Am Gericht

In der Dunkelkammer der Justiz

Sie tagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sie entscheiden fast immer im Sinne der Staatsanwaltschaft, und ihre Urteile bleiben in der Regel unter Verschluss. Wie funktionieren eigentlich Zwangsmassnahmengerichte?

Von Carlos Hanimann, 29.05.2019

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Ort: Zwangsmassnahmen­gericht Zürich
Zeit: 17. November 2018
Fall-Nr.: GI 180300-L
Thema: Bestätigung Ausschaffungshaft

Es war ein Samstag­morgen, 9.30 Uhr, am 17. November 2018, als ein Gericht in Zürich Herrn K. ins Gefängnis schickte. Dort ist er noch immer. Und wären die Bedingungen nur ein wenig anders gewesen, hätte nie jemand davon erfahren.

Denn der Entscheid wurde hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt: Kein Zuschauer war dabei, keine Journalistin – in diesem speziellen Fall noch nicht einmal eine Verteidigerin.

Geheimjustiz?

Nicht wirklich. Eher Massen­ware im Alltag der Schweizer Justiz.

Anwälte üben Kritik

Jeden Tag fällen Dutzende sogenannte Zwangs­massnahmen­gerichte in der Schweiz derartige Entscheide: Bestätigung der Ausschaffungs­haft, Anordnung der Untersuchungs­haft, Eingrenzung, Ausgrenzung … Allein das Zwangs­massnahmen­gericht in Zürich erledigte vergangenes Jahr 1814 Verfahren. Rund 6 Fälle pro Tag – ohne dass die Öffentlichkeit je Genaueres darüber erfahren hätte. Denn die Verhandlungen der Zwangs­massnahmen­gerichte sind von Gesetzes wegen nicht öffentlich.

Dabei sind die Kompetenzen dieser Gerichte äusserst weitreichend: Sie bewilligen Telefon­überwachungen, sie ordnen Untersuchungs­haft an, und sie entscheiden, wo sich Asyl­suchende bewegen dürfen und ob sie vorsorglich eingesperrt werden.

Und doch fällt kaum je Licht auf die tägliche Arbeit der Zwangsmassnahmengerichte.

Gerade bei der Anordnung von Überwachungen und Untersuchungs­haft sorgte die Intransparenz in der Vergangenheit für Kritik: Die Rechenschafts­pflicht der Zwangs­massnahmen­gerichte sei minim, eine öffentliche Kontrolle fast nicht möglich, und ausserdem winkten sie fast alle Anträge der Staats­anwaltschaft durch. Vergangenes Jahr zeigte eine Auswertung von «SRF Data», dass die Zwangs­massnahmen­gerichte bei 97 Prozent der Fälle im Sinne der Staats­anwaltschaft entschieden.

Besonders problematisch ist das bei der Bewilligung von Überwachungen. Denn in diesem Bereich galten die Zwangs­massnahmen­gerichte stets als Garanten der Rechts­staatlichkeit. Sie stellten sicher, dass der Staat nicht willkürlich und zu oft überwacht.

Wenn Polizei und Staats­anwälte kritisiert wurden, sie erhielten zu viele Überwachungs­möglichkeiten, dann verwiesen sie stets auf die Zwangs­massnahmen­gerichte: Es gebe keine Überwachung ohne richterliche Prüfung.

Aber die Erhebung von SRF zeigte vergangenes Jahr ein anderes Bild. Die Zwangs­massnahmen­gerichte nicken die Anträge fast immer ab.

Wie geht das also vor sich, wenn das Zwangsmassnahmengericht tagt?

Hinter der Schleuse

Der Versuch, eine Verhandlung am Zwangs­massnahmen­gericht zu besuchen, gestaltet sich schwierig. Die Verhandlungen sind geheim, Ausnahmen gewährt das Gericht keine. Immerhin: Ein Richter ist bereit, einen Einblick in den Alltag zu gewähren. Er führt durch die leeren Räume und beantwortet allgemeine Fragen zu den Abläufen. Nur zu konkreten Fällen gibt er keine Auskunft.

Richter Thomas Müller trägt ein violettes Hemd, Krawatte und Pullover in Bordeaux und eine randlose Brille. Herr Müller sieht nicht aus, als würde er in aller Heimlichkeit massenhaft Leute einsperren und überwachen wollen. Vom Typ her eher so: freundlich-strenger Grossvater.

Thomas Müller ist seit 1996 Richter am Zwangs­massnahmen­gericht in Zürich. Seine Gerichts­laufbahn begann 1982. Nach 37 Jahren in der Zürcher Justiz fehlt ihm nicht mehr viel bis zur Pensionierung. Und wenn man ihn fragt, warum eigentlich die Entscheide des Zwangs­massnahmen­gerichts nicht öffentlich seien, antwortet er wie selbstverständlich: «Weil der Gesetz­geber es vorgibt.»

Der Hintergrund ist einleuchtend: «Bis zum rechtskräftigen Urteil gilt die Unschulds­vermutung», sagt Müller. «Wenn jemand dem Zwangs­massnahmen­gericht vorgeführt wird, gibt es aber erst einen Tatverdacht.» Zu diesem Zeit­punkt existiert noch keine Anklage­schrift, es ist noch nicht mal klar, was genau geschehen ist. «Der Ausschluss der Öffentlichkeit dient also in diesem Fall auch dem Schutz des Täters, der ja vielleicht gar kein Täter ist – und zu Unrecht verhaftet wurde.»

Herr Müller empfängt vor den öffentlichen Gerichts­sälen im Parterre, geht dann die Treppe hoch in den ersten Stock. Mit dem Badge öffnet er zwei Türen, eine Schleuse, und dann stehen wir in einem gesicherten Bereich, dem Zwangs­massnahmen­gericht, den man ohne die nötigen Berechtigungen weder betreten noch verlassen kann.

Das ist sie also: die Dunkel­kammer der Justiz. Oder zumindest der Vorraum dazu.

Hinter einer weiteren Tür befindet sich der Gerichts­saal: ein kahler Raum mit einem Tisch für das Gericht und die Dolmetscher und einem Tisch für den Beschuldigten mit seiner Verteidigerin. Der Raum ist durch eine dicke Glas­scheibe getrennt. «Schutz vor Zwischen­fällen», sagt Herr Müller. Wie ein Gerichtssaal sieht das hier nicht aus – eher wie ein Verhör­raum aus einem Fernsehkrimi.

Wird jemand verhaftet, muss er innerhalb von 48 Stunden dem Zwangs­massnahmen­gericht vorgeführt werden. Dort hat ein Haft­richter wiederum 48 Stunden Zeit, um den Beschuldigten und seine Verteidigung anzuhören.

Der Haftrichter urteilt nicht darüber, was geschehen ist. Er klärt nicht, ob einer schuldig ist oder nicht. Sondern lediglich, ob er während der Straf­untersuchung in Haft bleiben muss. Zentral sind dafür zwei Fragen: Liegt ein Tat­verdacht vor? Und gibt es einen Haft­grund, also: Könnte der Beschuldigte fliehen, sich mit anderen absprechen, Zeugen oder Opfer unter Druck setzen?

Gerade weil die Untersuchungs­haft sehr einschneidend ist und das Haft­regime sehr hart, kommt aus Anwalts­kreisen immer wieder Kritik an den Entscheiden des Zwangs­massnahmen­gerichts auf.

Herr Müller, kommt es vor, dass Staats­anwälte Untersuchungs­haft beantragen, um Beschuldigte einzuschüchtern und unter Druck zu setzen?
Das kann ein Häftling subjektiv vielleicht so empfinden. Aber er hat ja einen Anwalt, der ihn verteidigt. Wenn die Untersuchungs­haft wirklich als Druck­mittel eingesetzt werden könnte, würde der Verteidiger seinen Job nicht gut machen. Ein Häftling beziehungsweise sein Verteidiger kann jederzeit ein Haftentlassungs­gesuch stellen.

Es gibt also keine Beugehaft?
Nein. Dagegen wehre ich mich. Man behält niemanden in Haft, damit er gesteht. Es geht vielmehr darum, in dieser Zeit der Untersuchungs­haft den Sach­verhalt zu klären.

Aber aus Anwalts­kreisen habe ich auch hin und wieder vernommen, dass Beschuldigte unter Druck gesetzt wurden: Gestehen Sie, dann kommen Sie frei. Ist das nicht Beugehaft?
Dann müssten die Verteidiger das sofort melden. Sehen Sie, wenn man eine Untersuchung durch ein Geständnis abkürzen kann, dann ist das sinnvoll. Das heisst aber nicht, dass man ein Geständnis erzwingt. Es ist auch eine Frage der Perspektive: Das Interesse des Staates ist, eine Straftat aufzuklären.

Winken Zwangs­massnahmen­gerichte die Anträge der Staats­anwaltschaft durch?
Wir winken keine Anträge durch. Im Gegenteil: Die Untersuchungs­haft ist das allerletzte Mittel, die Ultima Ratio. Man muss sich immer bewusst sein: Die Haft reisst jemanden aus seinem Leben. Das ist ein harter Bruch mit der Biografie.

Wie oft lehnen Sie Anträge auf Untersuchungs­haft ab?
Das kann ich Ihnen leider nicht sagen; es gibt dazu keine Statistik.

Wann haben Sie zuletzt eine Untersuchungs­haft abgelehnt?
Das kommt regelmässig vor.

Wann zuletzt?
Als die Haft­gründe nicht gegeben waren.

Letzte Woche? Letzten Monat?
Es hilft Ihnen nicht weiter, wenn ich ein konkretes Datum nenne. Ich sage einfach: Es kommt regelmässig vor. Wichtig ist nicht die Anzahl der Fälle, sondern das Vorliegen von gesetzlichen Haft­gründen. Wenn es keine Gründe gibt, dann werden die Leute freigelassen.

Der Fall K.

Herr K. lebt seit fünfzehn Jahren in der Schweiz. Seit sechs Monaten wartet er im Flughafen­gefängnis Zürich darauf, dass ihn die Behörden in ein Flug­zeug in sein Herkunfts­land Algerien setzen. Zu einer Ausschaffung wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht kommen, aber das ist wieder eine andere Geschichte …

Dass Herr K. verhaftet wurde und sich seither in Ausschaffungs­haft befindet, hätte die Öffentlichkeit nie erfahren müssen. Nur weil seine Anwältin den Entscheid des Zwangs­massnahmen­gerichts anfocht, kam der Fall zum Verwaltungs­gericht und wurde damit öffentlich.

Heute kann die interessierte Öffentlichkeit zumindest nachlesen, dass der Haft­richter der Form nach korrekt entschied, als er Herrn K. am 17. November 2018 in Ausschaffungs­haft nahm – obwohl seine Anwältin nicht anwesend war. Das Verwaltungs­gericht kommt in seinem Urteil zum Schluss, dass das Vorgehen des Zwangs­massnahmen­gerichts «nicht zu beanstanden» sei. Der Haft­richter hatte mehrfach versucht, die Verteidigerin anzurufen. Da sie nicht erreichbar war, entschied das Gericht in ihrer Abwesenheit.

Kürzlich meldete sich Herr K. aus der Haft. Ein kurzer Anruf. Polizisten hatten ihn nach Genf gefahren, wo sie ihn in eine Maschine nach Algier hatten setzen wollen. Offenbar wehrte er sich erfolgreich. Zwei Tage später rief er an: «Ich bin wieder im Flughafen­gefängnis. Alles gut.»

Illustration: Friederike Hantel

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