Als im Juni 2009 der Reformer Mir Hossein Moussavi als iranischer Präsident kandidierte, schien für wenige Wochen das Unmögliche – ein demokratischer Wandel – möglich: In Teheran zeigen Iranerinnen mit grünen Armbinden ihre Unterstützung für Moussavi. Gianni Cipriano/Getty Images

Irans verpasste Chance

Mit der «Grünen Revolution» stand der Iran vor einer demokratischen Wende. Heute, zu ihrem zehnten Jahrestag, steht er an der Schwelle zum Krieg.

Ein Kommentar von Solmaz Khorsand, 12.06.2019

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Was-wäre-wenn-Spielchen sind beliebt im Iran. Es beruhigt die Nerven, in einer Worst-Case-Realität historische Ereignisse auf diese Art abzuklopfen und sich so in ein positives Alternativ­universum hinein zu imaginieren.

Die Bedingungen dafür sind derzeit ideal: ein amerikanischer Präsident, der Anstalten macht, sich von seinem Sicherheitsberater in einen Krieg manövrieren zu lassen; regionale Nachbarn, die genüsslich beobachten, wie US-Sanktionen den Erzfeind in die Knie zwingen; ein nervöses Regime, das mit jeder Demütigung vonseiten des grossen (und kleinen) «Satans» seine Existenz selbst vor seinen grössten internen Kritikern legitimieren kann.

Ein paar sedative Gedanken­spiele kommen da sehr gelegen.

Etwa: Was wäre passiert, wenn 1953 der demokratisch gewählte Premier Mohammad Mossadegh nicht vom CIA weggeputscht worden wäre? Was wäre passiert, wenn 1979 nicht die Islamisten die Schah-Diktatur abgelöst hätten, sondern ihre säkularen Mitstreiter?

Und was wäre passiert, wenn am 12. Juni 2009 nicht der Hardliner Mahmoud Ahmadinejad zum Sieger der Präsidentschafts­wahl erklärt worden wäre, sondern sein Herausforderer, der Reformer Mir Hossein Moussavi?

Euphorische Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Moussavi versammeln sich wenige Tage vor der Wahl. Gianni Cipriano/Getty Images
Mit der «Grünen Bewegung» sollte vor zehn Jahren das System verändert werden – von innen. Gianni Cipriano/Getty Images

Diese Woche jährt sich dieses Datum zum zehnten Mal. Es ist ein bitteres Jubiläum. Eine Ausfahrt, die viele Iraner nur zu gern genommen hätten. Eineinhalb Jahre vor dem Arabischen Frühling erlebten sie im Juni 2009 ihren «Summer of Change». Für wenige Wochen war das Unmögliche möglich: ein demokratischer Wandel. Behutsam, zivilisiert und aus eigener Kraft.

So schien es zumindest, als damals der ehemalige Premier­minister Moussavi im Stil der Obamas Hand in Hand mit seiner Ehefrau Zahra Rahnavard, einer charismatischen Universitätsdekanin, mit seinem Programm für mehr Bürger­rechte ganze Stadien füllte. Aufbruch lag in der Luft. Es war die Geburts­stunde der «Grünen Bewegung», benannt nach der Farbe aus Moussavis Wahlkampf­kampagne. Für viele Iraner und Iranerinnen, vor allem die jungen, waren die Tage des Gottes­staates, so wie sie ihn kannten, gezählt. Schliesslich wollte einer von «denen», ein treuer Regime­apparatschik, das System verändern. Von innen, langweilig und sachte.

Es musste funktionieren.

Sie irrten.

Das Innen­ministerium kürte den amtierenden Präsidenten Ahmadinejad zum Sieger. Für die Opposition war die Wahl manipuliert. Zu viele Ungereimtheiten, zu viele Einschüchterungs­versuche, zu viele plötzlich aufgetauchte Stimmzettel mit dem Namen Ahmadinejad drauf. Mit dem Slogan «Wo ist meine Stimme?» zogen Tausende auf die Strasse. Es sollten die grössten Proteste werden, die das Land seit der Islamischen Revolution 1979 erlebt hatte. Moussavi, seine Frau und ihr Mistreiter Mehdi Karroubi, ein ehemaliger Parlaments­präsident, wurden zu Ikonen der Bewegung.

Wer es wagte, nach der Wahl des amtierenden Präsidenten Ahmadinejad zu protestieren, wurde niedergeschlagen und weggesperrt. AP/Keystone

Die Antwort des Regimes liess nicht lange auf sich warten. In den Wochen und Monaten nach der Wahl wurde geprügelt, weggesperrt, vergewaltigt und getötet. Das Video der ermordeten Studentin Neda Agha-Soltan ging um die Welt, ihr blutüberströmtes Gesicht wurde zum Symbolbild der iranischen Opposition. Moussavi, Rahnavard und Karroubi wurden 2011 unter Hausarrest gestellt. Und sind es bis heute.

Niedergeknüppelt zurück an den Verhandlungstisch

Verbannt in ihren eigenen vier Wänden, sind sie verschwunden aus der öffentlichen Wahrnehmung. Fast. Im März dieses Jahres tauchte auf Social Media zum ersten Mal ein aktuelles Foto Moussavis und seiner Frau auf, er, lächelnd mit Opa-Kappe, sie, ernst mit dem für sie bekannten geblümten Kopftuch. Das Foto zeigt ein sichtbar gealtertes Paar, gezeichnet von den Jahren der Isolation. «Dieser Mann sitzt für uns im Gefängnis», kommentieren ihre Anhänger das Bild im Netz.

Für mehr Pathos reicht es nicht. Nostalgische Sentimentalitäten sind dieser Tage spärlich gesät. Zu fest hat die Gegenwart die 80 Millionen Iraner im Griff. Das Säbelrasseln der Amerikaner, Saudis, Israelis und des radikalen Flügels des eigenen Regimes, das sich nur zu gern in die Ecke treiben lässt, ist unüberhörbar.

Seit dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem Atom­abkommen vor einem Jahr dreht sich die Eskalations­spirale immer weiter. Mit dem Aufkünden des Vertrags hat Washington die alten Sanktionen um neue erweitert. Seit Mai darf kein Staat mehr straffrei Öl aus dem Iran beziehen. Das Regime soll finanziell ausbluten. Nur so könne der laut US-Aussen­minister Mike Pompeo «weltweit grösste Sponsor von Terror» gezwungen werden, seinen Verbündeten in der Region den Geldhahn zuzudrehen. Niedergeknüppelt darf der Iran dann zurückkriechen an den Verhandlungs­tisch für ein neues Atomabkommen.

Bisher traf die amerikanische Zermürbungs­taktik nur ein Ziel: Irans Bevölkerung, die sich mancherorts nicht einmal mehr ausreichend mit Kartoffeln und Zwiebeln versorgen kann, so hoch sind die Preise mittlerweile. Der Unmut darüber hat sich längst auf die Strasse entladen. Seit knapp einem Jahr vergeht keine Woche, in der nicht irgendwo im Land protestiert wird, sei es gegen die Korruption, die Arbeitslosigkeit, die hohen Preise oder das Kopftuch. Und das nicht nur von privilegierten Grossstadtkindern.

Der Protest lenkt ab vom Katastrophen­film, der bei jedem Iraner und jeder Iranerin im Hinterkopf mitläuft: ein Regime mit dem Rücken zur Wand, eine Grossmacht, die mit ihren Kriegs­schiffen bereits im Arabischen Meer unweit des Persischen Golfs herumtourt, und ein Europa, das tatenlos zusieht.

Irans Präsident Hassan Rohani, dessen Team 2015 den Nukleardeal mit den internationalen Vertrags­partnern ausgehandelt hat – gegen den Widerstand des islamischen Revolutions­führers Ali Khamenei, der eigentlichen Autorität im Land –, hat die Europäer nun in die Pflicht genommen. Bis Juli hätten sie Zeit, das Abkommen zu retten, sein Land vor den Sanktionen zu schützen, sich gegen die Amerikaner zur Wehr zu setzen. Tun sie nichts, beginnt der Iran wieder mit seiner Urananreicherung.

Die Botschaft ist klar: Auch wir wissen rote Knöpfe zu drücken, treibt es nicht zu weit.

Vielleicht werden die Iraner in einigen Jahren auch diesen Sommer, 2019, heraufbeschwören, ihn einreihen in ihrer Zeitleiste verhunzter Events, die auch anders hätten ausgehen können. Was wäre passiert, wenn die USA ihre Kriegsflotte nicht unweit der iranischen Küste parkiert hätten? Was wäre passiert, wenn John Bolton, einer der Architekten der US-Invasion im Irak, seinen Chef Donald Trump nicht «beraten» hätte? Und was wäre passiert, wenn die EU den Iran nicht seinem Schicksal überlassen hätte?

Bleibt zu hoffen, dass sie sich diese Fragen in ein paar Jahren nicht stellen werden. Für uns alle. Andernfalls werden die Iraner das Was-wäre-wenn-Spiel dieses Mal nicht alleine spielen.

Denn der Worst Case wird dann nicht mehr nur ihre Realität bestimmen.

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