selbst­zufrieden. Wollen Sie auch etwas verändern, verbessern – oder sind wir bereits so gut, dass blosses Verwalten genügt?
So ist es nicht. Tatsächlich ist Selbst­zufriedenheit eine Gefahr. Und es wäre ein erhebliches Risiko, alles so zu belassen, wie es ist – wir würden schnell abgehängt. Wir brauchen nur nach China, in die USA oder auch in unsere Nachbar­länder Frankreich und Deutschland zu schauen, wo Unsummen in Forschung und Entwicklung investiert werden, um die Heraus­forderungen der Digitalisierung zu meistern. Wir müssen hier ebenfalls fitter werden.

Das heisst?
Wir brauchen genügend Mittel, müssen jedoch auch verstärkt Synergien nutzen, um im inter­nationalen Wettbewerb kompetitiv zu bleiben.

Kämpfen Sie für mehr Geld?
Das Wort «kämpfen» gefällt mir nicht. Ich verstehe meine Aufgabe eher so, dass ich als Über­setzerin zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft tätig bin. Ich vermittle zwischen den unter­schiedlichen Interessen.

Anders gefragt: Soll die Schweiz mehr Geld in die Bildung investieren, gleich viel wie bisher – oder ginge es auch mit weniger?
Der Bund hat den Bereich Bildung, Forschung und Innovation bisher immer prioritär behandelt. Das muss so bleiben. Was bedeutet: Es braucht dafür auch in Zukunft viel Geld im Rahmen einer stabilen Finanzierung.

Jüngst wurde gekürzt: 2018 erhielten die ETH Zürich und die Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) 37 Millionen Franken weniger als im Jahr zuvor. Werden die beiden Vorzeige­universitäten in Zukunft weiter sparen müssen?
Das hängt nicht zuletzt von der Konjunktur ab. Wichtig ist mir, dass nicht nur die ETH Zürich und die EPFL, sondern auch andere Bereiche wie die Berufs­bildung ausreichend finanziert sind. Es stört mich, wenn der akademische und der berufs­bildende Karriere­weg nicht als gleich­wertig erachtet werden. Beide sind wichtige Pfeiler des Schweizer Erfolgsmodells.

Und wenn die Politik weiter sparen will?
Dann gilt es umso mehr, Synergien zu nutzen und Schwer­punkte zu setzen. Ab September bieten die ETH Zürich und die EPFL zum Beispiel einen gemeinsamen Master­studiengang in Cyber­security an, das Abschluss­zeugnis wird die Logos beider Hoch­schulen tragen. Das ist eine gute Sache.

Klingt gut, Tatsache ist aber: Die ETH Zürich und die EPFL konkurrenzieren sich seit Jahren und führen teilweise fast schon einen Kleinkrieg.
Es gab Misstöne, das stimmt. Deshalb gilt es, eine bessere Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation zu finden. Joël Mesot und Martin Vetterli, die Präsidenten der ETH Zürich und der EPFL, werden künftig enger zusammen­arbeiten, davon bin ich überzeugt. Doppel­spurigkeiten sind nicht sinnvoll.

Die ETH Zürich macht seit geraumer Zeit vor allem mit internen Problemen Schlag­zeilen. Was sagen Sie als oberste Bildungs­verantwortliche unter Bundesrat Guy Parmelin zum blamablen Bild, das die international renommierte Hochschule derzeit abgibt?
Die ETH-Leitung hat in den vergangenen Jahren Fehler gemacht. Dafür hat sich der neue Präsident Joël Mesot im März entschuldigt. Mesot weiss, dass er die Führungs­kultur an der Hochschule verbessern muss, und hat ja auch bereits Massnahmen angekündigt oder eingeleitet.

Zum Beispiel bei der Mehrfach­betreuung von Doktoranden?
Die EPFL hat die Mehrfach­betreuung bereits 2003 eingeführt und sich damit wohl einige Probleme erspart. An der ETH gibt es schon seit geraumer Zeit mehrere Departemente mit Mehrfach­betreuung von Doktorierenden. Dass sie dieses System bis 2020 auf sämtliche Departemente ausweitet, begrüsse ich. Wenn Doktorandinnen und Doktoranden nicht nur einer Professorin oder einem Professor unterstellt sind, sinkt das Risiko von Machtmissbrauch.

Demnächst wird der ETH-Rat bekannt geben, ob erstmals überhaupt in der Geschichte der ETH eine Professorin entlassen wird. Ihr wird Mobbing vorgeworfen. Zum «Fall Carollo» wollen Sie sich inhaltlich nicht äussern. Wie bewerten Sie die Vorgänge an der ETH grundsätzlich?
Machtmissbrauch darf unter keinen Umständen toleriert werden, an der ETH genauso wenig wie an jeder anderen Universität. Die Verantwortlichen haben jedoch auch penibel zwischen blossen Gerüchten und erwiesenen Tatsachen zu unterscheiden. Das heisst: Vorwürfe müssen ernst genommen und sorgfältig geprüft werden, eine Vorverurteilung darf aber nicht passieren. Die Unschulds­vermutung muss auch an Hochschulen uneingeschränkt gelten.

Warum haben sich weder Sie noch Bildungs­minister Guy Parmelin in den letzten Monaten jemals öffentlich zu den Unruhen an der ETH geäussert?
Weil die ETH-Führung die Probleme von sich aus erkannt hat. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass sowohl Bundesrat Parmelin als auch ich mit den verantwortlichen Akteuren des ETH-Bereichs in engem Kontakt stehen.

Handelt es sich bei den internen Problemen der ETH aus Ihrer Sicht bloss um Einzelfälle – oder erkennen Sie Schwächen im System?
Das kann ich aus der Ferne zu wenig beurteilen. Klar ist für mich: Wenn systemische Mängel zum Vorschein kommen, müssen sie schnellst­möglich behoben werden. Wie erwähnt hat die ETH-Leitung um Präsident Mesot solche Mängel erkannt und bereits damit begonnen, sie zu beheben. Neben der Mehrfach­betreuung von Doktorierenden sind weitere Massnahmen zu erwähnen: Die ETH-Schul­leitung wird demnächst um zwei Mitglieder ergänzt, unter anderem für das Themen­gebiet «Leadership und Personal­entwicklung»; zudem sollen neue und bereits angestellte Professorinnen und Professoren bei der Stärkung ihrer Führungs­kompetenz unterstützt werden.

Zusätzlich untersucht die Eidgenössische Finanz­kontrolle die Vergabe von Mitteln an der Hochschule, nachdem die international bekannte Physik­professorin Ursula Keller in der Republik schwere Vorwürfe gegen die ETH vorgebracht hatte. Was erwarten Sie von dieser Untersuchung?
Dass diese schweren Vorwürfe sorgfältig und seriös geprüft werden.

Die Frage ist, warum sich eine renommierte Professorin für den Gang an die Öffentlichkeit entschieden hat. Ist die ETH-Aufsicht, in der auch die Präsidenten von ETH und EPFL sitzen, unabhängig genug, um Probleme auch wirklich anzugehen?
Ja, die Aufsicht hat sich bewährt. Allerdings sind wir gegen­wärtig daran, das ETH-Gesetz zu überarbeiten. Unter anderem wollen wir, dass der ETH- und der EPFL-Präsident künftig bei Entscheidungen, die ihre Hochschule betreffen, von Gesetzes wegen in den Ausstand treten müssen.

Alles andere widerspricht Good-Governance-Kriterien ja auch diametral. Warum um alles in der Welt gab es bisher keine solchen Ausstandsregeln?
Das weiss ich ehrlich gesagt auch nicht. Jedenfalls entspricht die neu vorgeschlagene Regelung der heute gelebten Praxis.

Professorin Keller prangerte im Interview nicht nur Führungs­versagen und intransparente Mittel­vergaben an, sondern auch Sexismus. Hat die ETH ein Gender-Problem?
Die von der ETH eingeleitete externe Untersuchung wird hoffentlich ans Licht bringen, ob Frauen tatsächlich systematisch benachteiligt werden. Trifft dies zu, müssen Massnahmen getroffen werden – Sexismus dulde ich nicht. So oder so machte Ursula Keller auf ein wichtiges Thema aufmerksam: den in gewissen Fach­bereichen bereits bei den Studierenden erschreckend tiefen Frauenanteil.

Wie kann dieser Anteil erhöht werden?
Der Bund hat in den vergangenen Jahren mehrere Initiativen angestossen, um Mädchen und junge Frauen vermehrt für Mathematik, Informatik, Natur­wissenschaft und Technik zu begeistern. Nur wenn es gelingt, das Geschlechter­verhältnis bei den Studierenden in diesen Bereichen auszugleichen oder wenigstens markant zu verbessern, werden wir dereinst dort auch mehr Professorinnen rekrutieren können. Zugegeben: Das ist noch ein weiter Weg.

Müssten sich Politik und Verwaltung stärker ins Zeug legen?
Wir tun schon viel. Es ist ja auch nicht so, dass wir beim Bund einfach eine Verordnung schreiben können, und schon wendet sich alles zum Guten.

Deshalb nochmals und konkret: Wer muss was tun, um den Frauen­anteil in natur­wissenschaftlichen und technischen Bereichen zu erhöhen?
Studien belegen, dass die Begeisterung geweckt werden muss, bevor die Kinder in die Pubertät kommen. In der Verantwortung stehen deshalb neben den Eltern auch die Volksschulen – und damit indirekt die Pädagogischen Hochschulen. Sie könnten für die Stufen Kinder­garten und Primar­schule noch vermehrt Vorschläge für eindrückliche Experimente, technische Projekt­wochen und spannenden Informatik­unterricht unterbreiten.

Als Sie im vergangenen Spätsommer als neue Staats­sekretärin vorgestellt wurden, sagte der damalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Sie seien «die richtige Person, um Mädchen verstärkt für Natur­wissenschaft und Technik zu interessieren». Messen Sie sich an diesem Ziel?
Ich werde mich daran nicht messen, weil ich nur sehr indirekt Einfluss nehmen kann. Entscheidend sind Vorbilder: Je mehr Frauen in natur­wissenschaftlichen und technischen Berufen tätig sind und Führungs­aufgaben in der Forschung übernehmen, desto einfacher wird es werden.

Sie waren selbst ETH-Doktorandin. Wie haben Sie diese Zeit erlebt – und waren Sie je von Sexismus betroffen?
Persönlich habe ich nie Sexismus erlebt, weder an der ETH noch an anderen Forschungs­institutionen. Ich wurde gefordert und gefördert. Und konnte mich so während meines gesamten Doktorats hervorragend entwickeln.

Mussten Sie viel arbeiten, vielleicht sogar zu viel?
Wissen Sie: Ich bearbeitete ein Thema, das ich extrem spannend fand, und war wahnsinnig interessiert, meine Forschungs­fragen zu beantworten. Ich arbeitete gerne sehr viel.

Doktorandinnen und Postdocs beschwerten sich im Fall der mit Mobbing­vorwürfen konfrontierten Astronomie-Professorin Marcella Carollo unter anderem darüber, dass ihre Betreuerin ständige Erreichbarkeit und Wochenend­arbeit erwartet habe – die Professorin bestreitet dies. Grundsätzlich gefragt: Ist ein ETH-Doktorat überhaupt kompatibel mit dem Schweizer Arbeitsgesetz?
Wer in die Wissenschaft will, sollte für seine Frage­stellung brennen und sich bewusst sein, was es heisst, im internationalen Wettbewerb bestehen zu müssen. An einer Elite­universität wie der ETH zu promovieren, ist anstrengend und geht mit Entbehrungen einher, die nicht alle auf sich nehmen möchten. Das ist kein Beinbruch. In der Schweiz wird niemand zu einer wissenschaftlichen Karriere gezwungen, muss niemand doktorieren. Auch ohne Doktorat sind Absolventinnen und Absolventen unserer Hochschulen stark nachgefragt auf dem Arbeitsmarkt.

Dann ist es kein Unglück, wenn ein Doktorat ausgesprochen hart ist?
Nein. Während eines Doktorats wechseln sich intensivere und ruhigere Phasen genauso ab wie Erfolge und Rückschläge. Das ist völlig normal.

Sie sind derzeit auf der Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger für den zurück­getretenen ETH-Ratspräsidenten Fritz Schiesser. Welche Anforderungen muss die neue Führungs­kraft erfüllen?
Gesucht wird ein Universalgenie. (lacht) Im Ernst: Den ETH-Rat zu präsidieren, ist eine sehr heraus­fordernde Aufgabe. Wer sie übernehmen will, muss in Wissenschafts­kreisen genauso glaubwürdig sein wie in der Politik und in beiden Bereichen gut vernetzt. Man muss ein Gespür dafür haben, wie das politische Umfeld tickt. Entscheidend ist letztlich aber, dass wir eine integre, kommunikativ begabte Persönlichkeit finden.

Kommen wir auf ein Thema zu sprechen, das Ihnen Sorgen bereitet: das ungeklärte Verhältnis der Schweiz zur EU. Nach dem Ja zur Massen­einwanderungs­initiative erlebte die Schweiz 2014 bereits einmal, was es bedeutet, wenn sie von europäischen Forschungs­rahmenprogrammen ausgeschlossen wird. Wie wirkte sich das aus?
Unsere letzte Zwischenbilanz zum 8. Forschungs­rahmen­programm «Horizon 2020» zeigte einen im Vergleich zum Start in das 7. Programm massiven Rückgang der Schweizer Beteiligung – sowohl in Bezug auf die Zahl der Projekt­beteiligungen und Projekt­koordinationen als auch in Bezug auf die Höhe der eingeworbenen Beiträge. Berechnen wir dies über das gesamte Programm 2014 bis 2020 hinweg, ergibt sich eine prognostizierte Differenz von über 700 Millionen Franken.

Warum fürchten Sie jetzt wieder um die Schweizer Beteiligung am Nachfolge­programm «Horizon Europe» für den Zeitraum 2021 bis 2027?
Die seit Anfang 2017 geltende Schweizer Vollassoziierung ans «Horizon»-Programm läuft mit dem Ende dieses Programms 2020 aus. Die Teilnahme an «Horizon Europe» muss bald neu verhandelt werden. Bisher hat die EU die Bedingungen für die weitere Assoziierung nicht verabschiedet. Sobald die EU den Rahmen abgesteckt hat, werden wir vom Bundesrat ein offizielles Verhandlungs­mandat erhalten. Das Risiko besteht, dass die EU «Horizon Europe» mit dem institutionellen Rahmen­abkommen verknüpft.

Obwohl die Forschungs­zusammenarbeit in den Bilateralen I geregelt ist?
Rechtlich gibt es tatsächlich keine Verbindung. Doch es besteht die Gefahr, dass die EU-Kommission einen politischen Link machen wird, um den Druck auf die Schweiz zu erhöhen. Wir betonen in den Gesprächen mit der EU stets, dass die Schweiz in der Lage und willens ist, einen wichtigen Beitrag zu leisten, um den europäischen Forschungs- und Innovations­raum zu stärken. Grundsätzlich anerkennt dies die EU. Wir werden uns ins Zeug legen, damit dies so bleibt.

Verraten Sie uns zum Schluss noch, wie gut Ihre Zusammen­arbeit mit Bundesrat Guy Parmelin klappt?
Die klappt ausgezeichnet.

Im Ernst? Es ist doch ein offenes Geheimnis, dass er vor allem Wirtschafts- und Landwirtschafts­minister werden wollte und sich weniger für Bildung interessiert als sein Vorgänger Schneider-Ammann.
Ich teile Ihre Einschätzung nicht: Bundesrat Guy Parmelin beschäftigt sich intensiv mit Themen der Bildung, Forschung und Innovation. Er hat in den ersten Monaten viel Material von uns zu lesen erhalten …

... das er auch liest?
Ja, alles. Und er hat gute, nein: sehr gute Fragen gestellt. Bundesrat Parmelin bringt sich konstruktiv und engagiert ein. Und er ist bei jeder Sitzung gut vorbereitet.

Sie wollen uns weismachen, dass der Eindruck täuscht, wonach Parmelin in erster Linie ein engagierter Bundesrat für die Bauern ist?
Ja, der täuscht völlig.

Zur Person

38 Männer und 10 Frauen bewarben sich vor rund einem Jahr für das Amt des Staats­sekretärs für Bildung, Forschung und Innovation – das Rennen machte Martina Hirayama. Seit Anfang 2019 ist sie die Chefin von rund 280 Mitarbeitern und verwaltet ein Jahres­budget von rund 4,5 Milliarden Franken. Wer ist die 48-Jährige, die in der Öffentlichkeit nach wie vor erstaunlich unbekannt ist? Geboren wurde Hirayama in Deutschland, ihre akademische Laufbahn aber startete sie in der Schweiz: Sie studierte Chemie an der Universität Fribourg, der ETH Zürich und dem Imperial College London, bevor sie am ETH-Institut für Polymere promovierte und ein Start-up für Beschichtungs­technologien gründete. Später absolvierte sie – ebenfalls an der ETH Zürich – ein Nachdiplom­studium in Betriebs­wissenschaften. 2002 zog sie mit ihrem Ehemann, von dem der japanische Nachname stammt, und den zwei Kindern in den Kanton Thurgau, sieben Jahre später wurde die Familie eingebürgert. Ab 2011 war Hirayama als Direktorin an der School of Engineering der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig, an der sie ab 2014 auch die Leitung des Ressorts Internationales übernahm. Zudem war sie Präsidentin des Institutsrats des Eidgenössischen Instituts für Metrologie, Verwaltungsrats­vizepräsidentin der Förder­agentur Innosuisse und Stiftungsrätin des Schweizerischen Nationalfonds.

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