Operation Nabucco

Willkommen im Reich des Angedeuteten

Von Michael Rüegg, 05.06.2019

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«Viva Nabucco!», singt eine blonde Frau in grünem Top und ausuferndem schwarzem Rock mit hoher Stimme.

Die Menschenmenge hinter ihr zuckt zusammen.

Ein Mann in einem ausgetragenen schwarzen Mantel betritt die Szenerie. Und ein anderer im Jeanshemd ruft von gegenüber: «Schande, den gibts ja wirklich!»

Daraufhin zuckt die Menschenmenge noch mehr zusammen.

Kein Wunder. Bei dem Herrn im alten schwarzen Mantel handelt es sich um den König Babylons, der just in dem Moment den Tempel der Hebräer erobert. Und die Menge, das sind die Hebräer. Sie alle stehen im fahlen Neonlicht, auf einem schwarzen Kunststoff­boden mit unzähligen weissen Markierungen. Das ist der Tempel von Jerusalem ein paar Jahrhunderte vor Christi Geburt. In der Mitte des Raumes steht eine Wand aus Sperrholz.

Wir befinden uns im ehemaligen Modellmagazin der Sulzer-Fabrik beim Escher-Wyss-Platz. Das Gebäude sieht mit seinen sorgfältig zugemauerten Fenstern selber aus wie ein Bühnenbild, der alte Industriebau ist längst mit einem Hochhaus mit Luxus­wohnungen verschmolzen. Die Fassade einer Fassade.

Echt ist hier eh nichts. Der König ist kein König. Sondern Bariton. Alles ist angedeutet. Die Kostüme zum Beispiel: Sie sind nur für die Proben da, sollen den Darstellern das Gefühl der echten Kostüme vermitteln, die – mit wenigen Ausnahmen – längst genäht, aber eingelagert sind.

Michael Rüegg

Man braucht schon etwas Fantasie, um sich die Szene so vorstellen zu können, wie sie sich in rund einem Monat präsentieren wird. Nicht hier, auf der Probebühne Ost. Sondern auf der richtigen, im Zürcher Opernhaus. Wenn 1100 Zuschauerinnen in Abend­garderobe die Premiere der neuen Zürcher «Nabucco»-Inszenierung erleben werden. An einem Sonntag­abend, dem 23. Juni.

Rund zwei Stunden wird Giuseppe Verdis Werk über den Babylonier-König Nebukadnezar dauern, der Jerusalem erobert und das jüdische Volk verschleppt hat. Die Arbeit an der Inszenierung begann für einige am Opernhaus Zürich schon Jahre zuvor.

Etwa für den Mann im Jeanshemd, der bei den Proben immer wieder seine Anweisungen auf die Bühne ruft: Andreas Homoki. Bei der neuen «Nabucco»-Inszenierung führt der Intendant des Zürcher Opern­hauses selbst Regie.

Zu Beginn, vor drei, vier Jahren, war die Inszenierung erst eine Ansammlung von Gedanken in einigen wenigen Köpfen. Dem des Regisseurs. Und dem des Bühnen- und Kostüm­bildners Wolfgang Gussmann. Dann gesellten sich weitere Köpfe hinzu, später Hände, unzählige Hände. Und erst sechs Wochen vor der Premiere kamen die Kehlköpfe.

Techniker, Schneiderinnen, Tapezierer, Malerinnen. Orchester­musiker, Sängerinnen, die Partituren studierten. Betriebsbüro, Marketing – wenn an jenem Sonntag­abend der Vorhang aufgeht, werden einige hundert Menschen an dieser Inszenierung mitgearbeitet haben. Es ist, als hätte ein ganzes Dorf monatelang nichts anderes gemacht, als eine Aufführung vorzubereiten.

Pause. Die Kaffeemaschine im Foyer mahlt und mahlt. Jemand hat Cookies mitgebracht. Ein Hund hat etwas abseits Platz genommen, beäugt aus Distanz die Dutzenden Sängerinnen und Sänger.

Kurz darauf, zurück auf der Bühne, setzen sie zum Gesang an – doch es erklingt nicht die Musik Verdis, es sind nicht die Worte des Librettisten Temistocle Solera. Sondern «Happy Birthday to You», interpretiert vom Chor des Opernhauses Zürich für eines seiner Mitglieder. Es wird nicht das letzte während der sechswöchigen Probephase sein.

Der Regisseur betritt die Bühne, schüttelt dem Geburtstags­kind die Hand. «Im Namen des Verwaltungsrates …», setzt Andreas Homoki an. Der Rest versinkt in Gelächter. Das ist auch Probe, heitere Momente. Im Grossen und im Kleinen. Etwa wenn Prinzessin Fenena (Mezzosopran) mit den Zähnen nach dem Finger ihres geliebten Ismaele (Tenor) schnappt. Sie hats ja auch nicht leicht, die Fenena. Ungezählte Male wird sie im ersten Akt von Hohepriester Zaccaria (Bass) über die Bühne gezerrt, den Dolch an der Halsschlagader (Regie: «Messer näher ran»). Dann wieder von Ismaele gerettet. Noch mal. Noch mal. Noch mal.

Am Klavier sitzt die Korrepetitorin. Ihre zwei Hände ersetzen das 58-köpfige Orchester. Bis die Sänger auf die Musikerinnen treffen, wird noch mehr als eine Woche vergehen. Die einzelnen Bestandteile des Stücks werden erst einmal für sich geprobt. Nach und nach fügt sich alles zu einem Ganzen.

Dass einem Journalisten Zugang zu Proben gewährt wird, ist ungewöhnlich. Denn Oper zeigt sich lieber, wenn sie fertig und perfekt ist. Proben sind es nicht, sie sind der Ort, an dem Fehler gemacht werden. An dem Darsteller, Regie, Musikerinnen ihre Schwächen glätten. So lange, bis alles sitzt.

Trotzdem hat man mir den Wunsch erfüllt, die Probephase zu begleiten. Ich werde das Geschehen auf und vor der Bühne beobachten, mit Beteiligten sprechen, zu verstehen versuchen, wie ein solcher logistischer Gewaltakt funktioniert. Und hoffentlich werde ich niemandem so sehr auf die Nerven gehen, dass man mich vor die Tür setzt. Entsprechend nehme ich mir vor, nicht mit ihr ins Haus zu fallen, also mit der Tür. Ich werde nicht einfach auf alle zugehen, sondern erst einmal still und leise aus der Ecke heraus beobachten.

In dieser Ecke hat mich Catherine Naglestad erspäht. Die blonde Sopranistin (hier: Prinzessin Abigaille von Babylon), die vorhin «Viva Nabucco!» hinausgesungen hat, im grünen Top, mit dem ausladend breiten Rock. Sie hat mein T-Shirt erspäht. Es ist auffällig bedruckt, sieht aus wie Urwald, mit grossen Blättern und Vögeln, die auf Ästen sitzen. Ein solches Kleidungs­stück sticht heraus in einer Runde, in der viele Schwarz tragen.

«Das erinnert mich an zu Hause», sagt Catherine Naglestad auf Deutsch, «ich bin aus Hawaii.» Wir reden ein paar Worte. Und keinen Moment habe ich das Gefühl, gerade mit einem international gefeierten Opernstar zu sprechen. Ich möchte mehr über diese Frau erfahren, die das Nomaden­leben einer Opernsolistin führt.

Und so beschliesse ich, sie um ein Gespräch zu bitten. Das nächste Mal, wenn ich auf Probebesuch bin.

Zu der Zeit weiss ich ja noch nicht, dass es zu einer weiteren Begegnung nicht kommen wird.

Zur Operation Nabucco

Michael Rüegg besucht bis zur Premiere am 23. Juni über mehrere Wochen die Proben für «Nabucco» am Zürcher Opernhaus und spricht mit zahlreichen Beteiligten. In der nächsten Folge lesen Sie vom frühen Tod Frau Nebukadnezars. Hier finden Sie alle erschienenen Beiträge.

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