Serie «Am Limit» – Teil 3

Die Zelle: Zeichnung nach einem Foto.

«Am Limit», Teil 3 – Mike: «Wenn es einem einmal schlecht geht, gehts einem immer schlechter»

Im Regionalgefängnis Burgdorf normalisiert sich die Situation. Alle sind erleichtert. Doch dann wird der Häftling zurück nach Zürich versetzt – in die totale Isolation. Dort dreht sich die Abwärtsspirale immer weiter und weiter. Wo soll das enden?

Von Elia Blülle, Brigitte Hürlimann (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustrationen), 04.06.2019

Was bisher geschah

In Folge 2 lesen Sie, wie das Verhältnis von Mike zu den Behörden immer zerrütteter wurde. Im Speziellen sind es vier dramatische Vorfälle, die gerade auch die Überforderung aller beteiligten Personen mit der Situation belegen.

Zuckerbrot und Peitsche. Repression, Verständnis, Annäherung und Strafe. Alle Gefängnisse suchen vergeblich nach Möglichkeiten, den jungen Intensiv­straftäter zu bändigen. Nichts funktioniert.

Erst als Mike Anfang 2018 ins Regional­gefängnis Burgdorf verschoben wird, schöpfen seine Familie und sein Rechts­anwalt erstmals wieder Hoffnung: Normalisiert sich die Situation jetzt endlich?

Der zuständige Bereichs­leiter schreibt, man habe die negative Erst­einschätzung nach wenigen Wochen relativieren können. Im Kontext von gegen­seitigen zugesicherten Verbindlichkeiten während des Aufenthalts können kleine Erfolge und klar formulierte Ziele erreicht werden. «Mike liess sich immer öfter auf der Humor­ebene abholen und konnte auch so auf uns zugehen. Es war möglich, die Hand­schelle wegzulassen, die Einzel­behandlung aufzuheben und den Häftling aus der Isolations­haft auf eine normale Abteilung für U-Haft mit Zellen­öffnung verlegen zu können.»

Mike hat während seines Gefängnis­aufenthalts in Burgdorf Kontakt zu Mitinsassen, darf Sport treiben und einmal pro Woche den Fitness­raum besuchen. Ohne Fuss- und Hand­schellen. Es kommt zu keinen nennens­werten Regel­verletzungen mehr. Eine Leistung für den 23-Jährigen.

Serie «Am Limit»

Dies ist die Geschichte von Mike, dem jungen Intensiv­täter, der unter dem Pseudonym «Carlos» national bekannt wurde. Mehrere Monate haben Elia Blülle und Brigitte Hürlimann recherchiert, haben Gerichts­akten, Gutachten, Gesuche und Verfügungen studiert. Sie haben mit Anwältinnen, mit Angestellten des Justiz­vollzugs, mit Professoren, Politikerinnen, NGO-Vertretern gesprochen – und mit Mikes Eltern. Ihre Leitfrage: Sind Fairness und Professionalität überhaupt möglich im Umgang mit einem Straftäter, der seit dreizehn Jahren die Straf­justiz überfordert? Zur Übersicht.

Teil 2

Die Tortur

Sie lesen: Teil 3

Die Ver­zweif­lung

Teil 4

Der Prozess

Die Burgdorfer Gefängnis­leitung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben es offenbar geschafft, die richtige Balance zwischen Härte, Disziplin, Zugeständnissen und Nähe zu finden. Mikes Vater berichtet von einem Besuch ohne Trenn­scheibe. Im Frühling 2018 darf er seinen Sohn endlich wieder in die Arme schliessen.

Es ist das letzte Mal für eine lange Zeit.

Das kleine Regional­gefängnis Burgdorf kommt trotz der Fortschritte an seine Grenzen. Sie hätten nach vier Monaten intensiver Betreuung keine Möglichkeiten gesehen, den heraus­fordernden Zürcher Fall mit erheblichem Gewalt­potenzial fortzusetzen, steht im Kurzbericht der Berner Behörden. Sie hätten nur begrenzte Ressourcen und keine Sicherheitsabteilung.

Mike macht ihnen den Entscheid leicht, denn er möchte zurück nach Zürich: in die Nähe seiner Familie, um Vater, Mutter und den älteren Geschwistern lange Anreise­zeiten zu ersparen. Auch der Zürcher Justiz­vollzug macht im Übrigen geltend, es wäre einfacher, wenn der Insasse wieder zurückkäme, es stünden Einvernahmen bei der Staats­anwaltschaft an. Und es sei umständlich, den Häftling jedes Mal von Burgdorf nach Zürich und wieder zurück zu transportieren. Umständlich, zeitraubend und teuer.

Doch was nun kommt, damit haben weder Mike noch sein Rechts­anwalt oder die Familie gerechnet.

Mike wird nicht in ein Untersuchungs­gefängnis verlegt, sondern in den Knast für die schweren Jungs, in die Pöschwies.

Dort wartet in der Sicherheits­abteilung eine eigens für ihn hergerichtete Zelle auf ihn, kombiniert mit einem eigens für ihn konzipierten Sicherheits­regime. Und damit die totale Isolation.

XIII. Knast im Knast

Die Pöschwies. Das grösste Schweizer Gefängnis befindet sich in Regensdorf, zwanzig Fahr­minuten von Zürich entfernt. Hinter den Beton­mauern, die man von den Bahn­gleisen aus gut sehen kann, werden Männer eingesperrt, die zu einer Freiheits­strafe von mindestens einem Jahr, einer Verwahrung oder einer stationären Massnahme verurteilt wurden.

Von den derzeit rund 360 Insassen im geschlossenen Vollzug – die Anzahl verändert sich täglich – sind 53 Prozent wegen eines Gewalt- oder Sexual­straf­delikts verurteilt worden; 29 Häftlinge sind verwahrt.

Die Sicherheits­abteilung der Pöschwies ist ein Knast im Knast. Dort herrscht eines der rigidesten Vollzugs­regimes der Schweiz. Die Sicherheits­abteilung umfasst insgesamt sechs Zellen à zwölf Quadrat­meter, die Gefangenen sind während 23 Stunden eingesperrt.

Am Morgen des 17. August 2018 übergeben Berner Polizei­grenadiere der Spezial­einheit Enzian den berühmten Zürcher Häftling wieder dem Personal der Pöschwies. Seither und bis heute schmort Mike in einer Sonder­zelle der Sicherheits­abteilung, im Regime Sicherheit plus.

Kontakt zu anderen Mitinsassen ist nicht erlaubt. Pro Tag dürfen die Häftlinge für eine Stunde allein in einem separaten Hof spazieren, etwa doppelt so gross wie ein Tennis­platz und von hohen Beton­mauern umgeben. Den Himmel sieht Mike nur durch einen dichten Maschen­draht­zaun. Wenn er denn überhaupt in den Spazier­hof geführt wird und nicht 24 Stunden allein in seiner Sonder­zelle verbringt.

Was klar gegen die Menschen­rechts­konvention verstösst.

XIV. Aufbegehren

Bereits vierzig Minuten nachdem Mike seine neue Zelle bezogen hat, eskaliert die Situation. Der Boden ist übersät mit Splittern. Mit einem Stuhl hat er das Fenster zertrümmert. Aus dem Rahmen bricht er eine Glas­scherbe und zerkratzt damit die Sicherheits­verglasung der Zellentür. Er ritzt seinen Namen ins Metall. Er nennt sich Boss.

Er schreibt eine Drohung hin: «KILL’EM».

Acht Aufseher in Schutz­ausrüstung, ausgestattet mit Taser und Schildern, stürmen die Zelle. Mike steht auf dem Bett, versteckt hinter dem Rücken die 30 Zentimeter lange Glas­scherbe und droht, er bringe alle um.

«Irgendwann werde ich wieder Lockerungen erhalten, ohne Fixierung und so. Und dann werde ich einen erwischen. Er wird bluten. Das wird meine grosse Chance sein. Ihr werdet erleben, was Gewalt heisst!»

Die Pöschwies hat sich auf die Rückkehr von Mike vorbereitet.

Vier Zellen wurden für ihn freigeräumt und baulich angepasst, 35 Mitarbeiter speziell geschult, um seine Betreuung zu gewährleisten.

Für den einstündigen Hofgang wird er an Händen und Füssen gefesselt und von mindestens sechs Aufsehern in Schutz­montur begleitet. Zwei weitere Mitarbeiter stehen im Hinter­grund parat. Manchmal werden Hunde­führer mit Hunden beigezogen.

Oft fällt die einzige übrig gebliebene Abwechslung vom öden, langweiligen, endlosen und einsamen Zellen­alltag allerdings auch aus. Der Pöschwies fehlt das Personal für die aufwendige Insassen­bewegung.

Samstags und sonntags bleibt Mike immer 24 Stunden in der Zelle. Und wenn er sich nicht benimmt, aufbegehrt, blöde Sprüche macht oder spuckt, wird der Spazier­gang ebenfalls gestrichen.

Mike ist ein vor Kraft strotzender, sportlicher junger Mann mit einem unglaublichen Bewegungs­drang. Das wurde ihm schon seit frühester Kindheit attestiert; in fast allen Gutachten ist von ADHS die Rede.

Der isolierte Langzeit­insasse kann nur noch aufbegehren, mit Wut, Hass, Sturheit und Verzweiflung reagieren. Und er schwört, dass er sich nicht unterkriegen lässt, es allen anderen zeigt.

Er zeigt, wie stark und unbeugsam er ist.

Der Kampf gegen die Anstalt, gegen das System gibt ihm eine Aufgabe, einen Sinn. Woran soll er sich sonst halten?

XV. Was ist Folter?

Der JVA Pöschwies scheint bewusst zu sein, wie tief sie mit ihrem harten Regime in die Grund­rechte von Mike eingreift.

Bereits Ende August 2018 hat die Anstalt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) informiert und um eine Einschätzung gebeten.

Die Kommission hat den gesetzlichen Auftrag, die Menschen- und Grund­rechts­konformität von Gefängnissen zu überprüfen. Nach einem Kontroll­besuch in der Pöschwies und einem Gespräch mit Mike im Oktober schreibt die Delegation, dass man die getroffenen Massnahmen und Bemühungen anerkenne. In Anbetracht des renitenten Verhaltens des Insassen seien die besonderen Schutz­massnahmen nachvollziehbar. Es stelle sich jedoch die Frage nach der Notwendigkeit der Einschränkungen – nicht zuletzt deshalb, weil es in anderen Anstalten zu positiven Vollzugs­verläufen gekommen sei.

Weder der Kommissions­präsident noch der Delegations­leiter der NKVF wollen mit der Republik reden. Die Sprecherin teilt mit, man erachte eine mediale Öffentlichkeit in diesem spezifischen Falle nicht als zweckdienlich.

Mikes Anwalt Thomas Häusermann ist enttäuscht darüber, dass die NKVF keine «klare Empfehlung» abgegeben hat. Er schreibt der Kommission, dass sich aus seiner Sicht die Frage nach Folter ganz offensichtlich stelle. Er erachte es als ihre Pflicht, hier mit klaren Worten einzuschreiten.

Zwei Monate später findet Kommissions­präsident Alberto Achermann doch noch zu einer deutlichen Sprache. In der Antwort an Rechts­anwalt Häusermann schreibt er: Die Delegation habe mündlich betont, dass der tägliche Spazier­gang grundsätzlich zu gewähren sei und ohne Fesselungen zu erfolgen habe: «Die Kommission äussert ihre klaren Bedenken hinsichtlich der zusätzlichen Einschränkungen, denen Mike unterliegt.»

XVI. Der Anruf

Telefonanruf von Herrn K.: «Ich komme rasch vorbei, ich habe neue Dokumente, und meinem Sohn geht es sehr schlecht, er ist in die Psychiatrie verlegt worden.»

Solche Situationen erleben wir in den fünf Monaten unserer Recherche oft.

Mike wird von der Pöschwies in den Hochsicherheits­trakt des Psychiatrie­zentrums Rheinau verlegt und von dort wieder zurück in die Sicherheits­abteilung der Pöschwies.

In Rheinau darf er immerhin alle zwei Tage für einen Spazier­gang nach draussen, ohne Fuss- und Hand­fesseln. Um den Freigang zu ermöglichen, reist die polizeiliche Sonder­einheit Diamant jeden zweiten Tag an. Mikes Anwalt Häusermann sagt, in der Klinik verlaufe alles ruhig, obwohl er nur dahin verlegt werde, wenn die Situation im Gefängnis Pöschwies eskaliere.

Es ist ein Teufels­kreis, ein Hin und Her, ohne sichtbare Resultate, ohne eine Spur der Verbesserung, für keine der beteiligten Parteien. Was aber allen klar ist: Der junge Mann geht zugrunde, wenn es noch lange so weitergeht.

Die Spirale dreht sich unaufhörlich weiter abwärts, in einem erschreckenden Tempo und in einer erschreckenden Ausweglosigkeit.

Alle verzweifeln: der Vater, der Verteidiger, die Mitarbeiterinnen des Justiz­vollzugs – und Mike, der immer sturer auf die unhaltbare Situation reagiert, sich zum Opfer und Kämpfer, zum Chef­ganoven hochstilisiert – und dabei offensichtlich ums Überleben kämpft.

Wie wir eines frühen Nachmittags bei Herrn K. im Büro sitzen, Espresso trinken und über Mikes Kindheit sprechen, klingelt das Festnetztelefon.

Herr K. springt auf, nimmt ab, strahlt wie ein Maikäfer und sagt: «Mike, wie geht es dir, ich habe Besuch, die Journalisten von der Republik sind da!»

Herr K. stellt den Laut­sprecher an. Knapp zehn Minuten lang können wir uns mit Mike unterhalten. Dann wird die Leitung ohne Vorwarnung gekappt.

Mike, was haben Sie heute gemacht?
Ich bin aufgestanden, irgendwann am Morgen. Dann ging ich spazieren. Mit Fuss- und Hand­schellen. Und seit ein paar Tagen habe ich wieder einen Fernseher. Dann höre ich Musik. Deutschen und französischen Hip-Hop: Capital Bra, Lacrim. Man muss kämpfen. Manchmal geht es besser, manchmal schlechter. Man bekommt Depressionen und Stimmungs­schwankungen. Ich sage immer, Einzelhaft entmenschlicht einen Menschen. Ich denke nach. Ich werde aggressiv hier drin. Man hat ja selber schlechte Erfahrungen gemacht, die wieder hervor­kommen. Man läuft hin und her. Man wird wütend.

Wie halten Sie das alles aus?
Man muss. Man ist gezwungen.

Haben Sie das Gefühl, stark zu sein?
Man muss. Man ist stark. Manchmal mehr, manchmal weniger.

Was machen Sie, wenn Sie merken, dass es Ihnen schlecht geht?
Wenn es einem einmal schlecht geht, gehts einem immer schlechter. Man geht immer tiefer. Man erlebt das Schlechte immer wieder von neuem. Ich denke an Sachen, die mir passiert sind – Negatives.

Können Sie Sport machen?
Nein. Ich mache Liege­stütze. Gehen oder rennen ist unmöglich. In der Zelle kann man nur drei Schritte nach vorne und drei nach hinten machen.

Ihr Vater hat erzählt, dass Sie lesen …
Ja, ein Mandela-Buch. Und solche Sachen. Ich habe dabei vieles gelernt. Als Mandela seine Haft geschildert hat, habe ich mich in vielen Dingen wiedergefunden. Er und seine Frau haben gekämpft und nie aufgegeben.

Schlafen Sie gut?
Ab und zu schlafe ich überhaupt nicht.

Träumen Sie?
Ja, schon. Aber ich kann mich selten an die Träume erinnern.

XII. Gedankenspiel

Jetzt einmal frei gedacht, ohne Schere im Kopf: Was würde geschehen, wenn der Druck auf den Häftling plötzlich wegfiele? All die behördlichen Droh­gebärden? Der martialische Auftritt von Polizei und Aufsehern?

Das ist die Frage, die am Ende übrig bleibt.

Die Frage drängt sich unweigerlich auf, weil Mike in diesem Fall nichts mehr hätte, auf das er in seiner gewohnten Art und Weise reagieren könnte. Sein jahrelang eingespieltes Verhaltens­muster wäre infrage gestellt. Was dann? Würde er dreinschlagen, spucken, beleidigen, Leute bedrohen?

«Nein, niemals», beteuert sein Vater. Mike verhalte sich korrekt, wenn er korrekt behandelt werde.

«Viel zu gefährlich, viel zu hohes Risiko», heisst es von der Anstalts­direktion und von der Strafvollzugsbehörde.

Anfang Jahr hat das Zürcher Amt für Justiz­vollzug aus eigenem Antrieb einen Schritt zur Über­prüfung von Mikes Haft­bedingungen eingeleitet.

Es beauftragt den renommierten deutschen Psychiater Norbert Nedopil mit einem Gutachten. Er, der die NSU-Terroristin Beate Zschäpe und den Serien­mörder Martin Ney begutachtet hat, soll nun untersuchen, wie die Abwärts­spirale in der Pöschwies durchbrochen werden kann und welches Setting sich eignen würde.

Mikes Verteidiger Thomas Häusermann sagt, es brauche einen Schritt in Richtung Normalisierung: «Immer dort, wo es näher an der Normalität war, hat er sich bewährt. Ich will, dass er so schnell wie möglich an einen Ort versetzt wird, an dem er Ruhe hat bis zum Prozess.»

«Je länger er in dieser Negativ­spirale bleibt, desto eher wird er wieder straffällig. Er hat eine Rolle übernommen und kommt aus dieser Rolle nicht mehr raus», sagt Rechts­anwalt Markus Bischoff, der Mike im Verfahren gegen die Psychiatrische Universitäts­klinik Zürich vertritt.

XIII. Die Ohnmacht

Mikes früherer Verteidiger Marcel Bosonnet meint, dass es im Sonder­setting am besten funktioniert habe: «Auf so etwas müsste man sich wieder einlassen. Man sollte ihn aus dem Gefängnis entlassen, ein Sonder­setting installieren, mit einer engen Betreuung, und Rück­schläge in Kauf nehmen. Mike muss man jetzt Alltag, Struktur bieten.»

Eine Forderung teilen alle drei Anwälte: Mike muss raus aus dem Spezial-Sicherheits­regime, raus aus der Isolation.

Er muss irgendwo wieder anknüpfen können.

Pöschwies-Direktor Andreas Naegeli beteuert, dass alles, was sie täten, recht- und verhältnismässig sein müsse; dass auch bei einem Häftling, der ihnen Schwierigkeiten bereite, der Mensch und seine Bedürfnisse im Zentrum stünden. Die Anstalts­leitung versuche zu begreifen, warum ein Insasse Gewalt anwende, Mitarbeiter und Mitgefangene bedrohe. Es gehe darum, Fortschritte zu erzielen: Gewalt­freiheit und eine Verbesserung.

Lieber verzweifeln als zum letzten Mittel greifen

Wie geht es in Schweizer Gefängnissen grundsätzlich zu? Wie muss der Umgang mit unangepassten, unkooperativen Insassen sein, damit sie nicht das gesamte System an die Grenzen bringen? Wie oft passieren derartige Konflikte? Lesen Sie hier unser Gespräch mit zwei Strafvollzugsprofis aus Bern und Zürich.

Aber Naegeli, der sich uns gegenüber nicht konkret zu Mike äussern darf, räumt im Interview mit der Republik auch ein: «Du kannst ein Pferd zwar zur Tränke führen, aber du kannst es nicht zum Saufen zwingen. Wenn man einen Insassen vor sich hat, der sich auf keinen Veränderungs­prozess einlassen will, fühlt man sich manchmal ohnmächtig.»

Um dieser Ohnmacht ein Ende zu setzen, hat Mike die Pöschwies gestern Morgen verlassen. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt Lenzburg verlegt. Eigentlich sollte er bereits am 14. Mai ins aargauische Gefängnis überführt werden, doch der Termin wurde verschoben. In Lenzburg sitzt Mike nun ebenfalls in einer Sicherheits­zelle in Isolations­haft, die aber unter einem weniger strengen Regime geführt wird. Mike wird jeden Tag im Hof spazieren dürfen. Ohne Fuss- und Hand­fesseln, dafür mit einem Fussball.

Das Setting sieht eine schnelle Lockerung der Haft­bedingungen vor, falls sich Mike in den ersten zwei Wochen bewährt.

Die Versetzung ist das vorläufige Ende im Macht­kampf zwischen der Pöschwies und Mike. Ein Versuch, die Situation vor dem nächsten Gerichts­prozess zu deeskalieren.

Eine Massnahme, die spät kommt. Vielleicht zu spät.

XIX. Die Mutter

«Auch wenn niemand auf mich hört und ich nicht ernst genommen werde: Jetzt rede ich.» Mikes Mutter besucht uns am Tag der Anklage­erhebung auf der Redaktion. Sie will weder Kaffee noch Tee, nur ein Glas Wasser, das sie dann unberührt auf dem Tisch stehen lässt. Gefasst und entschlossen sitzt sie uns gegenüber, kämpft immer wieder gegen die Tränen.

Doch sie weiss, was sie will.

«Mike ist mein jüngster Sohn. Es ist unerträglich und ungerecht, was mit ihm geschieht. Es ist der Schweiz unwürdig. Ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr schlafen. Die Leute klingeln an unserer Haus­tür, weil sie wissen, dass hier der berühmte ‹Carlos› lebt.»

Es hat sie Überwindung gekostet, uns zu treffen, sich unseren Fragen zu stellen. Wir führen die Unterhaltung auf Französisch. Auch Mutter und Sohn unterhalten sich nur auf Französisch, Mike ist zweisprachig aufgewachsen.

Ausgerechnet heute ist Mike wieder in allen Medien: «Droht Carlos eine Verwahrung?», titelt der «Blick».

Es ist für die Mutter ein besonders belastender Tag – einmal mehr.

Sie ist misstrauisch geworden. Zu oft und zu lange wurde ihre Familie, ihr Sohn durch die Presse gezogen. Es wurden Fakten verdreht und Kampagnen lanciert. Die Meinungen über ihren Sohn, glaubt sie, sind gemacht. Und trotzdem will sie nicht länger übergangen werden.

Sie will nicht immer nur die Männer reden lassen. Frau K. hat einen Plan, eine Idee. Sie denkt an die Zukunft Mikes, an die Zeit nach dem Gefängnis.

«Schon als er sechs Jahre alt war, sagte man mir, er habe zu viel Energie. Mit sieben hiess es, er sei überdurchschnittlich intelligent. Mit neun wurde er erstmals fremd­platziert, mit zehn in Hand­schellen abgeführt, vor unseren Augen. Kurze Zeit später fing er mit den Drogen an. Ich wollte Mike zurück nach Frankreich nehmen, ihn auf meine Art erziehen, und das heisst: streng! Doch ich durfte nicht. Ab elf wurde er von einem Ort zum anderen geschickt, in Pflege­familien und Institutionen, in der Schweiz, in Deutschland, in Italien. Wenn er zwischen­durch nach Hause kam, war er voller Drogen. Ich wehrte mich gegen die Platzierungen, wollte ihn bei mir behalten, aber das ging nicht.»

Die Mutter erzählt vom Sonder­setting, von der kreativen und erstaunlich gut funktionierenden Idee des Jugend­anwalts Hansueli Gürber. In diesem Setting, sagt sie, habe sich Mike völlig verändert.

Alles sei gut gegangen, alle hätten sie Hoffnung geschöpft: «Jusqu’ici, tout allait bien.» Dann kam der Fernseh­film über Gürbers Arbeit.

«Von diesem Moment an wurde Mike zu ‹Carlos›, der Horror fing an. Ich hatte mich gegen diesen Film gewehrt, aber niemand hörte auf mich. Mein Sohn hat in der Schweiz keine Perspektive. Er muss weg von hier. Ja, er muss einen Beruf lernen, aber zuerst muss er sich erholen, zur Ruhe kommen. Ich wünsche mir für meinen Sohn ein Leben in Freiheit und bete zu Gott, dass es aufhört mit diesen Gefängnisaufenthalten.»

Die Mutter ist verzweifelt. Seit mehr als acht Monaten kann sie ihn nicht mehr umarmen, nicht berühren. Die Besuche und Gespräche finden durch eine Glasscheibe getrennt statt.

«Mike muss atmen können», sagt sie, «er braucht eine Veränderung. Ich will mit ihm nach Afrika reisen. Dort kennt ihn niemand. Dort ist er nicht ‹Carlos›, der berüchtigte Straftäter. Dort ist er Mike. Mein jüngster Sohn.»

Diskutieren Sie mit: Wo liegen die Grenzen der Strafjustiz?

Mikes Fall wirft sehr grundlegende und schwierige Fragen auf: Sind Fairness und Professionalität im Umgang mit einem renitenten Häftling, der seit dreizehn Jahren die Strafjustiz überfordert, überhaupt möglich? Wohin soll das alles führen? Und wie könnte die Ausweglosigkeit überwunden werden? Hier geht es zur Debatte.

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