Was zerstört die Demokratie?
Eine aktuelle Berliner Ausstellung behandelt das Ringen um Demokratie zwischen den Weltkriegen. Im Zentrum steht das Werk des Staatsrechtlers Hans Kelsen. Es wirft ein Schlaglicht auf die Gegenwart.
Von Tamara Ehs, 22.06.2019
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Am Anfang steht der Relativismus. Die erste Wandtafel der aktuellen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin zitiert aus der Schrift «Vom Wesen und Wert der Demokratie» (1920) des österreichischen Staatsrechtlers Hans Kelsen – der Abhandlung, die titelgebend ist für diese Schau über die Weimarer Republik. Kelsen war ein lebenslanger und kompromissloser Kämpfer für Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte. In diesem richtungsgebenden Text erhebt er jedoch den Werterelativismus zur Grundlage der Demokratie.
Im religiösen Glauben oder in der Moral möge es für jeden von uns zwar absolute Gewissheiten geben, sagt Kelsen – doch wissenschaftlich begründen könne man solche Wertevorstellungen nicht: «Wer aber absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muss nicht nur die eigene, muss auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt», heisst es abermals in der «Allgemeinen Staatslehre».
Kelsen wiederholt diesen Grundsatz noch in zahlreichen weiteren Schriften, so etwa in «Was ist Gerechtigkeit?» aus dem Jahr 1953. In der Zwischenzeit hatten Faschismus und Rassismus nicht nur die Weimarer und die Erste Republik Österreich, an deren rechtsstaatlichem Aufbau Kelsen massgeblich beteiligt gewesen war, zerstört, sondern ihn, den erst zum Katholizismus und dann zum Protestantismus konvertierten Sohn Prager Juden, zum Vertriebenen gemacht.
Doch kann Werterelativismus eine verbindliche Basis für den liberalen Verfassungsstaat, ja für demokratische Politik sein? Ist das nicht ein offensichtlicher Widerspruch? Im Gegenteil: Es ist der zentrale Gedanke von Kelsens Demokratietheorie, die heute wieder so aktuell ist wie vielleicht noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.
Aus Kelsens Sicht lag die Hauptschuld für das Straucheln der jungen demokratischen Republiken in der Zwischenkriegszeit an der Kompromisslosigkeit der politischen Parteien und an ihrem Unwillen zur Kooperation. Der Kompromiss sei aber das Wesen der Demokratie. «Die Demokratie ist die politische Form des sozialen Friedens, des Ausgleichs der Gegensätze, der gegenseitigen Verständigung auf der mittleren Linie», hielt er der sozialistischen Seite 1932 in seiner «Verteidigung der Demokratie» entgegen. Die Rechtsautoritären wiederum erinnerte er daran, dass soziale und geistige Vielfalt, also Pluralismus, nun mal die Realität sei und dass keine Führerfigur jemals im Besitz der absoluten Wahrheit sei. Mit Blick auf die bürgerliche Elite, die meinte, sie könne sich mit Hitler die Linken vom Leib halten, hielt er fest: «Die Intellektuellen, die heute gegen die Demokratie kämpfen und damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen, sie werden die Diktatur, die sie rufen, wenn sie erst unter ihr leben müssen, verfluchen, und nichts mehr ersehnen als die Rückkehr zu der von ihnen so verlästerten Demokratie.»
Wie Demokratien sterben
In Kelsens feinsinnigen Beobachtungen zur Weimarer Republik und zur Ersten Republik Österreich findet man bereits zahlreiche analytische Ansätze, die in den Siebzigerjahren auch Juan Linz in «The Breakdown of Democratic Regimes» oder aktuell Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in «Wie Demokratien sterben» benutzen: Es sind nicht Wirtschaftskrisen oder «fremde Mächte», sondern gewählte Politiker, Präsidenten und Premierminister, welche die demokratischen Prozesse, die sie an die Macht gebracht haben, unterminieren und die Demokratie zerstören. Denn Demokratie bedeutet mehr als die blosse Formalität, Wahlen abzuhalten. Sie hat notwendig eine rechtsstaatliche, liberale, zivilgesellschaftliche, ja soziale Dimension. Und sie ist menschlich voraussetzungsreich, weil sie selbstkritische, umsichtig handelnde, auf Verständigung ausgerichtete Akteure benötigt, die das «gute Gespräch» suchen. In Kelsens 1937 in der «Neuen Zürcher Zeitung» geäusserten Worten: «Diese Art von [demokratie-kompatibler] Persönlichkeit erkennt sich selbst im andern wieder, erlebt den anderen a priori nicht als etwas Wesensfremdes, nicht als Feind, sondern als gleich und daher als Freund, erlebt sein Ich nicht als etwas Einzigartiges, schlechthin Unvergleichliches und Unwiederholbares.»
Kelsen widerspricht damit dem in den Dreissigerjahren immer lauter ertönenden Ruf nach dem «Tatmenschen» und dem Freund-Feind-Schema eines Carl Schmitt. Schmitts Wertabsolutismus, so Kelsen, sei ein Merkmal von Diktaturen.
Wenn er schon 1913 eine Schrift über «Politische Weltanschauung und Erziehung» veröffentlicht und in «Vom Wesen und Wert der Demokratie» betont: «Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Hauptforderungen der Demokratie selbst», dann richtet Kelsen sich damit nicht nur an die Bürger und die Zivilgesellschaft, die zur Demokratie angeleitet werden müsse, sondern insbesondere auch an die politischen Verantwortungsträger. Gerade die parlamentarische Demokratie beruht auf der Anerkennung des politischen Gegners als legitimer Mitbewerber, nicht auf seiner Diskreditierung als Todfeind. Ziblatt und Levitsky sprechen hundert Jahre später von zum Überleben der Demokratie notwendigen «gemeinsame[n] Verhaltenskodizes», nach denen «politische Gegner keine Feinde sind». Die wichtigste Verhaltensregel laute deshalb: «Man stelle sich die Demokratie als ein Spiel vor, das man endlos spielen will.»
Schutz der Minderheit statt Recht des Stärkeren
Da ohne Mitspieler das Spiel zu Ende wäre, muss in der Demokratie der Unterlegene, also die parlamentarische Minderheit, geschützt und somit gewährleistet werden, dass ihr Minderheitenstatus womöglich nur vorläufig ist: «Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, dass sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt», sagt Kelsen in «Vom Wesen und Wert der Demokratie» und fast wortgleich in vielen weiteren Schriften.
Das demokratische System ist demnach von chronischer Vorläufigkeit gekennzeichnet, und Demokratie definiert sich primär durch das Verfahren der Willenserzeugung in der sozialen Ordnung. Aus diesem Verfahren – und nur aus diesem – ergeben sich allerdings auch die politischen Werte, die zwingend die Grundlage einer echten Demokratie bilden müssen: Individualrechte, politische Rechte, Minderheitenrechte, Menschenrechte. Den Spielregelkatalog des Verfahrens stellt die Verfassung dar; ihr Schiedsrichter und somit Hüter der Verfassung ist das Verfassungsgericht. Die «Zwangsordnung darf nur so beschaffen sein, dass auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann. Das ist der eigentliche Sinn jenes politischen Systems, das wir Demokratie nennen und das nur darum dem politischen Absolutismus entgegengestellt werden darf, weil es der Ausdruck eines politischen Relativismus ist» («Allgemeine Staatslehre», 1925).
Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüterin der Regeleinhaltung und insbesondere als Beschützerin der Minderheit war für Kelsen «ein besonders geeignetes Mittel, diese Idee zu verwirklichen» («Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit», 1929). Vor allem die Minderheit benötigt Schutz und Regelkonformität – schlicht: Rechtsstaatlichkeit. Dass nicht das Recht des Stärkeren, sondern das in langwierigen parlamentarischen Aushandlungsprozessen zwischen Vertretern verschiedenster Weltanschauungen als Kompromiss erzielte Recht gilt, ist jedoch eine noch junge zivilisatorische Errungenschaft. Nicht wenigen galt sie in der Zwischenkriegszeit als Schwäche.
Für Kelsen jedoch war die Entscheidung für oder wider den Parlamentarismus die eigentliche Entscheidung über die Demokratie selbst. Er lehnte sogar ein präsidiales Regierungssystem strikt ab und sah etwa im österreichischen Bundespräsidenten oder im Weimarer Reichspräsidenten nur den Rest der monarchischen Ideologie wirken, also einen Ersatzkaiser: «Von einem streng demokratischen Standpunkt aus ist für ein solches Organ überhaupt kein Platz, ja die Vorstellung einer von einem Einzelmenschen dargestellten Spitze des Staates im Widerspruch zur Idee der Volksherrschaft», formulierte er in der «Allgemeinen Staatslehre» knapp. In der von Kelsen geprägten Verfassung der Ersten Republik Österreich von 1920 war das Präsidialamt daher bloss auf repräsentative Funktionen beschränkt und der Präsident ausserdem nicht vom Volk direkt gewählt. Erst die Novelle – also das Änderungsgesetz – von 1929 unter der laut Kelsen «schon damals faschistischen Regierung» stärkte das Amt und schuf die Voraussetzungen für eine Machtverschiebung vom Parlament zum Bundespräsidenten.
Autoritäre lieben Krisen
Die Weimarer Verfassung wies dem Reichspräsidenten von Beginn an eine überlegene Stellung zu. Ausgestattet mit der Möglichkeit zur Reichstagsauflösung und den weitreichenden Bestimmungen des Artikels 48 (Notverordnungsrecht), machten die Amtsinhaber davon auch umfänglich Gebrauch. Wie Ursula Büttner in «Weimar. Die überforderte Republik» (2008) darlegte, trug gerade die Ausgestaltung des Amts «als Reserveorgan für den Fall des Versagens der anderen demokratischen Institutionen […] dazu bei, dass der Parlamentarismus im Reich schlecht funktionierte, weil sich die Parteien im Vertrauen auf das helfende Eingreifen des Reichspräsidenten immer wieder der Regierungsverantwortung entzogen».
Der erste Reichspräsident, Friedrich Ebert, wies tatsächlich die von Kelsen beschriebenen Charakterzüge auf, die notwendig sind, um ein solches Amt nicht parteipolitisch oder autoritär zu missbrauchen. Ebert erliess bis zu seinem Tod Anfang 1925 zwar insgesamt 136 Notverordnungen, tat dies aber – wie 1948 von Clinton Rossiter in «Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies» beschrieben – vor allem in demokratiepolitischer Absicht und zur Stabilisierung des Systems. Er nutzte die von der Verfassung für schwierige Zeiten bereitgestellten Instrumente demnach, um sie zu retten, nicht um sie zu verbiegen. Spätestens ab 1930 jedoch, als die Konjunkturkrise mit harten sozialpolitischen Einsparungsmassnahmen beantwortet wurde und als diese Politik der NSDAP zum Aufstieg verhalf, änderte sich die Amtsauffassung des Staatsoberhaupts: Reichspräsident Paul von Hindenburg und nach ihm Adolf Hitler missbrauchten die Notstandsbestimmungen der Verfassung, um die Verfassungswirklichkeit grundlegend zu verändern.
Gerade in der Krise müssen politische Verantwortungsträger jedoch mit Bedacht handeln und «ihre institutionellen Rechte nicht voll ausschöpfen», wie Ziblatt und Levitsky auch für die Gegenwart zu bedenken geben. Leider kann auch das exakte Gegenteil geschehen: «Einem Demagogen, der sich von Kritikern umzingelt und von demokratischen Institutionen gefesselt fühlt, bieten Krisen eine Gelegenheit, Kritiker zum Schweigen zu bringen und Rivalen zu schwächen.»
Eine solche «Gelegenheit» hatte sich zu jener Zeit in Deutschland ebenso wie in Österreich eröffnet. Auch dort wurde sie von den autoritären Kräften bereitwillig ergriffen. Beiderorts hatte die bürgerliche Elite alles darangesetzt, die Sozialdemokraten von der Regierungsbeteiligung auszuschliessen, um keine Kompromisse eingehen zu müssen. Wurde in der Weimarer Republik die NSDAP in die Regierungsverantwortung geholt, um den Staat umzubauen, so übten sich in der Ersten Republik Österreich die konservativen Parteien in Selbstfaschisierung. Zwar verboten sie die NSDAP, aber nur, um mit der Parole des «Überhitlerns» selbst autoritär zu regieren, das Land in einen Bürgerkrieg zu führen und letztlich dem Anschluss an Nazi-Deutschland den Boden zu bereiten.
Staatsstreich in Zeitlupe
Die Erste Republik Österreich und die Weimarer Republik sind nicht an Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Armut zugrunde gegangen, sondern wurden von den Gegnern des Parlamentarismus zur Strecke gebracht. Die Totengräber waren nicht in erster Linie die Wählerinnen und Wähler, sondern die rechtskonservativen Eliten, welche sich der Massenunterstützung durch die Nationalsozialisten bedienten, um ihrem faktischen Staatsstreich – dem Umbau der parlamentarischen, sozialpolitisch geprägten Demokratie zur autoritären Präsidialrepublik – Legitimität zu verschaffen. Der Grund für ihre ablehnende Haltung gegenüber dem republikanischen Parlamentarismus lag darin, dass der Erste Weltkrieg und die Revolution die Gewichte verschoben hatten.
Die politische und soziale Privilegierung der alten Eliten war vorbei. Das parlamentarische Verhalten der Parteienvertreter war wenig integrierend, nicht auf Kompromiss und sozialen Frieden, sondern auf Konfrontation ausgerichtet. Die Mitwirkung der unteren Schichten, die Ausweitung der Staatsaufgaben und die Aussicht auf eine «Diktatur des Proletariats» sorgten nicht nur im Bürgertum und in Teilen der Bauernschaft für Ablehnung, sondern die sozialen und psychischen Auswirkungen der Hyperinflation verbreiteten ein generelles Gefühl der Unsicherheit und des Ressentiments. So wurden die Rechtswendung der Gesellschaft und der Aufstieg der NSDAP in erster Linie von der Schwächung der Mittelschicht vorangetrieben, die sich nicht mehr repräsentiert fühlte. Sie eröffnete den politischen Raum für den autoritären Tatmenschen schmittschen Zuschnitts, der dem Ruf nach einem «starken Mann» gerecht werden konnte.
Wie damals sind auch heute wieder Prestigeverlust, Abstiegsangst und ein rasend schneller gesellschaftlicher Wandel die eigentlichen Treiber für den Aufstieg der Rechtsautoritären. Die Stabilität der Demokratie hängt eben auch von ihrer Leistungsfähigkeit ab, soziale Sicherheit zu organisieren und den gesellschaftlichen Wandel zu moderieren. Abermals sind die Parteien der gesellschaftlichen Mitte – und aufgrund der historischen Erfahrung allen voran die konservativen Parteien – gefordert, als gatekeeper gegenüber den Rechtsextremen und Autoritären zu fungieren: sie nicht in Koalitionen zu holen, ihnen nicht die Verantwortung für Staatsämter zu übertragen, nicht dadurch zu deren Aushöhlung beizutragen.
Es ist das Ziel des Rechtspopulismus, die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats und damit die Demokratie an sich zu untergraben. Am deutlichsten lässt sich dies heute an den Anfeindungen der Verfassungsgerichte beobachten. Ob wir nach Ungarn, Polen, Rumänien oder in die Türkei blicken oder die Reden von AfD- und FPÖ-Politikern beim Wort nehmen: Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird immer als Störfaktor angesehen. Ihre Rolle als Kontrollorgan der Rechtsstaatlichkeit hat in der autoritären Politikvorstellung keinen Platz.
Kelsen hingegen hat gerade die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Institutionengefüge immer wieder herausgestrichen. In seiner Autobiografie bezeichnet er den österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH), an dem er ein Jahrzehnt lang als Richter tätig war, als sein «persönlichstes Werk». Als die bereits angesprochene Verfassungsnovelle von 1929 nicht nur die Machtverschiebung von Parlament zu Regierung und Bundespräsident einleitete, sondern durch eine «Umpolitisierung» der Richterschaft sich auch der lästigen Kontrollfunktion des VfGH entledigen wollte, bezeichnete Kelsen diesen Vorgang rückblickend als «Beginn einer politischen Entwicklung, die unweigerlich zum Faschismus führen musste» («the beginning of a political evolution which inevitably had to lead to Fascism», «Judicial Review of Legislation», 1942).
Die Fiktion des Volkswillens
Und heute? Aufgrund der Faschismuserfahrung setzte die Bundesrepublik Deutschland 1948 bewusst auf eine «selbstdisziplinierte» Demokratie auf der Basis eines starken Bundesverfassungsgerichts. Die jungen Demokratien nach 1989 folgten diesem Beispiel. Ungarn kopierte und überbot gar die deutsche Bundesverfassungsgerichtsbarkeit, sodass das ungarische Verfassungsgericht in den 1990er-Jahren wohl das mächtigste der Welt war, wie Jan-Werner Müller in «Wo Europa endet» (2013) darlegte.
Eine solche Institution steht autoritären Populisten natürlich im Wege, weshalb sie alles unternehmen, um sie dem eigenen politischen Willen zu unterwerfen – einem politischen Willen, der wie schon in den 1930er-Jahren mit dem «Volkswillen» gleich- und absolut gesetzt wird. Mit der Anrufung des «Volks» wird an die direkte Demokratie appelliert, während das auf Kompromisssuche ausgerichtete Parlament als «Quatschbude» verhöhnt wird. Damals wie heute findet sich keine rechtspopulistische Führerfigur, die nicht der Demokratie – und sei es auch nur als «illiberale Demokratie» gefasst – das Wort reden würde. Allerdings hat Hermann Heller bereits 1930 in «Rechtsstaat oder Diktatur?» beobachtet, dass dahinter der Wille steht, «die Demokratie mit der Demokratie zu überwinden, sie immer wieder mit Worten zu bejahen und dem tatsächlichen Inhalt nach zu vernichten». Die Verwendung von Referenden durch Populisten und Autoritäre ist kein Bekenntnis zur Demokratie, sondern bloss der Wunsch, vom Volk ein imperatives Mandat zu erhalten. Es geht nicht darum, einen offenen Diskussionsprozess unter den Wählern auszulösen, im Gegenteil: Die Bürger sollen «bitte schön bestätigen, was die Populisten immer bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben».
Nach Kelsen ist der «Volkswille» aber eine blosse Fiktion, ja «an und für sich im höchsten Grade problematisch». Das Staatsvolk könne aufgrund der in modernen Gesellschaften bestehenden Realität sozialer und geistiger Vielfalt gar nicht einen einheitlichen Willen bilden und diesen dann artikulieren, sondern müsse sich darauf beschränken, durch Wahlen «den eigentlichen Apparat der Staatswillensbildung zu kreieren und zu kontrollieren», schreibt er in «Vom Wesen und Wert der Demokratie». Dieses Volk, auf das sich Rechtsautoritäre gerne berufen, um an eine vorpolitische Gemeinschaft zu appellieren, existiert im modernen pluralistischen Staat gemäss Kelsen gar nicht. Er rät seinen Lesern der «Allgemeinen Staatslehre» deshalb, «sich von der üblichen Vorstellung [zu] emanzipieren, derzufolge das Staatsvolk ein räumliches Zusammensein, ein seelisch-körperliches Konglomerat und als solches eine unabhängig von aller Rechtsordnung existente Einheit einer Vielheit von Menschen ist».
Für ihn als Rechtswissenschaftler ist «das Volk» nicht mehr als eine Rechtsgemeinschaft, das heisst ein juristischer Tatbestand. Das kommt auch in der «General Theory of Law and State» von 1945 zum Ausdruck: «Wenn ein Gebiet von einem Staat zu einem anderen transferiert wird, werden die Einwohner, die Staatsangehörige des Staates sind, der das Gebiet verloren hat und sich in diesem Gebiet aufhalten, ipso facto Staatsangehörige des Staates, der das Gebiet bekommt. Gleichzeitig verlieren sie ihre frühere Staatsangehörigkeit.» («When a territory is transferred from one State to another, the inhabitants who are nationals of the State which has lost the territory and remain in this territory become ipso facto nationals of the State which acquires the territory. At the same time they lose their former nationality.») Zu welchem Volk man gehört, hängt also nur vom Ort ab, dessen Rechtsordnung man – bei mehr als bloss vorübergehendem Aufenthalt – untersteht.
Diese funktionale Definition von «Volk» und damit von Demokratie war damals radikal modern und ist es noch immer. Heute schlägt sie sich unter anderem im Bemühen nieder, die demokratische Mitsprache vom Staatsbürgerschaftsrecht zu entkoppeln und Ausländern das Wahlrecht zu erteilen. Angesichts von globaler Mobilität und in vielen Bereichen entnationalisierter Politik bilden Staatsbürger und Wohnbevölkerung weniger denn je ein homogenes Volk. Was uns trotz unterschiedlichster Religionen, Weltanschauungen, Hautfarben und Sprachen verbindet, ist allein die gemeinsame Normunterworfenheit. Das oberste Gebot der Demokratie besteht nun darin, auf unverbrüchlicher rechtsstaatlicher Basis diese Unterworfenheit aktiv mitgestalten zu dürfen.
Das Deutsche Historische Museum zeigt noch bis zum 22. September die Ausstellung «Weimar: Vom Wesen und Wert der Demokratie».
Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs ist Vorsitzende der IG Demokratie und leitet aktuell ein Forschungsprojekt an der Universität Wien. Sie hat zahlreiche Schriften zu Politik und Rechtsstaatlichkeit sowie zum Werk von Hans Kelsen publiziert.