Männer, hört die Signale!

Vor einer Woche gingen Hundert­tausende Frauen auf die Strasse. Was heisst das für uns Männer?

Von Elia Blülle, 21.06.2019

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Wehe, wenn das alles Männer wären ... Nick Lobeck

In Kasten­wagen schwitzen Sonder­einheiten vor sich hin. Sie spielen Games auf ihren Smart­phones. Manche Stadt­polizisten streifen mit angesteckten Blumen durch die Massen. 160’000 Demonstrantinnen allein in Zürich, fast keine gewaltsamen Zwischenfälle. Der Frauen­streik war ein grosses, friedliches Fest.

Wagen wir ein Gedanken­experiment: Was geschähe, wenn statt der Frauen Männer so zahlreich durch die Stadt ziehen würden?

Langweilen würden sich die Sicherheits­kräfte nicht. Bereits nach den ersten Metern würden Steine und Fäuste fliegen; Aggressionen und Angst das Klima bestimmen. Polizisten müssten die Männer­demo im Gross­aufgebot mit Gummi­schrot und Wasser­werfer begleiten.

Ist das übertrieben? Ganz sicher?

Wie unmittelbar männliche physische Gewalt ist und welche Gefahr von ihr ausgeht, habe ich in den letzten Jahren mehrmals am eigenen Leib erfahren: Zweimal schlugen mir Männer in verschiedenen alternativen Konzert­lokalen grundlos eine Faust ins Gesicht; an Orten, wo ich mich eigentlich zu Hause und sicher fühlte.

2012 verprügelte ein Erwachsener meinen damals noch minder­jährigen Bruder derart brutal, dass er zwei Nächte im Spital verbringen musste. Kurze Zeit später hängte ich die Fussball­schuhe für immer an den Nagel, nachdem mir ein Gegen­spieler absichtlich mit gestrecktem Bein und Stollen­schuhen eine finger­breite Wunde ins Knie gerissen hatte.

Physische Gewalt ist so gut wie überall anzutreffen, wo Männer in Gruppen zusammen­kommen. In Fan­kurven, an Festivals, im Ausgang – aber auch im Privaten.

Aggressivität und Männlichkeit sind miteinander verknüpft wie Milch und Kaffee in einem Cappuccino. Für sich allein betrachtet, haben die beiden Dinge wenig gemeinsam; sind sie aber einmal vermischt, lässt sich das eine nicht mehr vom anderen trennen.

Im letzten Jahr wurden schweizweit 92 Prozent aller schweren Gewalttaten von Männern verübt. In rund 60 Prozent der Fälle waren Frauen die Opfer.

Man kann jede Kriminalitäts­statistik der Welt konsultieren und kommt immer zum selben Schluss: Gewalt ist ein Männer­problem.

Die Erkenntnis ist banal und alt. Und trotzdem wird sie verdrängt – und entschuldigt. Nicht selten werden für das hohe Gewalt­potenzial biologistische Ausreden vorgebracht. So hat sich etwa die Idee, Testosteron sei für männliche Aggression verantwortlich, in unserem Denken verankert und wird in Diskussionen immer wieder gerne in die Runde geworfen.

Das sei halt so, heisst es dann jeweils. Boys will be boys. Unveränderlich.

Ein verhängnisvoller Mythos. Männer sind keine trieb­gesteuerten Dumm­köpfe, sondern eingebettet in Strukturen, die ihre Geschlechter­rollen prägen. Der Hang zu physischer Gewalt ist nicht etwas, das uns mit der Pubertät umgehängt wird wie eine Kuh­glocke, die wir nicht ablegen können.

Ein kurzer Blick in die Statistik reicht, um zu erkennen, dass patriarchale Macht­verhältnisse und die daraus resultierenden Geschlechter­rollen nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern massiven Schaden zufügen. So tun sich Männer besonders schwer, bei Suizidgedanken professionelle Hilfe zu suchen. Und wenn sie sich zum Gang zum Psychologen durch­gerungen haben, nehmen sie die Unter­stützung viel schlechter an als Frauen.

Es heisst: Sei stark. Heul nicht. Sei ein Mann.

Kein Wunder, begehen Männer dreimal so häufig Suizid wie Frauen. Kein Wunder, sind zurzeit 94 Prozent aller Gefängnis­­plätze von Männern besetzt. Kein Wunder, konsumieren Männer mehr Drogen und sind sie viel anfälliger für Alkoholismus. Kein Wunder, sterben Männer im Schnitt vier Jahre früher als Frauen.

Aber eben. Wer Hilfe sucht, gilt als Schlapp­schwanz. Als Weichei, als Lauch.

Wenn das Patriarchat ein Traktor wäre, dann wären die männlichen Gewalt­taten und Missbräuche bloss die stinkenden Abgase, die hinten rauskommen. Zugrunde liegt ein Motor, der die ganze Maschine am Leben hält und nur schwer abzuschalten ist. Doch fordern wir die traditionelle Männlichkeit nicht heraus, läuft er weiter und weiter und weiter.

Zurück zu unserem Gedanken­experiment. Angenommen, die Männer­demo fände tatsächlich statt und der Umzug würde von der Polizei nicht nach wenigen Minuten aufgelöst – wogegen oder wofür sollten Männer eigentlich protestieren?

Militär­dienst­pflicht für alle? Gleich­behandlung beim Sorge­recht? Höheres Renten­alter für Frauen?

Das sind die Antworten, die ich stets als Erstes zu hören kriege, wenn ich mit männlichen Bekannten über Gleichstellungs­fragen diskutiere. Sie zeigen, wie schnell sich Geschlechter­debatten auf die eigene Identität beschränken und die Vogel­perspektive vernachlässigen.

Wenn wir bedingungslos akzeptierten, dass Männer unter dem Patriarchat ebenso zu Schaden kommen wie Frauen und Menschen, die sich als keines von beidem identifizieren, dann hiesse das auch, dass Gleich­stellung für alle ein Gewinn wäre. Gleich­stellung ist kein Wettbewerb, bei dem es darum geht, wer stärker diskriminiert wird. Sondern eine Grund­haltung, die jedes neue Gesetz, jede Handlung und jede politische Entscheidung bestimmen sollte.

Das wusste schon Mani Matter. Er sang: «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit.»

Wenn sich Männer nicht nur für den Vaterschafts­urlaub, sondern auch für Lohn­gleichheit einsetzen, Frauen wählen und gegen Sexisten in ihren eigenen Reihen vorgehen, dann arbeiten sie auch immer an einer neuen Männlichkeit, die Teil einer Welt sein muss; einer Welt, in der das Geschlecht vor dem Gesetz und am Arbeits­platz keine Rolle mehr spielen wird, aber auch Gefängnisse und Gewalt­statistiken keine Männer­bastionen mehr sein werden.

Zum Schluss: War das anfänglich gezeichnete Bild der eskalierenden Männer­demonstration übertrieben?

Gut möglich. Eine Männer­demo würde wahrscheinlich nicht in eine Gewalt­orgie von männlichen Neander­talern ausarten, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Trotzdem waren es die ersten Zeilen, die ich niederschrieb. Denn sie wider­spiegeln die Antworten, die ich erhielt, als ich meine Kolleginnen mit dem Gedanken­experiment konfrontierte.

Das stimmt mich traurig, sagt aber auch viel darüber aus, wie wir Männlichkeit wahrnehmen und erleben. Die Zeit ist reif, das zu ändern.

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