Revolution und der Rhythmus des Lebens

Rosa Luxemburg war nicht nur eine brillante Intellektuelle und eine leidenschaftliche Linke, sie war auch eine feinsinnige Beobachterin der Natur. Das ist nicht ihre «andere Seite» – sondern unverzichtbarer Bestandteil ihres Denkens.

Von Melinda Nadj Abonji, 15.06.2019

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Rosa Luxemburg in voller Grösse, allein – mit der Betrachterin, auf sie zukommend (Berlin, um 1914). Ullstein/Getty Images

Rosa, Rozalia Luxemburg! Wie überrascht war ich, als ich diese Stimme in ihren Schriften das erste Mal hörte, ich staunte über alle normalen Masse, weil ich etwas so grund­sätzlich anderes erwartet hatte – ja, was denn? Eine ächzende, ausgetrocknete Sprache, Partei­propaganda! Missionarischen Eifer im Dienst der sozialistischen Welt­revolution, Lebertran, absolut ungeniessbar. Ihr Name war schon längst in meinem Kopf, und an ihm hing das vernichtende Urteil einer abgelebten, überlebten Historie; mein Vater, ein glühender Anti­kommunist, meine Lehrer und Lehrerinnen, die meisten ebenfalls antikommunistisch geformt, hatten das Ihre dazu beigetragen, dass ich (unbewusst) lange nicht die geringste Lust verspürte, irgendetwas von Rosa Luxemburg zu lesen.

Wie hartnäckig Etiketten kleben! Gerade das erfuhr ich also bezüglich Luxemburg in beunruhigender Deutlichkeit: marxistische Aktivistin! Vorzeige­kommunistin! Aufwieglerin! Rote Rosa! Von den unzählbaren misogynen, antisemitischen Beschimpfungen – die ich hier nicht nennen und damit fortschreiben will – erzählte mir niemand; sie zeugen unmissverständlich von einer masslosen Angst vor dieser Frau.

Wie überrascht war ich nun, als ich, viel zu spät, Rosa Luxemburgs Sätzen begegnete; als würde diese elegant formulierte Syntax von einem hörbaren Rhythmus getragen, ein klopfendes Herz, das spürbar nah neben mir stand. Dass meine Lieblings­bücher eine (hörbare) Stimme haben, ist mir längst vertraut, und ebenso, dass lebendige Buchstaben spielend Eingang in meine Träume finden.

Aber ein klopfendes Herz?

Ja, ob ich nun Luxemburgs «Hunde­politik», ihre Verteidigungs­rede vor der Frankfurter Straf­kammer, «Friedens­utopien» oder ihre Briefe aus dem Gefängnis las, immer begleitete mich ein klarer, kräftiger Herz­schlag in diesen Sätzen und verknüpfte sich mit einem Lichtbild, das ich von Rosa Luxemburg kannte: eine junge Frau mit Hut, an einem sonnigen Tag auf einem gepflasterten Bürger­steig gehend, mit offenem, nach vorne gerichtetem Blick; Luxemburg in voller Grösse, allein – mit der Betrachterin, auf sie zukommend, im Hinter­grund Bäume, der Schatten eines Baumes direkt hinter ihrem. Dieses eine Bild erschien mir passender als alle anderen, vor allem deshalb, weil es Luxemburg in Bewegung zeigte, was ich als Bestärkung nahm, den bei der Lektüre so präsenten klopfenden Rhythmus nicht einfach als merkwürdiges Phänomen abzutun, sondern ihm nachzugehen.

Innerstes Ich

Wenn ich im Folgenden über Rosa Luxemburgs Briefe spreche, dann geht das nicht sinnvoll, ohne einzelne Passagen ausführlich zu zitieren. Nur so ist es möglich, einen Eindruck von ihrer Sprach­melodie zu geben, von der erzählerischen Eleganz und Genauigkeit ihrer Texte.

Am 2. Mai 1917 schrieb Luxemburg aus dem Gefängnis an Sophie (Sonja) Liebknecht:

«Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschen­gestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Strassen­schlacht oder im Zucht­haus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohl­meisen als den «Genossen». Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele innerlich bankrotte Politiker, ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel Grausames, dass ich sehr leide.»

Aus: Brief an Sonja Liebknecht, Wronke, 2. Mai 1917.

Dieses Grausame schildert Luxemburg im weiteren Verlauf des Briefes; so habe sie im vorigen Frühling ein «lautloses Trauer­spiel» auf einem Spazier­gang erlebt, als ein «ganzer Haufen winziger Ameisen» einen auf dem Rücken liegenden «grossen Mistkäfer bei lebendigem Leib» verzehrt habe.

Die zitierte Briefstelle ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Luxemburg blickt nicht auf die Natur als «das andere», sondern erlebt sich als ihr Teil, «manchmal» mehr den Tieren zugehörig als den Menschen. Ausser­gewöhnlich ist nicht, dass sie die Natur so erlebt, sondern wie sie es tut: mit klarem Kopf, analytisch, gefühlvoll, nie sentimental. Es sind geschriebene Zeichnungen. Darin entfaltet sich eine weit blickende Aufmerksamkeit – und das ist einer der Schlüssel, um die Bewegung und das Bewegende ihrer Texte zu begreifen. Sie verstehe auch «die Sprache der Vögel und der Tiere», schreibt Luxemburg drei Wochen später an Sophie Liebknecht. Und sofort klärt, präzisiert sie: «Natürlich nicht, als ob sie [die Vögel und Tiere] menschliche Worte gebrauchten, sondern ich verstehe die verschiedensten Nuancen und Empfindungen, die sie in ihre Laute legen.» Nur dem rohen Ohr eines gleich­gültigen Menschen sei ein Vogel­gesang immer ein und dasselbe, fügt Luxemburg hinzu. Dass sie diese feinen Tönungen versteht (und dies nicht bloss behauptet), wird ergreifend glaubhaft in der Art und Weise, wie sie beschreibt:

«Um diese Stunde ziehen jeden Tag quer über dem Hof hoch oben Hunderte von Krähen im lockeren, weiten Band nach den Feldern hinaus, zu ihrem ‹Schlaf­baum›, wo sie zur Nacht rasten. Sie ziehen mit gemächlichem Flügel­schlag und tauschen merkwürdige Rufe aus – ganz anders als das scharfe «krah», mit dem sie bei Tag raubgierig nach Beute jagen. Jetzt klingt das gedämpft und weich, ein tiefer Kehllaut, der auf mich wirkt wie eine Metall­kugel. Und wenn mehrere abwechselnd dieses «kau-kau» gurgelnd ausstossen, ist mir, als ob sie spielend einander Metall­kügelchen zuwerfen, die in der Luft im Bogen schweben. Es ist ein richtiges Geplauder von dem Erleben ‹vom Tage, vom heute gewesenen Tage›.»

Aus: Brief an Sonja Liebknecht, Breslau, 24. November 1917.

Wiederholt weist Rosa Luxemburg darauf hin, das «losgerissene Detail» interessiere sie nicht, nur das Ganze; die Stimme der Vögel sei «untrennbar von ihrem ganzen Habitus und ihrem Leben». Ihre Aufmerksamkeit gilt allen Feinheiten, jedem Detail, die sie nicht isoliert, sondern verbindet, zum grösseren Zusammen­hang hin denkt. Sie fühlt sich «verwachsen» mit der organischen Natur, wie sie an einer anderen Stelle schreibt. In einem Wolkenflug beobachtet sie «so viel Unbekümmertheit und kühles Lächeln», dass sie mitlächeln und «wie immer den Rhythmus des umgebenden Lebens» mitmachen muss.

«Liebster Bruder»

Ob Vogel oder Wolkenflug oder das feuchte Knirschen des Sandes: Luxemburg gehört diesem Lebens­rhythmus an – durch ihre zugewandte Aufmerksamkeit und ihre Vorstellungs­kraft –, auch dann, wenn die Wirklichkeit alles andere als schön ist, wenn sie einen «scharfen Schmerz» erlebt. So schildert sie ihrer Freundin Sonja Liebknecht Mitte Dezember 1917, dass im Gefängnis­hof Wagen ankommen, vollbepackt mit Säcken oder alten, blutbefleckten Soldaten­röcken und Hemden; statt mit Pferden sind die Wagen mit Büffeln bespannt, «Kriegs­trophäen», die aus Rumänien stammen. Ein Wagen ist derart überladen, dass die Büffel ihn nicht über die Schwelle der Toreinfahrt ziehen können, und ein Soldat, «ein brutaler Kerl», misshandelt die Büffel mit dem dicken Ende eines Peitschen­stieles, sodass eines der Tiere zu bluten anfängt:

«(...) das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen, wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiss, wofür, weshalb, nicht weiss, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll … ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte.»

Aus: Brief an Sonja Liebknecht, Breslau, Mitte Dezember 1917.

Was für ergreifende Worte!

Man könnte sagen, Rosa Luxemburg sei empathisch mit dem Büffel. Aber damit ist zu wenig gesagt. Sie weint vor Schmerz um das Tier, doch sie weint nicht nur ihre Tränen, sondern vor allem auch die Tränen des Büffels. Das mitfühlende, ohnmächtige Leid mit dem Tier vergleicht sie mit dem Schmerz um den liebsten Bruder. Und der geschlagene, blutende Büffel sieht aus wie ein verweintes Kind, das zu Unrecht bestraft worden ist.

Das Ergreifende ist, dass hier die Unter­scheidung zwischen Tier und Mensch, Mensch und Tier aufgehoben, nicht mehr gültig ist. In diesem ohnmächtigen Schmerz werden sie ununterscheidbar, die rohe Gewalt trifft beide mit der gleichen Vehemenz. Luxemburgs Mitleid für das Tier ist also keine eindimensionale Empathie; viel eher fühlt sie so sehr mit dem Tier, dass sie selbst zum Tier wird, und das Tier ist wie ein Mensch … ein Kind … der liebste Bruder, dem das Blut aus der frischen Wunde rinnt, der nun in dieser «fremden schaurigen Stadt» leben muss, in einem «dumpfen Stall».

Und was tut der Soldat? Er steckt «beide Hände in die Hosen­taschen», spaziert «mit grossen Schritten über den Hof», lächelt und pfeift «leise einen Gassenhauer».

Wie

Die Konjunktion wie ist der Herzschlag, den ich in allen Schriften Rosa Luxemburgs höre. Die Voraus­setzungen für dieses Wie sind ihre feinfühlige und präzis analysierende Aufmerksamkeit und ihre Imagination; dieses Wie ist die Art und Weise, wie Luxemburg schreibt; dieses Wie ist ihre Art zu vergleichen und Ähnlichkeiten zu erkennen und zu empfinden – zum Beispiel jene zwischen Mensch und Tier; dieses Wie ist der revolutionäre Herzschlag ihres Denkens, ein Weiter­denken, das immer die Verbindung mit dem grösseren Zusammen­hang sucht und angetrieben ist von einer drängenden Frage: Wieso? Die Frage, die so erschütternd ist wie vor hundert Jahren – die drängendste Frage nach dem Zusammen­leben der Geschöpfe dieser Welt, wenn jene gedemütigt, erniedrigt, ausgebeutet und bestraft werden, die nichts getan haben, ausser «da zu sein», zu «leben».

Die Misshandlung des Büffels, des Kindes als gültige Metapher, ein unüberhörbarer Schrei in die Gegenwart und in die Zukunft: Wofür? Weshalb? Wie dieser rohen Gewalt entgehen, die alles zu verein­nahmen und zu zerstören droht, die Natur, Tiere und Menschen, die Wahrheit? Gewalt – von jenen vollstreckt, die nicht stocken, nicht fragen, nicht um sich schauen, aber mit grossen Schritten weiter­gehen und pfeifen, wie wenn nichts geschehen wäre.

Gerade der letzte Ausschnitt zeigt, dass Luxemburgs Briefe nicht einfach als Abbild ihres Seelen­lebens zu lesen sind; sie sind vielmehr beeindruckende Zeugnisse, die die fliessenden Übergänge (und gegenseitige Bedingtheit) von Mensch und Tier und Natur auffächern, eine Erzähl­bewegung vom Detail hin zum grösseren Ganzen, die immer auch eine politische Denk­bewegung ist. Rosa Luxemburg schrieb alle hier zitierten Briefe aus dem Gefängnis, während des Krieges. Sie wurde unter Kaiser Wilhelm II. mehrmals angeklagt, verurteilt und eingesperrt, unter anderem wegen «Beleidigung des Offizierskorps».

Rosa Luxemburg hält eine Rede im Rahmen des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart, 1907. Ullstein/Getty Images

Lange vor Kriegsbeginn analysierte Luxemburg präzis den Zusammen­hang von Imperialismus, Kapitalismus und Militarismus. Imperialismus heisst, dass der Kapitalismus in nicht kapitalistische Märkte vorstösst. Mittels «Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung» vollzieht sich – jenseits der Fabrik, auf der «Welt­bühne» – die «andere Seite der Kapital­akkumulation». Dabei wird militärische Gewalt angedroht oder eingesetzt. Gut begründet und fundiert argumentierte sie also gegen den zunehmenden Militarismus, tat das, was ihre Partei, die SPD, an der Stuttgarter Internationale beschlossen hatte, nämlich der Verpflichtung nachkommen, einen drohenden Kriegs­ausbruch zu verhindern:

«Wenn uns zugemutet wird, die Mord­waffe gegen unsere französischen oder andere ausländische Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht!» – so Luxemburg auf einer Volks­versammlung 1913 in Fechenheim. Die Unmenschlichkeit in der Armee bezeichnete sie als endemisch, Drill und Initiations­riten als Folter.

Die sozialdemokratischen «Genossen», die hauptsächlich Luxemburgs genialer, pointierter Reden wegen im Reichstag sassen, hielten nicht Wort: In der so entscheidenden Abstimmung vom 4. August 1914 stimmten alle 110 Abgeordneten der sozial­demokratischen Partei für die Kriegs­kredite und unterstützten damit die Kriegs­pläne des Kaisers; die Internationalen wurden im Hand­umdrehen zu Patrioten.

Luxemburg, die kein Wahlrecht hatte, war fassungslos – «Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege!» lautete einer ihrer schneidenden Kommentare. Und sie kämpfte weiter, auch vom Gefängnis aus, in der Überzeugung, dass die Gewalt­verhältnisse irgendwann durch «spontane Massen­proteste» zum Einsturz gebracht würden; sie glaubte nicht an Reformen, sondern an die Revolution, die von unten erfolgen müsse. Eine Revolution, die im Denken der glühenden Anti-Militaristin etwas radikal anderes war als die Verbrechen, die später im Namen der «Revolution» begangen werden sollten. Aber dieses Denken war zugleich unvereinbar mit dem Votum der Genossen im Reichstag.

Der Bruch mit der Sozial­demokratie war endgültig.

Dietmar Dath schreibt in seinem berührend-respektvollen Essay: «Der deutschen Sozial­demokratie, ihrer, wie man so sagt, politischen Heimat, war sie [Luxemburg] erst lästig und dann verhasst, weil sie die Grossen dieser Partei, die sich als umgängliche, weichgespülte, im Ernstfall die Geschäfte von Staat und Kapital nicht störende Bedenken­träger im Schosse der Gesellschaft einrichten wollten, mit mal ruhiger, mal drängender Hartnäckigkeit an das Versprechen grundsätzlichen sozialen Wandels erinnerte, das in dem Namen Sozial­demokratie steckt.»

Wieso

Irgendwann, nach Tagen fortwährender, verliebter Lektüre von Luxemburgs Texten holt mich «die Geschichte» ein, verhindert ein mit unerwarteter Heftigkeit einsetzender Schmerz das Weiterlesen: «Am 15. Januar 1919 wurde Rosa Luxemburg ermordet.»

Als müsste ich gegen diesen nüchternen, faktischen, unauslöschlich auf der Welttafel der «grossen Geschichte» festgeschriebenen Satz mit ganzer Kraft aufbegehren; denn die nüchterne Faktizität bleibt hohl und verlogen, die Verantwortlichen tauchen in der Anonymität und Passivität des Satzes unter – nein! Die Mörder müssen benannt werden, es muss klar sein, wie grausam Rosa Luxemburg ermordet wurde.

Die Sozialdemokratie schützte ihre bedeutendste Denkerin, beste Publizistin und leidenschaftlichste Agitatorin nicht, schreibt Dietmar Dath. Im Gegenteil. Die sozial­demokratische Regierung trug auf höchster Ebene die Verantwortung für den ruchlosen Mord. Ihr Reichs­präsident war seit Kriegsende Friedrich Ebert, ein ehemaliger Schüler Rosa Luxemburgs; Gustav Noske, ebenfalls Sozial­demokrat, befehligte die Freikorps und billigte den Mord (zumindest); den Befehl zur «Liquidierung» gab der Haupt­mann Waldemar Pabst; mit einem Gewehr­kolben schlug der Husar Otto Wilhelm Runge Luxemburg bewusstlos; Leutnant Hermann Souchon tötete sie mit einem aufgesetzten Schläfen­schuss; Ober­leutnant Kurt Vogel liess sie schliesslich in den Berliner Landwehr­kanal werfen.

Die Mörder? Nur Runge wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Die verantwortlichen Offiziere wurden freigesprochen, Hermann Souchon wurde nicht einmal angeklagt; Waldemar Pabst organisierte die Vertuschung des Mordes; in den 1940er-Jahren würde er von der Schweiz aus Nazi­deutschland mit Waffen versorgen; die SPD übernimmt bis heute, hundert Jahre später, immer noch keine Verantwortung für den Mord an Rosa Luxemburg.

Trotz allem

Sie sollte nicht mehr aufmerksam sein – deshalb liess man sie töten.
Sie sollte nicht mehr denken und empfinden – deshalb liess man sie töten.
Sie sollte nicht mehr weiterdenken – deshalb liess man sie töten.
Ihre bewegliche Art des Denkens, das auf klaren Prinzipien beruhte – liess man töten.

Dass sie ihre Prinzipien nicht preisgab, liess man töten.
Dass ihr Denken auf Imagination beruhte, liess man töten.
Dass sie an das eigene Versagen erinnerte, an den jämmerlichen Opportunismus, die Macht­besessenheit – deshalb liess man sie drei Mal töten.
Sie kämpfte für eine Revolution, deshalb liess man sie töten.
Damit ihr Herz aufhört zu schlagen – deshalb liess man sie töten.

Trotz allem, trotz dieser schier unaussprechlichen Grausamkeit, der alles infrage stellenden Frage, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, wenn sie es zulässt und sogar befördert, dass ein Mensch – eine Frau wie Rosa Luxemburg – eingesperrt und dann gewissenlos umgebracht wird … während ihre Mörder frei herum­spazieren, die als willige Vollstrecker der Grausamkeit der Macht zudienen, den Mächtigen, die unantastbar bleiben, weil sie gesetzt sind, über dem Gesetz stehen – trotz allem: Die Mörder haben es nicht geschafft.

Sie haben den Herzschlag dieser glänzenden Publizistin, klugen Theoretikerin und Agitatorin, radikalen Denkerin nicht zum Verstummen gebracht; ihre Sätze sind da, kraftvoll, wahr; ich höre sie, wenn ich sie lese, die Krähen sehe oder die Kohlmeisen. Ihr erzählerischer Rhythmus … verbunden mit dem Rhythmus des Lebens … erfüllt von Imagination. Ja, die vielsprachige Rosa Luxemburg gibt keine Ruhe, sie ruft mir beherzt zu, auf Polnisch, Russisch, Deutsch, Französisch, Jiddisch:

«Die Revolution ist grossartig, alles andere ist Quark!»

Auswahl-Bibliografie

Rosa Luxemburg: «Friedensutopien und Hundepolitik». Schriften und Reden. Mit einem Essay von Dietmar Dath. Reclam-Verlag 2018, 108 Seiten, ca. 10 Franken. (Der Verlag bietet eine Leseprobe.)
Rosa Luxemburg: «Briefe aus dem Gefängnis». Anaconda-Verlag 2017, 96 Seiten, ca. 9 Franken. (Der Verlag bietet eine Leseprobe.)
Rosa Luxemburg: «Briefe an Freunde». Hrsg. von Benedikt Kautsky. Frankfurt/Main 1976. (Das Buch ist antiquarisch erhältlich.)
Rosa Luxemburg: «Die Akkumulation des Kapitals – Antikritik». Gesammelte Werke, Bd. 5. Dietz-Verlag, Berlin 1990, 808 Seiten, ca. 70 Franken.
Rosa Luxemburg: «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.» Gesammelte Werke, Bd. 2. (In einer anderen Ausgabe ist das Werk hier erhältlich, ca. 25 Franken.)
Kate Evans: «Rosa. Die Graphic Novel über Rosa Luxemburg». Dietz-Verlag 2018, 228 Seiten, ca. 32 Franken.
Ernst Piper: «Rosa Luxemburg. Ein Leben.» Blessing-Verlag 2019, 832 Seiten, ca. 40 Franken.
WOZ vom 17. Januar 2019: Verschiedene Beiträge zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg.

Zur Autorin

Melinda Nadj Abonji ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwarts­literatur. Im Jahr 2010 wurde sie für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen Buch­preis und dem Schweizer Buch­preis ausgezeichnet. Der Roman erzählt vom «Gast­arbeiter»-Leben in der Schweiz und von einer Sommer­reise in die heute serbische Vojvodina, die in atmosphärisch dichten Schilderungen die Vorboten der Jugoslawien­kriege spürbar werden lässt.

2017 erschien ihr Roman «Schildkröten­soldat», der mit dem Schiller­preis der Zürcher Kantonal­bank ausgezeichnet wurde. Das Werk erzählt die Geschichte von Zoltán Kertész, einem Jungen aus der Vojvodina, der «nicht ganz richtig im Kopf» ist, sich auf seine Weise aber dem Krieg und der gesellschaftlichen Ordnung verweigert. Und von seiner Cousine Hanna, die zwar depressiv und mit Medikamenten sediert ist, aber Zoltán – und der Literatur – die Treue hält.

Von der Autorin publizierte die Republik zuletzt die Zürcher Poetikvorlesungen in leicht gekürzter Form und den Text «Baut dieser Frau endlich ein Denkmal!».

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