Die Dreifaltigkeit eines Opernchors
Von Michael Rüegg, 13.06.2019
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Eigentlich hatte der erfolglose Komponist Giuseppe Verdi im Jahr 1840 eine schöpferische Oberkrise. Seine letzte Oper, «Un giorno di regno», war soeben gefloppt. Ausserdem hatte der Tod innerhalb zweier Jahre Verdi Kinder und deren Mutter genommen. «Ich beschloss, nie mehr Musik zu schreiben», gibt er fast vierzig Jahre später zu Protokoll.
Dann versuchte ihm ein Agent das Libretto eines Stücks mit dem Titel «Nabucodonosor» anzudrehen. Verfasst hatte es ein gewisser Temistocle Solera. Verdi nahm das Manuskript entgegen und warf es daheim lustlos in die Ecke. Dabei öffnete sich das Heft. Und Verdi las die Verse, die zufälligerweise vor ihm lagen:
Va, pensiero, sull’ali dorate ...
Es sind Worte, die heute weit über die Opernwelt hinaus Bekanntheit geniessen. Der Komponist hatte daraus eine weltberühmte Melodie geschaffen. Auf der Hitliste der berühmten Arien steht sie ganz vorn. Bloss: «Va, pensiero, sull’ali dorate» ist ein Chorlied.
Nicht viele Opernkomponisten geben dem Chor eine derartige Bühne wie Verdi dem Gefangenenchor. Auf diesen Umstand angesprochen, nennt Kai Bischoff spontan noch Richard Wagner. In dessen Werken spielt der Chor nicht selten eine grosse Rolle. Bischoff ist einer von drei Chorvorständen am Opernhaus. Ein Primus inter Pares mit einem Job, um den sich nicht viele reissen. Der Chorvorstand ist Bindeglied zwischen den Sängerinnen und der Leitung des Hauses. Zum Beispiel, wenn über Entlöhnung diskutiert wird, ein wiederkehrendes Thema.
Warum spielt der Chor in vielen Werken eine weniger prominente Rolle, will ich wissen? Kai Bischoff sagt, nicht die Anzahl der Chornummern sei entscheidend, es gebe genügend. «Ich meine die Qualität der Chorsätze», sagt er. Wagner etwa habe für jede Stimmengruppe komponiert, in ihrer «Butterlage» – will in etwa heissen: Wagner holt das Beste aus jeder Stimmlage heraus, fordert sie entsprechend. Viele frühere Komponisten, vermutet Kai Bischoff, hätten damals wohl weniger fähige Chöre zur Verfügung gehabt. Und die Kompositionen entsprechend einfach halten müssen.
Die sechzig Chormitglieder am Opernhaus sind allesamt Profis. Bischoff etwa begann im Knabenchor und landete nach dem Gesangsstudium im Chor des Bayrischen Rundfunks. Dann wollte er es wissen – und besuchte das Internationale Opernstudio (IOS) in Zürich. Das IOS ist eine Art Weiterbildung zwischen Studium und Einstieg in die Solistenkarriere. Doch als Solist Fuss zu fassen, kann für einen Sänger zur Lotterie werden. So nahm Bischoff erst einmal das Angebot an, für eine Weile im Zürcher Opernchor zu singen. Dann blieb er. Eine feste Anstellung gibt Stabilität. Und kaum ein Job an einem Theater, weiss der Chorvorstand, ist so sicher wie der eines Chormitglieds.
«Es gibt in jeder Oper grosse Rollen und kleine Rollen», sagt Kai Bischoff. Und an Auftrittsmöglichkeiten mangelt es nicht. «Der Chor hat pro Jahr mehr als hundert Vorstellungen, ein Solist im Ensemble nur deren zwanzig.» Wer also gern auf der Bühne steht, scheint im Chor am richtigen Ort.
Am liebsten mag es Kai Bischoff, wenn ein Regisseur mit den Stärken der Chormitglieder spielt, sie individualisiert einsetzt. Wenn einzelne von ihnen eigene Rollen in den Geschichten erhalten. Beim neuen «Nabucco» ist das weniger der Fall. Der Chor bleibt eher uniform. Dafür hat er die Bühne für sich:
Va, pensiero, sull’ali dorate ...
Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen ...
Nicht unwahrscheinlich, dass es dafür Szenenapplaus geben wird.
Sechzig Personen umfasst der Chor am Zürcher Opernhaus. Doch für «Nabucco» reicht diese Zahl nicht aus. Es müssen deren neunzig sein. Die Differenz wird mit zweierlei Sängerinnen ausgeglichen: mit Zuzügern, also professionellen Sängern, die nur für einzelne Produktionen gebucht werden. Eine dritte Gruppe bilden Nichtprofessionelle. Sie sind im sogenannten Zusatzchor organisiert, unter ihnen befinden sich auch Ärzte oder Juristinnen.
Eine dieser Zusatzchoristinnen ist Sabine Appenzeller. Am Opernhaus selber ist die ausgebildete Musiklehrerin keine Fremde, sie leitet den Zuschauerdienst, also diejenigen Damen, die zum Beispiel dafür sorgen, dass jeder und jede auch auf dem bezahlten Sitzplatz landet – ausser übrigens am morgigen Frauenstreiktag, da springen aus Solidarität die Männer des Hauses ein.
Sabine Appenzeller gilt für viele als die gute Seele des Hauses. Um die fünfzig Produktionen dürften es sein, in denen sie die letzten 25 Jahre mitgewirkt hat. «Das ist mein dritter ‹Nabucco›», sagt sie trocken.
«Ich bin Alt», antwortet sie, nach ihrer Stimmlage gefragt. Kai Bischoff hingegen ist Bass II, also Bass, während Bass I Bariton meint, was darüber liegt. Dazwischen die Tenöre, am höchsten singen die Sopranistinnen. Doch im Publikum nimmt man den Chor meist als Kollektiv wahr. Das ist die Bestimmung eines jeden Chors: aus einer Vielzahl von Stimmen eine grosse zu bilden. Gesangliche Schwarmintelligenz, quasi.
Und dann geht sie auch schon los, die Probe. Gegen neunzig Personen stehen im Bühnenraum, einige der Herren erhalten Zylinder, die sie mal auf-, mal wieder absetzen müssen. Das wird jetzt geübt. Grossgruppen-Koordination scheint immer eine gewisse Herausforderung zu sein.
Seit einer Stunde wird nun die Szene mit dem Chor geprobt. Nach ein paar chaotischen Momenten zu Beginn sitzt die Sache mit den Zylindern nun einigermassen. Die Masse weiss jetzt, was zu tun ist. Bis zur Premiere sind es noch einige Durchläufe.
Dann dürfte der Chor nicht nur sein Filetstück meistern.
Va, pensiero, sull’ali dorate ...
Michael Rüegg besucht bis zur Premiere am 23. Juni über mehrere Wochen die Proben für «Nabucco» am Zürcher Opernhaus und spricht mit zahlreichen Beteiligten. In der nächsten Folge lesen Sie, weshalb Nebukadnezar schwäbelt. Hier finden Sie alle erschienenen Beiträge.