«Keine Partei ist auch nur annähernd dran an dem, was eigentlich getan werden müsste»

Klimaaktivistin Greta Thunberg über die drohende Heisszeit, den Kippmoment ihrer Protestbewegung, unfähige Medien und ihre Enttäuschung über die Politik – auch die der Grünen.

Von Benedikt Narodoslawsky, 07.06.2019

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«Sie sagen: Wir hören dir zu, wir applaudieren dir. Und trotzdem ignorieren sie, was ich sage.» Harley Weir/ArtPartner

«35’000?», fragt Greta Thunberg irgendwann leise. Dann lächelt sie.

Vergangenen Freitag, kurz nach 14 Uhr: Von draussen dringen die Rufe der Demonstranten in den zweiten Stock der französischen Botschaft in Wien. Greta Thunberg, 16 Jahre alt, abgewetzte Laufschuhe, zerknittertes Hemd, knetet mit den Fingern ihren Zopf und blickt stoisch durch die Balkon­fenster hinunter auf den Massen­auflauf. Sie hat ihr Protest­schild «Skolstrejk för Klimatet» abgelegt, mit dem sie nur Minuten zuvor den Demonstrations­zug anführte. Gleich wird sie draussen auf der Bühne eine viel umjubelte Rede halten. Und ankündigen, dass sie eine Schulauszeit nehmen wird, um am Klima­gipfel der Uno in New York und an der Klima­konferenz in Santiago de Chile teilzunehmen. Dort werden die Weichen­stellungen in der Klima­politik verhandelt. Der weltweite Schul­streik soll dennoch weitergehen. Thunbergs Zeitplan an diesem Tag ist straff. Doch sie wirkt nicht so, als hätte sie Stress.

Frau Thunberg, bei Ihren Reden ist etwas sehr eigenartig: Wenn Sie vor mächtigen Menschen sprechen, reden Sie Tacheles mit ihnen und beleidigen sie sogar. Und dann stehen diese Menschen auf und applaudieren Ihnen. Können Sie sich das erklären?
Es ist unterschiedlich. Manchmal applaudieren diese Leute danach, manchmal nicht. Aber meistens klatschen sie, weil da Kameras sind, die sie filmen. Vielleicht halten sie das aber alles auch nur für einen Scherz. Ihre Doppel­moral ärgert mich jedenfalls. Sie sagen: Wir hören dir zu, wir applaudieren dir. Und trotzdem ignorieren sie, was ich sage.

Auf 5000 Demonstranten wird die Polizei später an diesem Tag die Zahl der Teilnehmer an der Kundgebung in Wien schätzen. Wie viele es auch immer sind: Es sind viele. Noch vor zehn Monaten demonstrierte Greta Thunberg allein. Am 20. August 2018 setzte sich die damals 15-Jährige mit ihrem Protestschild vor das schwedische Parlament, anstatt in die Schule zu gehen, und postete darüber auf Twitter und Instagram. Schon am zweiten Streiktag schlossen sich Unterstützerinnen an. Und Mitte März 2019 gingen eineinhalb Millionen Menschen auf der ganzen Welt auf die Strasse. Seit dem Beginn der globalen Proteste hat sich Thunbergs Leben auf den Kopf gestellt. Sie sprach auf der UN-Klimakonferenz in Katowice und am WEF in Davos. Sie traf den UN-Generalsekretär, den Papst, den EU-Kommissionspräsidenten.

Sie kritisieren in Ihren Reden auch die Rolle der Medien: Sie werfen Journalisten vor, diese für die Menschheit existenzielle Krise zu ignorieren. Was glauben Sie, warum hat die Klimakrise in der Bericht­erstattung noch immer nicht die höchste Priorität?
Ehrlich, ich weiss es nicht. Vielleicht gibt es finanzielle Gründe, vielleicht interessiert es die Journalisten nicht. Ich habe viele von ihnen getroffen, die diese Krise nicht verstehen. Sie wissen zum Beispiel nicht, was die Keeling-Kurve ist. Das ist ein riesiges Problem. Denn die Medien sollten uns darüber aufklären. Es ist ihre Aufgabe, Menschen darüber zu informieren, was passiert. Wenn Medien nicht darüber berichten, werden die Menschen nicht verstehen, was auf dem Spiel steht.

Die Keeling-Kurve

In den 1950er-Jahren gelingt dem jungen US-Chemiker Charles Keeling der Durchbruch in der Klima­forschung. Seine CO2-Messreihe vom Mauna-Loa-Observatorium auf Hawaii, die bis heute fortgesetzt wird, ist mittlerweile als Keeling Curve bekannt und ein Sinnbild für den menschlichen Einfluss aufs Klima. Erfahren Sie alles dazu in unserer Serie «Geschichte des Klimawandels».

Die Medien berichten derzeit über die «Fridays for Future»-Bewegung. Aber sie berichten dabei hauptsächlich über Sie und nicht über den Bericht des Weltklimarats, den Sie ständig zitieren. Stört Sie das?
Ja. Es gibt einen riesigen Fokus auf mich als Person und nicht auf die Bewegung oder die Klimakrise selbst. Aber wenn Journalisten über mich schreiben, dann müssen sie auch über die Klimakrise schreiben. Das ist zumindest etwas. Wenn es mir dabei hilft, dass mehr über die Klimakrise geschrieben wird, dann ist das okay für mich.

Greta Thunberg hat ein globales Momentum erzeugt. Schon auf früheren Klima­konferenzen haben Jugendliche bewegende Reden gehalten. Aber Thunberg ist anders. Ihre Person fasziniert auch deshalb, weil sie aussieht wie ein Kind, aber spricht wie eine Erwachsene. Sie schminkt sich nicht vor der Kamera wie gewöhnliche Influencer, sie rappt nicht, treibt keinen Schabernack. Thunberg spricht über CO2-Emissionen, Rückkopplungs­effekte und die Kipppunkte der Erderwärmung, sie zitiert Klima­forscher und Studien. Auf Facebook erreicht sie damit mehr als 900’000 Fans.

Beim Klimagipfel in Wien haben Sie gesagt, die jungen Menschen werden die Verantwortlichen nicht davon­kommen lassen, wenn diese ihre Zukunft stehlen. Sollen die Verantwortlichen bestraft werden, sollte es ihnen nicht gelingen, den Klimavertrag von Paris einzuhalten?
Das hängt davon ab, was Sie unter bestrafen verstehen. Worum es mir geht, ist, dass wir den Menschen zuerst bewusst machen müssen, was gerade passiert und was bereits passiert ist. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich die Leute, die am stärksten für die Krise verantwortlich sind, schuldig fühlen.

Ist die Klimakrise den Menschen wirklich nicht bewusst? Ist es nicht eher so, dass viele Bescheid wissen, aber es schaffen, das Thema zu ignorieren?
Natürlich ignorieren Menschen die Krise in gewisser Hinsicht. Aber wenn Sie raus auf die Strasse gingen und Menschen fragen würden, ob sie den «galoppierenden Treibhaus­effekt» beschreiben können, würden die Leute das nicht schaffen. Oder fragen Sie sie: Wie gross ist derzeit das CO2-Niveau in der Atmosphäre? Sie würden das nicht beantworten können.

Lange drehte sich die Diskussion über die weltweiten Schul­streiks um die kleinen Fragen. Ob es in Ordnung sei, für eine Demonstration die Schule zu schwänzen; ob die Jugend nicht in Wahrheit völlig unpolitisch sei und die Situation ausnütze, um ein bisschen Freizeit herauszuschlagen. Die grossen Fragen, die Thunberg stellte, wurden ausgeblendet: Ob die Alten den Jungen mit ihrem Verhalten die Zukunft rauben, ob wir uns nicht schleunigst ändern müssten, weil sonst die Klima­erwärmung unumkehrbar wird, so wie das die Wissenschaftlerinnen vorhersagen. Das Ergebnis der EU-Wahlen vor zwei Wochen lieferte die Antworten. Das Thema interessiert die Jungen nicht nur – sie brennen dafür.

Das Klima war bei den EU-Wahlen eines der wichtigsten Themen. Die grünen Parteien haben im EU-Parlament stark zugelegt. Ein Erfolg?
Die grünen Parteien sind auch nicht gut. Nur weil sie das Wort grün im Namen haben, heisst das nicht, dass sie automatisch die beste Partei sind. Keine Partei ist auch nur annähernd dran an dem, was eigentlich getan werden müsste.

Braucht es neue Parteien, die radikaler sind?
Ehrlich gesagt glaube ich, wir haben nicht mehr genug Zeit dafür. Ich denke, alle Parteien müssen jetzt zusammen­arbeiten, damit sie die notwendigen Veränderungen schaffen können.

Der Weltklimarat kommt in seinem Bericht zum Schluss, dass man das Ruder noch herum­reissen kann, wenn wir alle zusammen­arbeiten. Wie optimistisch sind Sie, dass das gelingt?
Der Grossteil der Wissenschaftler sagt, es ist innerhalb der physikalischen Gesetze noch möglich, die schlimmsten Folgen der Klimakrise zu verhindern. Ich hoffe also, wir können es noch schaffen. Wir können es jedenfalls nicht schaffen, wenn wir so weiter­machen wie bisher.

Greta Thunberg vereint alles, was es für eine perfekte Ikone braucht. Jedes ihrer Worte sitzt und entfaltet Kraft. Gerade das macht sie verdächtig. Längst ist sie für Klimawandel­leugner und Rechte zur Reizfigur geworden. Sie sei eine «schwedische Göre mit sauer­töpfischem Gesicht», schrieb ein FPÖ-Parteiblatt anlässlich von Thunbergs Wien-Besuch, «psychisch krank». In rechten Kreisen kursiert auch die Geschichte aus der «Weltwoche», die Thunberg unterstellt, sie sei das Produkt einer PR-Agentur und werde von ihren Eltern und dem Establishment missbraucht. Die Vorwürfe basieren auf einem Irrtum. Thunberg ist kein naives Kind, sie weiss genau, was sie tut.

In einer Ihrer ersten öffentlichen Reden zitierten Sie den renommierten Wissenschaftler Johan Rockström, der unter anderem aufgezeigt hat, dass neben der Klimakrise viele weitere ökologische Krisen die Menschheit bedrohen – darunter etwa der Verlust von Biodiversität. Warum ist für Sie von allen Krisen die Klimakrise am wichtigsten?
All diese Krisen sind praktisch gleich wichtig, und jede einzelne von ihnen wäre auch schon verheerend, wenn sie nur allein auftreten würde. Aber nun treten sie alle gemeinsam auf und beschleunigen alles. Auf die Klimakrise konzentriere ich mich aber deshalb, weil es dort Kipppunkte gibt. Wenn wir diese Punkte erreichen, kommen wir in die Heisszeit. Dann beginnt sich die Erde von selbst zu erwärmen.

Wann war der Kippmoment in der «Fridays for Future»-Bewegung?
Im November, als in Australien Zehntausende Kinder begonnen haben zu streiken. Wir waren davor nicht so viele. Australien öffnete viele Türen.

Ausgerechnet Australien, das Kohleland.
Ja. Und dann haben sie in Deutschland, Belgien und in zahllosen anderen Ländern mitgemacht. Dann ist es einfach eskaliert.

Was fühlen Sie, wenn Sie diese vielen Demonstranten da draussen sehen?
Das macht mich sehr hoffnungsvoll. Denn diese Menschen kümmern sich wirklich um das Thema und wollen etwas tun.

Sie sind noch ein Teenager, aber Sie sind bereits zur «Schwedin des Jahres» gewählt worden, «Time» zählt Sie zu den einflussreichsten Menschen des Planeten, und Sie sind für den Friedens­nobelpreis nominiert. Was wollen Sie eigentlich werden, wenn Sie erwachsen sind?
Ich muss schauen, wo es mich hin verschlägt. Die Situation hat sich komplett geändert, mein Leben ist heute schon total anders als noch vor zwei Tagen. Es ist also unmöglich vorherzusehen, was ich tun werde. Aber ich glaube, ich werde dort sein, wo ich gebraucht werde.

Greta Thunberg sagt, ihre Sorge um die Welt habe auch mit ihrem Asperger-Syndrom zu tun. Sie kann Fakten nicht ignorieren. Sie handelt danach. So wie damals, als sie in der Schule eine Dokumentation über Plastik sieht, in der Tiere qualvoll verenden. Die Schüler sind betroffen, aber nach der Unterrichts­stunde geht das Leben für sie weiter. Schülerin Greta verändert ihr Leben. Sie informiert sich, schaut mehr Dokumentationen, besucht Bibliotheken. Bald beginnt sie, zu Hause immer das Licht abzudrehen. Sie ernährt sich vegan, will nicht mehr fliegen, verzichtet auf neue Kleider. Schliesslich fällt sie in eine Depression, hört auf, Klavier zu spielen, hört auf zu essen, hört auf zu lachen, hört auf zu reden. Es liegt nicht nur daran, dass sie keine Freunde hat, dass sie von ihren Schulkameraden gemobbt und verprügelt wird. Ihre Depression rührt auch von den wissenschaftlichen Erkenntnissen um den Zustand unserer Erde. Die Krankheit der Welt schlägt sich auf die Seele des Mädchens. Greta bringt die Familie an ihre Grenzen. Sie verändert ihre Eltern. Am Schluss werden sie selbst zu Klima­schützern. Und Greta wird zu einer Ikone der Klima­bewegung, zum Symbol einer jungen, bewegten Generation.

Und da steht sie nun, schaut hinunter auf den Platz vor der französischen Botschaft in Wien, auf den immer mehr Jugendliche strömen, mit Parolen auf Schildern wie: «Wir sind mit Marvel, Harry Potter und Star Wars aufgewachsen. Natürlich schlagen wir zurück!» Bewegt sie das? Greta Thunberg sagt wie immer nur so viel, wie sie sagen muss. Sie sagt: «Ja.»

Zum Autor

Benedikt Narodoslawsky ist ein österreichischer Journalist, der seit 2012 für das Wiener Wochen­magazin «Falter» über Umwelt­themen schreibt. In der aktuellen Ausgabe des «Falters» (23/19) erschien dieser Artikel in leicht veränderter Form.

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